# taz.de -- Parlamentswahlen in Frankreich: Rückkehr nach Réunion | |
> Auf La Réunion sind im ersten Gang der französischen Parlamentswahlen nur | |
> wenige wählen gegangen. Das liegt auch am Verhältnis zum Mutterland. | |
Bild: Vulkaninsel im Indischen Ozean: La Réunion, Teil von Frankreich, der sü… | |
Am Ortseingang der Hauptstadt empfängt uns ein zweisprachiges Schild: oben | |
„Saint-Denis“, darunter in Kreol „Sin Dni“. Seit 2010 steht das hier so, | |
nachdem der Magistrat eine Charta zur Förderung der Zweisprachigkeit | |
verabschiedet hat. „Seitdem kann man auf Kreol heiraten oder im Stadtrat | |
Kreol sprechen“, freut sich Axel Gauvin, Schriftsteller und Vorsitzender | |
des Vereins Lofis la lang kréol la rényon. In den letzten zehn Jahren haben | |
11 der 80 der Gemeinden auf La Réunion die Charta übernommen. „Es ist ein | |
Beitrag zur Redefreiheit, ein kleiner Schritt hin zu mehr Demokratie“, | |
erklärt Gauvin, der vor über vierzig Jahren das Referenzwerk dazu verfasst | |
hat. | |
Die Sonne scheint auf die große Wandtafel im sparsam möblierten | |
Vereinslokal. Unter zweisprachig beschrifteten Fotos wird die traditionelle | |
Bauweise auf der Insel erklärt. Am Eingang wechselt ein Gärtner ein paar | |
Worte auf Kreol mit einer Mitarbeiterin von der Touristeninformation. | |
Gegenüber diskutiert eine Gruppe Arbeiter an einem Imbisstisch. Selbst | |
Neuankömmlinge wie wir können ein wenig von ihrem Gespräch verstehen: Hier | |
im Norden ähnelt das Kreol dem Französischen mehr als der im Süden | |
gesprochene Dialekt. | |
Nur 10 Prozent der Bevölkerung von La Réunion sprechen ausschließlich | |
Französisch, alle anderen benutzen im Alltag beide Sprachen oder nur Kreol. | |
Über 80 Prozent bezeichnen heute Kreol als ihre Muttersprache, es ist damit | |
die größte Regionalsprache Frankreichs. Dabei war sie lange | |
gesellschaftlich verpönt. Als die Kolonie 1946 französisches | |
Übersee-Département wurde, „ging das mit einer Assimilierungspolitik | |
einher, Kreol war als Sprache nicht anerkannt“, erklärt der | |
Grundschullehrer Guillaume Aribaud, während er den Stuhlkreis für das | |
Morgenritual aufstellt, mit dem er seine Fünfjährigen auf Kreol begrüßt. | |
„Heute hört man es immer öfter auch in der Öffentlichkeit. Aber die | |
Stigmatisierung wirkt noch stark nach.“ | |
Wie vielen seiner Landsleute wurde sich der junge Regisseur Sébastien Clain | |
erst im Ausland seiner Herkunft bewusst und hat darüber den Dokumentarfilm | |
„Kisa nou lé“ (Wer wir sind) gedreht: „Erst als ich zum Studium wegging, | |
fing ich an, mich für die Geschichte meiner Insel zu interessieren“, | |
erzählt Clain. „Ich glaube, ich habe mich erst in dem Moment neu entdeckt, | |
als ich 10 000 Kilometer von zu Hause entfernt lebte. Das Buch von Axel | |
Gauvin half mir, mich mit meiner Kultur zu versöhnen, denn es zeigte mir, | |
woher die Scham kommt, die ich empfand, wenn ich meine Sprache sprach.“ | |
## Stipendien für Studium und Ausbildung in Frankreich | |
Jedes Jahr verlassen etwas mehr als 2000 Studierende, also 20 Prozent eines | |
Abi-Jahrgangs, die Insel – mit finanzieller Unterstützung des | |
Départements und der Region (auf La Réunion fallen beide Körperschaften in | |
eins). Das Büro für Überseemobilität (L’agence de l’outre-mer pour la | |
mobilité, Ladom) zahlt das Flugticket für junge Menschen unter 26, die in | |
der französischen Métropole (Mutterland) oder einem anderen Département | |
d’outre-mer (Dom) studieren wollen, weil sie entweder keinen Platz in ihrem | |
Wunschfach bekommen haben – Soziale Arbeit und Alternativmedizin sind | |
besonders begehrt – oder weil es nicht angeboten wird, wie Politologie, | |
