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# taz.de -- Musikmesse auf der Insel La Réunion: Am Ende tanzen alle mit
> Métissage, Maloya, Misere: Die Messe „Indian Ocean Music Market“ auf der
> Insel La Réunion schafft viele Verbindungen über die Meere in der Musik.
Bild: Deltino Guerreiro
Dann springen doch alle von ihren Sitzen auf. Grèn Sémé sind die dritte
Band des Abends. Und sie haben ein Heimspiel, kommen die fünf Musiker doch
direkt aus der unmittelbaren Nachbarschaft des Theaters in den Bergen.
Trotzdem dauert es, bis sich das Publikum im ehrwürdigen Théâtre Luc Donat
von seinen Plätzen erhebt.
Die Vielvölkerinsel La Réunion ist ein i-Tüpfelchen zwischen Madagaskar und
den Malediven inmitten des Indischen Ozeans, gehört aber zu Frankreichs
Überseegebieten – und damit zur EU. Die Menschen legen hier zu diesem
Konzertabend eine vornehme Etikette wie in der „métropole“, der Hauptstadt
Paris, an den Tag. Was für das sonst eher tanzfreudige Publikum
ungewöhnlich ist.
Der zweite Abend beim „Indian Ocean Music Market“ (IOMMA) ist Bands aus La
Réunion gewidmet. Und die beste ist zweifellos Grèn Sémé. Erst im
Trance-Rhythmus des Maloya, dann greifen sie den Chanson auf und verbinden
die poetische Kraft des Französischen mit jener des Kreolischen, bevor es
Keyboard-getrieben in psychedelische Bahnen driftet. Vor seiner Band steht
Sänger Carlo de Sacco in einem flammend roten Hemd und reißt das Publikum
mit einem konzentrierten Auftritt ohne jede Pose mit. Am Ende tanzen alle.
## Mit Finanzhilfe der Europäischen Union
IOMMA – das sind vier intensive Tage im Juni vorwiegend im ziemlich
entspannten Küstenort St. Pierre; Gespräche mit einem Teil der rund 400
„Delegierten“ aus dem Musikgeschäft und mehr als 30 Showcases von Bands aus
La Réunion über Ostafrika und den Nachbarinseln bis nach Indien im Osten,
für die Einheimischen überwiegend zu freiem Eintritt. Das bei nahezu
traumhaften Temperaturen im Frühwinter Réunions, wenngleich das Wetter
unberechenbar ist. Die Elemente spielen verrückt, Wind, Sonne, Wolken und
Regen wechseln sich beständig ab. Es gibt Momente, wo feiner Regen
horizontal in der Luft steht, während die Sonne scheint.
Von Beginn an sei die IOMMA sehr gut darin gewesen, „Menschen
zusammenzubringen und Erfolge bei der Vermittlung von KünstlerInnen für
Konzerte und Tourneen zu erzielen“, sagt Jérôme Galabert, der die Messe
2011 ins Leben gerufen hat. Ein Künstler wie der Südafrikaner Nakhane habe
hier etwa einen Booking-Agenten gefunden und seither rund 200 Konzerte in
Europa und Übersee gespielt. Stemmen kann die gemeinnützige IOMMA das
Budget von rund 700.000 Euro aber nur mit Finanzhilfe der Europäischen
Union: Rund zwei Drittel stammen aus EU-Töpfen. Deren Wirken merkt man auch
daran, dass die Infrastruktur auf der Insel ausgesprochen gut ist.
In den Heimatländern hat es anspruchsvolle Popmusik, wie bei der IOMMA
vorrangig präsentiert, manchmal schwer – etwa der Sound der
Gitarren-Postrock spielenden und Hindi-singenden Band Aswekeepsearching aus
Indien; einige Musiker:innen verdienen ihr Geld darum hauptsächlich mit
Auftritten im Ausland, vorzugsweise in Übersee.
## Der afrikanische Festivalmarkt wächst
In den letzten Jahren gastiert man auch mehr und mehr in Afrika. Grèn Sémé
sind etwa in einem Monat durch 13 Länder Afrikas getourt. Auch der
afrikanische Festivalmarkt wächst und Kooperationen werden wichtiger. So
hat sich IOMMAs Partner, das Sakifo-Festival, mit vier weiteren Festivals
in Ostafrika zusammengeschlossen, um dadurch bessere Gagen zahlen zu
können.
