# taz.de -- Freischaffend in der Pandemie: Kulturjournalismus vor dem Kollaps | |
> Freie Mitarbeiter von Zeitungen hatten es schon vor der Coronakrise nicht | |
> leicht. Der 11. März 2020 hat die ohnehin oft prekäre Situation | |
> verschärft. | |
Bild: Gewohnter Anblick in den letzten zwei Jahren: leere Säle und Bühnen | |
Noch ist die Welt in Ordnung, als Jonas Nay vom Handy aus dem Zug anruft. | |
Die Verbindung ist bescheiden, ein seriöses Interview lässt sich so | |
eigentlich nicht machen. Aber sonst hätte ich Nay nicht erwischen können. | |
Der junge Schauspieler aus der Serie „Deutschland 83“ (2015) und [1][Burhan | |
Qurbanis] Neo-Nazi-Drama „Wir sind jung. Wir sind stark“ (2014) ist ständig | |
unterwegs. | |
Ich weiß nicht mehr, ob Nay zum Zeitpunkt unseres Gesprächs noch für den | |
Film „Persischstunden“ (2020) drehte. Ich weiß nur noch, dass er sich am | |
11. März 2020 in den Zug setzte, um nach Stuttgart zu fahren, wo er am | |
Abend ein Konzert mit seiner Electropop-Band Pudeldame spielen sollte. | |
Mein Auftrag war, Nay zu interviewen und später noch den Gig zu besuchen, | |
um daraus dann ein Porträt zu stricken. Viel Arbeit! Ich hatte mir zunächst | |
ein paar Folgen von „Deutschland 83“ bei Amazon angeschaut, Songs der Band | |
auf Youtube gehört, einen Fragenkatalog gebaut, nach dem Interview würde | |
ich noch die verrauschte Aufnahme abhören müssen. | |
Der Konzertbesuch kostete auch wieder Zeit. Und ich war müde, weil ich in | |
den Tagen zuvor schon viel unterwegs gewesen war. Aber als freie | |
Kulturjournalistin konnte ich es mir nicht leisten, Nein zu sagen. Immerhin | |
hatte Nay etwas Interessantes zu sagen. Doch noch während wir redeten, rief | |
die WHO eine Pandemie aus. | |
## Der Anfang vom Ende | |
Erst war ich ein bisschen erleichtert, als es hieß, sämtliche Konzerte | |
müssten abgesagt werden. Mir war die wahre Bedeutung des Wortes „Pandemie“ | |
nur theoretisch klar. Ein Kollege aus der Redaktion rief an: „Sag mal, | |
jetzt, wo das Konzert gestorben ist: Könntest du vielleicht zum Termin ins | |
Kino? Suzi Quatro kommt.“ „Mal sehn“, sagte ich vage, und guckte zu meinem | |
Mann, der mir einen Vogel zeigte. | |
An diesem Abend bin ich nirgendwo mehr hingegangen. Ich weiß noch, wie ich | |
gegen ein Uhr nachts das Licht ausgeknipst habe, ein bisschen dankbar für | |
die Verschnaufpause. Dabei war das der Anfang vom Ende. | |
„It’s the end of the world as we know it“, schmetterten R.E.M. | |
zuversichtlich in den nächsten Tagen aus den Facebook-Timelines vieler | |
Leute. Auch aus meiner. Die Pandemie hatte da noch einen Hauch von | |
Abenteuer. Wie dämlich, denke ich heute, und könnte heulen, weil ich am Tag | |
des Jonas-Nay-Interviews meine Arbeit verloren hatte, ohne es zu ahnen. | |
Seit 2013 schrieb ich frei- und hauptberuflich für drei Tageszeitungen in | |
Süddeutschland, ein fordernder, prekärer Job. Doch ohne Zeitungsvolontariat | |
stellte mich niemand als Redakteurin ein, für ein Volo war ich mit Anfang | |
Dreißig schon zu alt, nachdem ich meine erste Berufstätigkeit als | |
Regieassistentin am Theater entnervt und desillusioniert nach sechs Jahren | |
geschmissen hatte. | |
## Bore-out als Regieassistenz | |
Ich hätte nicht gedacht, wie viel Spaß mir die Arbeit bei der Zeitung trotz | |
der erschwerten Bedingungen machen würde. Am Theater hatte ich Mobbing und | |
ein totales inhaltliches Bore-out in Kombination mit massiver | |
Arbeitsüberlastung erlebt. Bei der Zeitung durfte ich mich in meine Arbeit | |