Psychologie oder Agrarwissenschaften. Ladom vergibt auch Studienstipendien, | |
mit einer maximalen Laufzeit von fünf Jahren und bis zu 4600 Euro jährlich. | |
Zahlreiche weitere Programme unterstützen junge Leute, die in Frankreich | |
eine Ausbildung machen oder eine Stelle antreten wollen. | |
Demografie und Arbeitslosigkeit sind die beherrschenden Themen auf La | |
Réunion. Auch wenn in den letzten zwanzig Jahren mehr Arbeitsplätze | |
geschaffen wurden, ist die Arbeitslosenquote auf der Insel doppelt so hoch | |
wie im Mutterland. 2019 betrug die Jugendarbeitslosigkeit 40 Prozent. Von | |
allen französischen Regionen hat La Réunion den höchsten Anteil an unter | |
25-Jährigen. Deshalb setzt der Staat ihnen schon seit Langem Anreize, die | |
Insel zu verlassen. | |
1963 wurde das Migrationsbüro für die Übersee-Départements (Bumidom) | |
gegründet, mit dem das „Gebot der Auswanderung“ nach Frankreich in Zeiten | |
des Arbeitskräftebedarfs offiziell verankert wurde. Michel Debré hatte sich | |
das damals ausgedacht. Nach seinem Rücktritt als Ministerpräsident | |
Frankreichs wurde er 1963 Abgeordneter von La Réunion. In einer von | |
Manipulationsvorwürfen überschatteten Wahl hatte der Gaullist Debré, der | |
keinerlei familiäre Beziehungen zu der Insel hatte, Paul Vergès | |
ausgestochen, den Vorsitzenden der Kommunistischen Partei von La Réunion, | |
der für die Unabhängigkeit der Insel eintrat. | |
## Zweitausend zwangsverschickte Kinder | |
Zwischen 1963 und 1981 unterstützte der französische Staat über das Bumidom | |
160 300 Auswanderer von Réunion und den französischen Antillen bei ihrer | |
Umsiedlung nach Europa. In dieser Zeit wurden auch über 2000 Kinder, die | |
sich in der Obhut der Jugendhilfe (ASE) befanden, zwangsweise nach | |
Frankreich verschickt. Mehrere Opfer klagten später wegen „Entführung“ | |
gegen den französischen Staat. Die Gerichtsverfahren wurden jedoch in den | |
nuller Jahren eingestellt, weil man Präzedenzfälle fürchtete. Bis heute | |
haben Opfer und Selbsthilfevereine weder individuelle noch kollektive | |
Entschädigung erhalten. | |
„Diese Politik war damals die Antwort auf drei soziale Probleme“, schreibt | |
die Soziologin Lucette Labache: im Übersee-Département das rasante | |
Bevölkerungswachstum sowie Massenarbeitslosigkeit und die damit | |
einhergehende Furcht vor politischen Forderungen, und in Frankreich der | |
Arbeitskräftemangel in Krankenhäusern, bei der Post, in der | |
Telekommunikation und im öffentlichen Verkehr. In einer Zeit, in der | |
manche die Unabhängigkeit forderten, die Algerien kurz zuvor erlangte | |
hatte, fungierte die Auswanderung als „Sicherheitsventil“, schrieb der | |
Geograf und Gründer der Sozialistischen Partei von La Réunion, Wilfrid | |
Bertile, 1972. | |
Nach dem Aufstand im Chaudron-Viertel von Saint-Denis 1991 begannen die | |
Behörden, mehr auf Mobilität statt auf Auswanderung zu setzen. „Mobilität�… | |
klang viel positiver und war mit weniger negativen Assoziationen behaftet. | |
Das Bumidom wurde in Nationale Agentur zur Eingliederung und Förderung | |
von Arbeitnehmenden aus Übersee (ANT) umbenannt, bis es 2010 seinen | |
heutigen Namen Ladom bekam. | |
Auf riesigen Plakatwänden stand damals der Slogan: „Eine Ausbildung dort, | |
eine Zukunft hier“. Verantwortlich dafür war eine andere Dienststelle, die | |
es nur auf La Réunion gibt und die Debré ebenfalls 1963 erfand: das | |
Nationale Aufnahme- und Aktionskomitee für mobile Réunioner (Cnarm). Es | |
wird zum Teil vom Département finanziert und bietet Aus- und | |
Weiterbildungen für gering oder nicht qualifizierte Arbeitskräfte in | |
Gastronomie, Baugewerbe und Verkehrswesen in Frankreich. Zwischen 2015 und | |