Ignacio Priego warnt jedoch vor einer „Festivalisierung“ des Musiksektors.
Der Projektkoordinator der Stiftung Concerts SA hält es für weitaus
wichtiger, dass kleine Auftrittsorte staatlich mehr gefördert werden.
„Kleine Bühnen, das ist der Grassroots-Bereich, in dem sich Bands
ausprobieren und ein Publikum finden können.“
## Proteste der „gilets jaunes“ und Sieg von Marie Le Pen
Was in St. Pierre immer wieder beeindruckt, ist die Mischung der Menschen,
die eigentümliche „métissage“ Réunions aus Nachfahren von Sklaven,
französischen Kolonialisten, Indern, Chinesen und all den
Festlandfranzosen. Schon die ersten französischen Siedler zeugten in den
späten 1660er Jahren mit ihren madagassischen Hausangestellten die ersten
Mischlingskinder – was zugleich ein Hinweis darauf ist, dass die Geschichte
der métissage bereits vor dem massenhaften Sklavenhandel auch durch Zwang
und (sexuelle) Gewalt geprägt war: Sobald ein Mädchen die Pubertät erreicht
hatte, wurde es verheiratet, oft an deutlich ältere Partner.
Dass es heute trotz – vielleicht auch wegen – der Zugehörigkeit zur EU
gleichwohl erhebliche gesellschaftliche Spannungen gibt, zeigte sich im
November 2018, als die Proteste der „gilets jaunes“, der Gelbwesten, auch
das mehr als 9.000 Kilometer von Paris entfernte Überseedépartement
erreichten, und es zu gewaltsamen Zusammenstößen mit der Polizei kam und
der Ausnahmezustand wurde verhängt. Vordergründig ging es um die Erhöhung
der Benzinpreise, doch dahinter steht die wirtschaftlich eher lamentable
Lage vieler InselbewohnerInnen – die Jugendarbeitslosigkeit soll bei gut 50
Prozent liegen und rund 40 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze
leben.
Und im Mai gewann schließlich Marie Le Pens „Rassemblement National“ bei
den Europawahlen nicht nur in Festlandfrankreich die Mehrheit, sondern auch
auf La Réunion. Dass die Parolen der Rechtsextremen selbst in einer solch
hybriden Gesellschaft fruchten, mag erschrecken. Die Jungs von Grèn Sémé
zucken die Achseln: Rechtspopulisten hätten die Angstmacherei wie
vielerorts eben auch hier erfolgreich betrieben, andere hätten aus Protest
für die RN gestimmt. Zudem habe es rund 70 Prozent Nichtwähler gegeben und
die Linke immerhin auch gut abgeschnitten.
In St. Pierre bekommt man von derlei Verwerfungen jedoch so gut wie nichts
mit. La Réunion ist keine Insel, wo einem an jeder Ecke laute Musik
entgegenschallt. Aber die ruhige Atmosphäre wird gelegentlich durchbrochen.
Mal laufen Kids in T-Shirts mit „Soweto“-Aufdruck stolz mit ihrer Boombox
durch die Gegend. Dann lässt der Subwoofer eines vorbeifahrenden Autos die
Straße erzittern – Bässe eines Raggaloya-Songs, der den Maloya mit
jamaikanischen Dancehall-Elementen und indischen Bhangra-Muffin kreuzt.
## Der Maloya entstand auf den Zuckerrohrfeldern
In der Tradition des Maloya stehen die meisten der heimischen Acts bei der
IOMMA. Entstanden auf den Zuckerrohrfeldern zu Zeiten der Sklaverei wird er
auch „Kréol Blouz“ genannt, obwohl der Maloya meist viel schneller ist als
sein US-Pendant und geradewegs in die Trance führt. Meist wird er in einem
für uns etwas gewöhnungsbedürftigen 6/8-Rhythmus und mit einigen typischen
Instrumenten gespielt – darunter die tief dröhnende Roulèr-Trommel und die
Kayamb, eine mit Samen gefüllte Rassel aus Schilfrohr, die so sanft tönt
wie am Strand auslaufende Wellen.