einfuchsen, lernte von einem Redakteur journalistische Kniffe und schrieb | |
immer regelmäßiger, erst nur Filmkritiken, bald aber auch Interviews und | |
Porträts. | |
Auf mein erstes großes Gespräch mit dem [2][britischen Filmemacher Ken | |
Loach („Ich, Daniel Blake“)] bin ich bis heute stolz, ich habe auch mit dem | |
Regisseur [3][Denis Villeneuve („Blade Runner 2049“)] und Musikern wie | |
Amanda Palmer und Scott Devendorf von The National gesprochen. Ich besuchte | |
viele Konzerte; von Nena, Lena, Tocotronic zu Archive über die Beach Boys | |
bis hin zu Al Bano und Romina Power ging die Bandbreite. | |
Ich habe über Tanztheater und Serien geschrieben, über Rocko Schamonis | |
Kiez-Roman „Große Freiheit“ (2019), ich beerdigte Miloš Forman († 2018), | |
Jeanne Moreau († 2017) und den Sponge-Bob-Erfinder Stephen Hillenburg († | |
2018). All das war mit dem 11. März 2020 schlagartig vorbei. | |
Das stimmt nicht ganz; in Wahrheit hat die Pandemie bloß eine sich seit | |
Langem vollziehende Entwicklung im Journalismus beschleunigt. Schon in der | |
Zeit davor war immer die Rede von der großen Krise gewesen. Als ich als | |
Freie anfing, unkten die festen Kollegen, das alte Modell, wie ich es nun | |
kennenlernte, würde es in absehbarer Zeit nicht mehr geben. Die Gewissheit, | |
dass die Prophezeiung stimmt, traf mich trotzdem hart am 11. März 2020. | |
## Rezensionen schrieben nur noch die Festen | |
In den Folgemonaten erlebte ich, wie die Zeitungen ihre festangestellten | |
Mitarbeiter in Kurzarbeit schickten und freie Kolleg*innen nicht mehr | |
beschäftigen durften. Da keine Kultur mehr stattfinden konnte, gab es | |
ohnehin kaum mehr etwas zu berichten. Über Bücher, neue TV- und | |
Streaminginhalte, über Musik und Onlineangebote schrieben nur noch die | |
Festen. | |
Die Leserinnen und Leser schienen sich schnell an die abgespeckte | |
Kulturberichterstattung zu gewöhnen. Das neue Rätsel, anfangs nur ein | |
Lückenfüller, etablierte sich zum Dauerbrenner. Fairerweise muss man sagen, | |
dass schon vor der Pandemie etwa die Berichterstattung zu Film und Medien | |
bei meinen Auftraggebern zurückgefahren wurde, die traditionelle Filmseite | |
am Donnerstag mit Kritiken zu mindestens acht Kinostarts gab es da längst | |
nicht mehr. Und Fans von Nena, Lena, [4][Tocotronic] und den Beach Boys | |
lesen offenbar lieber andere Medien als die gute alte Tageszeitung. | |
Und trotzdem fällt es mir schwer, diesen Schnitt zu akzeptieren: Ganz klar | |
aus egoistischen Gründen, weil ich diese inhaltlich erfüllende Arbeit über | |
viele Jahre mit Herzblut und Freude gemacht habe. Ich weine darum, wie | |
einst Sinéad O’Connor im Video zu ihrem Schmachtfetzen „Nothing Compares 2 | |
U“ (1990), aber ich könnte auch aus anderen, allgemeingültigeren Gründen um | |
den Kulturjournalismus heulen. | |
Und das ist der eigentliche Grund dieses Textes: Wir machen uns nicht klar, | |
was Kultur und die Berichterstattung über sie für unsere Gesellschaft | |
leistet. Mich ärgert, wie bestimmte Themen weggewischt wurden, weil | |
Online-Klickzahlen ein mangelndes Interesse der Leserschaft belegen sollen. | |
Und ich weiß nicht, worüber ich mich mehr ärgern soll, über Verleger, die | |
auf die Wirtschaftlichkeit ihres Unternehmens schauen müssen und deshalb | |
kürzen, was das Zeug hält. | |
Oder über ein Publikum, das keine Lust mehr hat, sich von Kritikern | |
erzählen zu lassen, warum man ein bestimmtes Buch lesen oder einen | |