2019 nahmen 11 084 Arbeitssuchende am Cnarm-Programm teil, das sich rühmt, | |
„bei den Eingliederungsmaßnahmen die Arbeitnehmermobilität zur obersten | |
Priorität erhoben“ zu haben. | |
## „Ich hatte das Gefühl, mein Land zu verraten“ | |
Doch haben die Betroffenen überhaupt eine Wahl? „Meine Mutter hat in | |
Pariser Krankenhäusern gearbeitet, mein Vater ging zur Bahn, meine Tanten | |
gingen zur Polizei. Sie sind über das Bumidom fortgegangen, wir nehmen das | |
Cnarm“, erzählt Olivya Aliks mit verbittertem Unterton. „Ich habe vier | |
Jahre in Paris studiert und hatte das Gefühl, mein Land zu verraten“, sagt | |
sie. | |
Annecie Boyer ging mit 17 Jahren nach Rennes, um Germanistik zu studieren, | |
ein Fach, das auf der Insel nicht angeboten wird: „Ich bin die Einzige aus | |
meiner Familie, die studiert hat. Meine beiden großen Brüder wollten immer | |
da bleiben, einer wurde Fischer und Feuerwehrmann, der andere Koch. Schon | |
auf der weiterführenden Schule habe ich begriffen, dass ich nach Frankreich | |
gehen muss, wenn ich Karriere machen will.“ Diese Erfahrung teilen viele | |
junge Menschen, sagt die Soziologin Florence Ihaddadene, die an der | |
Université de Picardie Jules Verne in Amiens unterrichtet: „Von den Schulen | |
über die Vereine bis zum Jobcenter erklären alle Institutionen den jungen | |
Menschen aus Réunion, wie sie sich auf internationale Mobilität vorbereiten | |
können.“ | |
Nicolas Brun, mit einem Vater aus der Métropole und einer Mutter von La | |
Réunion, ging nach dem Abitur 2020 ein Jahr auf die Ingenieurschule nach | |
Angers: „Im Lycée kamen ständig Leute von außerhalb, die uns | |
Ausbildungsgänge in Frankreich oder Québec vorgestellt haben“, berichtet | |
er. „Man hat uns den Traum von einer anderen Welt verkauft.“ Inzwischen | |
lebt der junge Mann wieder in seiner Heimatgemeinde Tampon und erzählt, | |
dass heutzutage viele junge Leute zurückkommen, „um sich mit ihrer Kultur | |
zu versöhnen“. | |
## Angst, die Muttersprache zu sprechen | |
In der Gemeinde Port, 20 Kilometer von Saint-Denis entfernt, steht | |
Stéphane Marcy mit seiner Grundschulklasse vor einem blühenden | |
Flammenbaum. „Als ich jung war, hat man mir Geschichten von Weihnachten im | |
Schnee und Schneemännern erzählt“, erinnert er sich. „Das Problem dabei | |
war: Diese Dinge wurden als allgemeingültig hingestellt, dabei hatte das | |
überhaupt nichts mit unserer Lebensrealität zu tun. Wie kann man ein Bild | |
von sich selbst entwerfen, wenn einem nur das westliche Modell zur | |
Verfügung steht?“ | |
Seit 2014 gehört der 38-Jährige zu den 5 Prozent ausgebildeter Lehrkräfte, | |
die Kreol unterrichten dürfen. Als Sekretär des Vereins Lantant LKR (La | |
Lang la kiltir kréol dann lékol) setzt sich Marcy dafür ein, dass seine | |
Kreol sprechenden Schüler:innen nicht benachteiligt werden: „Heute | |
schlägt man ein Kind zwar nicht mehr, wenn es in der Schule Kreol spricht, | |
aber eine Lehrkraft ohne Fachqualifikation wird es auffordern, ‚richtig zu | |
sprechen‘. Ich habe das selbst erlebt. Französisch war nicht meine | |
Muttersprache, deshalb hatte ich Angst, etwas zu sagen. Auch wenn ich mich | |
als guter Schüler am Ende angepasst habe, ist die Unsicherheit immer | |
geblieben.“ | |
Seit der Revolution habe Frankreich die sprachliche Einheit zum | |
Grundpfeiler der nationalen Einheit erhoben, erklärt Véronique Bertile, | |
Wilfrid Bertiles Tochter, die an der Universität Bordeaux Öffentliches | |
Recht lehrt und über Regionalsprachen in Frankreich, Spanien und Italien | |
promoviert hat: „Dieses engstirnige Jakobinertum betrachtete regionale | |