Maloya sei der Schrei nach Freiheit, sagen die Musiker von Grèn Sémé im
Gespräch. Früher hätten die in Ketten gelegten Sklaven ihr Leid mit dem
Maloya in etwas Positives transformiert. Und heute bräuchten sie ihn, um
ihren Geist zu befreien und sich etwa aus den Klauen der Technologie zu
lösen, die ihr Leben kontrolliert.
Außerdem sei der Maloya im gewissen Sinne ein junges Genre, weil die
französischen Autoritäten ihn bis 1980 unterdrückten, galt er doch als
Sprachrohr der – am Ende erfolglosen – Unabhängigkeitsbewegung. Erst danach
sei es zu einer Maloya-Renaissance gekommen.
Der „rebellische“ Maloya bediene die Bedürfnisse eines westlichen Publikums
am Besten, kritisieren andere diese Identitätskonstruktion. Darum werde er
protegiert, während der Séga, ein Stil mit ähnlichen Wurzeln, kaum mehr
Unterstützung erhalte. Jedenfalls ist die Musik bei der IOMMA nicht die,
die die Jugend mehrheitlich hört – den Bongo-Flava-HipHop des tansanischen
Rappers Diamond Platnumz und den eingängigen Afro-Electro von DJ Sebb aus
La Réunion. Dessen Song „Nou ariv“ hat fast 6 Millionen YouTube-Clicks.
## Eigensinnige Künstler
Trotzdem relativieren sich solche Fragen, wenn man sieht, was für tolle,
eigensinnige KünstlerInnen sich heute noch auf den Maloya beziehen – etwa
die Newcomerin Anna O’Aro: Nur von einem Posaunisten und einem
Piker-Trommler begleitet legt sie einen sinneraubenden lyrischen
Spoken-Word-Auftritt hin.
Daneben fallen vor allem die zahlreichen arabischen Einflüsse in der Musik
aus Ostafrika auf. Bei Siti & the Band um die charismatische Sängerin Siti
Amina Omar aus dem zu Tansania gehörenden Sansibar, die den Taarab-Stil mit
modernen Einflüssen verbinden, ebenso in der Melodik Deltino Guerreiros aus
Mosambik. Der smarte junge Sänger stammt aus dem arabisch geprägten Norden
seines Landes und singt seinen weichen, funkigen Afro-Samba-Pop nicht nur
auf Portugiesisch, sondern auch in seinem Heimatdialekt Macua.
Ungewöhnliche Klänge wie die vom Duo Continuadores, ebenfalls aus Mosambik,
sind die Ausnahme: Ihre ätherischen Stücke, zu denen Ailton José Matavela
mal rappt, mal als Bariton singt, erinnern manchmal an die britische Band
Radiohead. Es ist aus der Zeit gefallene Musik, für die sich Matavela und
sein Partner Tiago Correia Paulo in ihre Kindheit zurückversetzt haben.
Verstärkt wird der nostalgische Touch durch Visuals, die auf die
namensgebende Jugendorganisation Continuadores verweisen: In den
euphorischen Jahren nach der mosambikanischen Unabhängigkeit 1975 vom
Präsidenten Samora Machel gegründet, bemühte sich die Organisation darum,
Werte wie Solidarität und die Rechte von Kindern zu stärken.
Zum Abschluss, draußen auf der Straße in einer lauen tropischen Nacht,
räumt dann ein Projekt ab, das bereits 2018 Premiere feierte: Unter dem
anspielungsreichen Namen Pigment erzählen La Reúnions große Diva Nathalie
Nathiembé und Gitarrist Mounawar von den Komoren die Geschichte einer
menschlichen Kreatur, weder Mann noch Frau, von seiner Geburt bis zum
Selbstmord. Das entwickelt sich von einem dubbigen Einstieg mit viel Groove
zum zunehmend düsteren Metalcoregewitter. Und endet – mit dem Leben nach
dem Tode – in einer Rückkopplungsorgie.
18 Jun 2019
## AUTOREN
Ole Schulz
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