bestimmten Film schauen soll. Die Schelte über Verleger und Publikum hilft | |
nicht weiter und ich glaube auch, dass die Situation komplexer zu | |
beschreiben wäre als mit diesen beiden polemischen Formeln. Zumal seit der | |
Pandemie und dem Überfall Russlands auf die Ukraine uns noch weitere | |
Probleme belasten, wie etwa die Rohstoffknappheit und die hohe Inflation. | |
## Kultur nicht Fans und Followern überlassen | |
Ich denke aber auch, dass wir den Kulturjournalismus brauchen und dass es | |
ein Fehler wäre, die Auseinandersetzung mit Kultur allein Fans und | |
Followern im Netz zu überlassen, die sich darüber freuen, wie geil das | |
letzte Konzert, der letzte Song, der neueste Film von Künstler*in XY war. | |
Es ist okay, aber für mich hat es herzlich wenig mit Literaturkritik zu | |
tun, wenn Leute per BookToc ihr Missfallen über ein Buch zum Ausdruck | |
bringen, indem sie es an die Wand pfeffern. | |
Mir gefällt auch nicht, wie bereitwillig wir bestimmte Genres, Medien und | |
Kunstformen in Schubladen stecken. Bei der Zeitung lernte ich, in | |
Kategorien von „E“ und „U“ zu denken. Das „E“ steht für die ernste | |
Hochkultur, das „U“ für die Unterhaltung, die, ganz klar, weniger wert ist. | |
Ich habe nie verstanden, warum die Kritik eines Romans von Herta Müller | |
wichtiger sein soll als die Würdigung eines neuen Werks von Stephen King. | |
Man muss den Menschen nicht vorkauen, dass [5][Herta Müller wahrscheinlich | |
die bessere Künstlerin von beiden ist.] | |
Falls Stephen King die Texte von Herta Müller kennen sollte, würde er das | |
vermutlich nicht bestreiten, weil es ihm nicht um Kunst geht in seinem | |
Schreiben. Aber man kann über Stephen King andere Geschichten erzählen, | |
etwa, dass er der Bibliothek in seiner Heimatstadt Bangor viel Geld | |
spendete, um die Lesekompetenz zu stärken. Und dass er in dem von Krisen | |
und Konservativismus zerfetzten Land zu den aufrechten Demokraten zählt. | |
## Egal, ob E- oder U-Kunst | |
Eine Geschichte über Britney Spears kann genauso interessant sein wie eine | |
über Igor Levit, und es lohnt sich sogar zu erklären, warum man sämtliche | |
Filme von Til Schweiger in die Tonne hauen kann, obwohl sie vielen Menschen | |
gefallen. Nicht, um die Fans von Til Schweiger oder gar den Filmemacher | |
selbst zu brüskieren, sondern um zu zeigen, warum es Kinokunst in | |
Deutschland so schwer hat. Kultur, egal ob „E“ oder „U“, ist nicht bloß | |
Spaß an der Freude, nicht nur l’art pour l’art; sie spiegelt wider, was uns | |
beschäftigt und ausmacht, womit wir hadern, was wir richtig machen und wo | |
wir vollkommen falsch liegen. | |
Wenn zum Beispiel [6][Austin Butler als „Elvis“ in Baz Luhrmanns | |
gleichnamigem Biopic] am Schluss des Films im imposanten Fatsuit „Unchained | |
Melody“ vom Grund seines mächtigen Bauches singt, führt der Schauspieler | |
nicht nur die gesamte Traurigkeit einer zur Legende überhöhten Person vor | |
Augen, man kann in Elvis’ anrührendem Vibrato auch Trost finden angesichts | |
der Härte dieser Welt mit ihren Katastrophen und Kriegen. | |
Die Frage aber, ob der Kulturjournalismus noch zu retten ist, lässt sich | |
nicht so leicht beantworten wie die Frage danach, warum man ihn noch | |
braucht. Ich wünschte, jemand könnte darauf eine einigermaßen ermutigende | |
Antwort liefern. | |
2 Aug 2022 | |
## LINKS | |
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## AUTOREN | |
Kathrin Horster | |
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