Sprachen und Identitäten lediglich als separatistische Bedrohungen.“ | |
Guillaume Aribaud kennt das Problem. Sein Vater kam aus Okzitanien, seine | |
Mutter war eine Pied-noir aus Tunesien, er selbst wurde in Saint-André an | |
der Ostküste von Réunion geboren, in einer der ärmsten Kommunen | |
Frankreichs. Heute ist der 30-Jährige selbst Grundschullehrer – eine Art | |
Revanche: „Auf dem Collège erklärten uns die Lehrer, Kreol sei ein nicht | |
ausgereiftes Französisch. Das ist doch absurd. Unsere Sprache existiert, | |
und sie lebt weiter, und in dem Viertel, in dem ich unterrichte, können wir | |
mithilfe des Kreol die vielen Kinder integrieren, die von den Komoren oder | |
Mayotte hierherkommen“, erzählt er. | |
## Kreol endlich ganz normale Unterrichtssprache | |
Das Kreol, eine lange geächtete Sprache, die im 18. Jahrhundert ihre | |
Wurzeln hat, erfährt immer mehr Akzeptanz als Unterrichtsfach, von den | |
Eltern wird es teilweise sogar eingefordert: In einer aktuellen Umfrage | |
sprachen sich 81 Prozent „für Kreol in der Schule“ aus, 2009 waren es noch | |
61 Prozent. 85 Prozent meinten, Kreol sei eine Sprache, genauso wie | |
Französisch; das glaubten 2009 erst 74 Prozent. Im Jahr 2000 wurde Kreol | |
als „offizielle Regionalsprache“ anerkannt und seit Einführung der | |
Lehramtsprüfung für die Sekundarstufe (Capes) 2001 an den Collèges immer | |
häufiger als Zusatzfach angeboten. In der Primarstufe sind derzeit jedoch | |
nur 450 der 8000 Lehrkräfte als Kreol-Lehrer:innen ausgebildet. | |
Francky Lauret begann als Dichter, wurde dann Journalist und mit 42 Jahren | |
erster staatlich geprüfter Lehrer für Kreol: „Die Klischees gibt es immer | |
noch, aber die sogenannte Diglossie, also die Ausdifferenzierung in Hoch- | |
und Volkssprache, entwickelt sich weiter. Wenn die Bürgermeisterin von | |
Saint-Denis ihre Reden auf Kreol hält, ich meine Dissertation auf Kreol | |
verteidigen durfte und an der Rathaustür ein Schild hängt: ‚Mi koz creol‘ | |
[‚Hier wird Kreol gesprochen‘], dann merkt man, dass wir heute wirklich | |
frei sprechen können.“ | |
In den Bildungseinrichtungen sieht man das genauso. Die neue Schulsenatorin | |
Chantal Manès-Bonisseau hat seit August 2020 das Lehrangebot für | |
Landesgeschichte an den Collèges und Lycées erheblich erweitert und | |
unterstützt die Auffassung, dass die Sprachen sich gegenseitig befruchten. | |
Wer gut Kreol kann, lernt auch leichter Französisch. Paradoxerweise | |
profitiert die Anerkennung der Sprache von der Entpolitisierung des Themas. | |
In den 1950er Jahren gehörte bei den Kommunisten der Kampf um Kultur und | |
Sprache und der Kampf für Autonomie beziehungsweise Unabhängigkeit | |
untrennbar zusammen, berichtet Aribaud, der auch beim Verein Lantant LKR | |
mitmacht. Doch diese Zeiten sind lange vorbei. Die seit 2021 amtierende | |
Regionalpräsidentin, Ex-Kommunistin Huguette Bello, arbeitet einvernehmlich | |
mit der eher konservativen Département-Verwaltung zusammen. Auf dem Forum | |
der Mehrsprachigkeit (États généraux du multilinguisme), das im Oktober | |
2021 auf der Insel stattfand, einigten sich beide Körperschaften auf ein | |
Abkommen, das auch die gesellschaftliche Bedeutung des Kreol anerkennt. | |
## Gelbwesten-Proteste auf der Insel | |
Als es Ende 2021 in den Übersee-Départements Guadeloupe und Martinique zu | |
wochenlangen Protesten gegen die französische Zentralregierung kam, schlug | |
der junge Minister für die Überseegebiete Sébastien Lecornu (La République | |
en Marche) eine öffentliche Debatte über die Autonomie der Gebiete vor. In | |
Réunion steht dieses Thema gar nicht mehr auf der Tagesordnung – dazu fühlt | |
man sich trotz der erheblichen sozialen Probleme immer noch zu sehr mit | |
Frankreich verbunden. | |
Für Erstaunen sorgten jedoch die Gelbwesten-Proteste auf der Insel. „Es | |
gibt diesen tief verankerten Glaubenssatz, dass unsere Insel dem Vorbild | |
einer Republik folgt, in der die Konflikte befriedet sind und das Volk sich | |
nicht erhebt, weil es gelernt hat, zusammenzuleben“, erklärt die von | |
Réunion stammende Historikerin Françoise Vergès. „Diese Vorstellung beruht | |
zu gleichen Teilen auf Mythos und Wirklichkeit“, fährt sie fort und | |
verweist auf die Besiedlungsgeschichte der Insel, die bis 1646 unbewohnt | |
war. Über die Jahrhunderte haben sich hier Menschen aus verschiedenen | |
europäischen und afrikanischen Ländern sowie Indien und China | |
niedergelassen und Familien gegründet. | |
Der für die Karibik so typische Gegensatz zwischen Schwarzen und Weißen sei | |
auf La Réunion nicht anwendbar, erklärt der Soziologe Philippe Vitale. Auf | |
den Antillen hat die Spaltung zwischen den Békés, den reichen | |
Großgrundbesitzern mit weißen Vorfahren, und der schwarzen | |
Mehrheitsbevölkerung zu heftigen Auseinandersetzungen geführt. Und während | |
der karibische Autor Aimé Césaire (1913–2008) weltberühmt ist, kennen nur | |
Eingeweihte den Dichter, Sprachwissenschaftler und réunionischen Aktivisten | |
Boris Gamaleya. „Die einheimische Mittelklasse, die nicht nur aus | |
Kontinentalfranzosen, sondern auch aus Réunionern bestand, hat dazu | |
beigetragen, das Kreol zu unterdrücken und die Forderungen nach | |
gesellschaftlicher und kultureller Unabhängigkeit auszulöschen“, erklärt | |
Françoise Vergès. | |
## Zuzug aus der Métropole | |
„Willkommen in Zoreyland“, witzeln die Leute in Anspielung auf die | |
„Zoreilles“ genannten Französinnen und Franzosen aus Europa, die in den | |
Hotels von Saint-Gilles absteigen. In den Ferien tummeln sich in dem | |
Hauptbadeort der Insel, 35 Kilometer südwestlich von Saint-Denis, doppelt | |
so viele Kontinentalfranzosen wie in Saint-André im Osten und fünfmal mehr | |
als in Salazie im Landesinneren. Die Insel ist attraktiv. Während zwischen | |
2012 und 2016 durchschnittlich 11 400 Menschen pro Jahr La Réunion Richtung | |
Frankreich verlassen haben, nahmen in demselben Zeitraum 10 300 Menschen, | |
darunter 3000 Rückkehrer, den umgekehrten Weg: Beamtinnen, Unternehmer, | |
Freiberuflerinnen und leitende Angestellte großer französischer Firmen. | |
Gegen den Zuzug aus der Métropole gibt es regelmäßig Proteste, weil die | |
meisten Einrichtungen der öffentlichen Daseinsvorsorge nach wie vor von | |
Kontinentalfranzosen geleitet werden. Das verändert sich langsam: Ende 2020 | |
kamen von insgesamt 31 000 leitenden Angestellten 47 Prozent von der Insel, | |
1990 waren es noch 33 Prozent. | |
Bei den Selbstständigen stellen Kreol:innen allerdings nur ein Drittel | |
(19 Prozent der Mediziner und Zahnärztinnen stammen von der Insel) und | |
besetzen lediglich 34 Prozent der Führungspositionen. „Die Eingliederung in | |
den Arbeitsmarkt geht immer noch mit einem Prozess des ‚Weißwaschens‘ | |
einher, das heißt, man muss seine Herkunft verleugnen“, berichtet der | |
Vereinssekretär von Lantant LKR. | |
Nicolas Brun erzählt, er fürchtet sich schon heute vor dem Moment, in dem | |
er beim Vorstellungsgespräch einem „Métro“ gegenüber sitzt: „Ich kenne… | |
viele Beispiele aus meinem Umfeld, wo bei gleicher Qualifikation nie der | |
Réunioner die Stelle bekommen hat“. Der 19-Jährige wusste schon immer, dass | |
er nach dem Studium zurückkehren wollte. Auch wenn nach wie vor viele die | |
Insel verlassen, berufen sich immer mehr auf ihr Recht, „im Land zu leben | |
und zu arbeiten“. | |
## Neue Rückkehroptionen? | |
Die Rückkehroption wurde in der Mobilitätspolitik lange nicht | |
berücksichtigt, doch auch das ändert sich gerade. „Mobilität ist ein | |
Lebensmodell, aber auch das beste Mittel sich zu bilden, Erfahrungen zu | |
sammeln und seine Kompetenzen zu erweitern, um selbstbewusst und stark | |
zurückzukehren“, verkündete der Département-Präsident Cyrille Melchior an | |
der Seite des Cnarm-Chefs im September 2018 in einer Rede. | |
Mit der Rückkehroption stelle sich aber auch die schwierige Frage nach der | |
regionalen Bevorzugung, der préférence régionale, meint Véronique | |
Bertile. „Dieser Begriff ist allerdings heikel, deshalb spreche ich lieber | |
von einer Priorisierung des lokalen Arbeitsmarkts“, erklärt die Juristin | |
und meint damit natürlich trotzdem, dass Einheimische bevorzugt werden, | |
wenn auf der Insel eine Stelle neu geschaffen oder besetzt wird. „Das ist | |
ein konkretes Werkzeug zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit“, sagt Bertile. | |
Nach EU-Recht erlaube die isolierte Lage und das relativ kleine Territorium | |
solche Sondermaßnahmen, die in Neukaledonien oder Französisch-Polynesien | |
bereits umgesetzt werden. | |
Da es lange nur eingeschränkt akademische Ausbildungsangebote auf der Insel | |
gab, mussten entweder Kontinentalfranzösinnen und -franzosen eingestellt | |
oder die Leute nach Frankreich geschickt werden. „Man setzt immer noch mehr | |
Gelder dafür ein, die Réunioner aufs Festland zu holen, als hier vor Ort | |
ein echtes Angebot zu schaffen“, klagt die Abgeordnete Karine Lebon. Seit | |
einem Jahr kämpft die ehemalige Grundschullehrerin für die Einrichtung von | |
Studiengängen, deren Absolvent:innen auf der Insel besonders gefragt | |
sind: Nachhaltige Landwirtschaft, Agrarwissenschaften, Biodiversität und | |
Tropische Ökologie. | |
## Stärkere wirtschaftliche Integration der Überseegebiete? | |
Seit 2015 liegt auch das Projekt eines „Lycée de la mer“ in der Schublade, | |
doch die Genehmigung der Region fehlt weiterhin. Wer sich für maritime | |
Fächer interessiert, hat im Augenblick nur zwei Möglichkeiten: sich an der | |
Seemannsschule in Port zur Matrosin oder zum Matrosen ausbilden lassen oder | |
nach Le Havre, Marseille oder Südafrika gehen, um sich für andere Berufe in | |
der Fischerei oder im Tourismus ausbilden zu lassen. | |
„Das Problem ist nicht die Mobilität an sich“, meint Aribaud. „Unsere | |
gesamte Entwicklung war immer vollständig auf den europäischen Kontinent | |
ausgerichtet. Warum schauen wir nie auf die Länder, die auch am Indischen | |
Ozean liegen?“ Ein Parlamentsbericht empfahl 2020 eine größere | |
wirtschaftliche Integration der Überseegebiete in die umliegenden Märkte | |
und die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Häfen. | |
Von der Straße, die durch den Park Tampon-Bel Air am Fluss Abord | |
entlangführt, hat man ein atemberaubendes Rundum-Panorama bis hinauf zur | |
Hochebene von Cafres: auf der einen Seite Berggipfel über üppiger | |
Vegetation, auf der anderen Seite nichts als der Ozean. La Réunion war nie | |
eine nur auf sich selbst bezogene, abgeschirmte Insel. Das haben die | |
Aktivistinnen und Literaten der Kreolität in den 1970er Jahren immer wieder | |
erklärt, und es schwingt auch in den Worten von Boris Gamaleya mit: „Ein | |
wunderbarer Gesang, der die schwarze Nacht vergessen lässt. Es ist dein | |
Volk, das spricht. Halt dir nicht länger die Ohren zu.“ | |
Aus dem Französischen von Sabine Jainski | |
Margot Hemmerich und Clémentine Méténier sind Journalistinnen. | |
17 Jun 2022 | |
## AUTOREN | |
Margot Hemmerich | |
Clémentine Méténier | |
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