# taz.de -- Horrorfilm „Men“ im Kino: Männer, die sich selbst gebären | |
> Alex Garland drehte bisher vor allem Science-Fiction-Filme. In „Men“ übt | |
> der britische Regisseur mit den Mitteln des Horrors Kritik am | |
> Patriarchat. | |
Bild: „Verbotene Frucht“: Harper (Jessie Buckley) wird in „Men“ von Mä… | |
Werke wie [1][„Midsommar“] und „Hereditary“ von Ari Aster oder „Der | |
Leuchtturm“ und [2][„The Witch“ von Robert Eggers] haben in den letzten | |
Jahren das Subgenre des künstlerischen Horrorfilms bedeutend geprägt. Es | |
sind Filme, die vor allem auf eine reichhaltige Symbolik, philosophische | |
Reflexionen, eine dichte Atmosphäre und eine ansprechende Ästhetik setzen. | |
Die somit eine tiefergehende Beunruhigung bei ihrem Publikum erzeugen, | |
einen nachhaltiger verstörenden Eindruck hinterlassen, als es kurze | |
Schockmomente oder stumpfe Gewaltausbrüche allein bewirken könnten. | |
Alle der genannten Beispiele wurden von A24 produziert beziehungsweise | |
verliehen. Vor zehn Jahren in New York gegründet, konnte sich das | |
Unternehmen schnell als eine neue Hoffnung für ebenso anspruchsvolles wie | |
zeitgeistiges Kino etablieren. Für das Regiedebüt von Alex Garland, „Ex | |
Machina“ (2014) übernahm A24, zumindest in den USA, ebenfalls den Verleih. | |
Der Film ist nicht nur überaus intelligent geschrieben – Garland begann | |
seine Karriere als Schriftsteller –, sondern auch sehr elegant inszeniert. | |
Das Sci-Fi-Drama um einen humanoiden Roboter, gespielt von Alicia Vikander, | |
widmete sich drängenden Fragen um die Beziehung zwischen Menschen und | |
Maschinen, die dem Menschen immer ähnlicher werden. Garland und A24 haben | |
also in der Vergangenheit unter Beweis gestellt, dass aus der | |
Zusammenarbeit Produktionen hervorgehen können, die relevante Themen | |
verhandeln und das Ganze dabei noch unglaublich gut aussehen lassen. | |
All das deutete darauf hin, dass sich auch Garlands „Men“, in den USA | |
erneut von A24 verliehen, in die noch verhältnismäßig kurze Liste des | |
Subgenres „art horror“, das innerhalb der letzten Dekade stetig gewachsen | |
ist, einreihen könnte. In ästhetischer Hinsicht hat das Werk viel von | |
künstlerischem Horror, visuell ansprechend ist „Men“ durchaus. | |
Der Film eröffnet mit der Sicht aus einem Fenster, in Zeitlupe scheint | |
Feuerregen auf das Geländer des davorliegenden Balkons niederzugehen. Dann | |
wendet sich die Kamera einer Frau zu, die – vom orangen Licht, das von | |
draußen in den Raum fällt, beschienen – in ihrer Wohnküche steht, mit | |
blutender Nase und irritiertem Gesichtsausdruck. | |
## Forderungen nach „Liebe“ um jeden Preis | |
Sie schließt die Balkontür, schaut aber weiter hinaus. Kurz darauf trifft | |
ihr Blick das Gesicht eines Mannes, der vor besagtem Fenster in die Tiefe | |
stürzt. Dazu erklingt „Love Song“ von Lesley Duncan, unter anderem ist die | |
Songzeile „Until you give your love, there’s nothing more that we can do“ | |
zu hören. Es ist ein stimmiger Auftakt für einen Film, der sich nicht nur | |
zuerst, sondern nahezu ausschließlich um die wüsten Forderungen dreht, die | |
Männer an Frauen stellen. Und manchmal ist es die nach „Liebe“, um jeden | |
Preis. | |
Protagonistin Harper Marlowe (Jessie Buckley) mietet eigentlich ein | |
herrschaftliches Schloss im ländlichen England, um über den Tod ihres | |
Mannes James (Paapa Essiedu) hinwegzukommen. Wie in Rückblenden erzählt | |
wird, drohte er ihr mit Selbstmord, sollte sie sich scheiden lassen. Im | |
weiteren Verlauf des Streits schlug er sie ins Gesicht, woraufhin sie ihn | |
rauswarf. Gleich darauf kletterte er offenbar auf den Balkon der | |
darüberliegenden Wohnung. Ob er sich umbringen wollte oder beim Versuch | |
herunterzuklettern abgerutscht ist, gehört zu den Fragen, die Harper | |
quälen. | |
Zeit, um an diesem abgeschiedenen Ort die nötige Introspektion zuzulassen | |
oder gar das Trauma zu bewältigen, ist ihr nicht beschieden. Stattdessen | |
wird sie ausschließlich von Männern umgeben sein, die auf verschiedene | |
Arten und meist mit einer gewissen Selbstverständlichkeit alle möglichen | |
persönlichen Grenzen überschreiten. | |
Bereits Vermieter Geoffrey, ein rotwangiger Landadliger mit feuchtem | |
Grinsen, erweist sich als unangebracht neugierig, als er sich darüber | |
wundert, dass sie allein angereist ist, obwohl sie doch eine „Mrs“ sei. | |
Zuvor hatte er sie dabei beobachtet, wie sie bei ihrer Ankunft einen Apfel | |
vom Baum des Anwesens pflückte und hineinbiss. Später gibt er den obskuren, | |
als Witz getarnten Kommentar dazu ab, dass sie das nicht dürfe, „verbotene | |
Frucht“ und so weiter. Sie wisse schon. | |
## Mythen aus dem Mittelalter | |
Auf christliche – auch folkloristische – Symbolik wie diese greift Garland | |
immer wieder zurück. Allerdings ohne das darin Angelegte im Verlauf der | |
Handlung für tiefergehenden Erkenntnisgewinn nutzbar zu machen. So taucht | |
wiederholt der Grüne Mann beziehungsweise dessen „Blattmaske“ auf, um die | |
sich spätestens seit dem Mittelalter diverse Mythen ranken. | |
Harper begegnet der Maske zunächst in Form einer Verzierung an einem | |
Taufbecken in der örtlichen Kirche. Auch ein nackter Mann, der sie kurz | |
nach ihrem Eintreffen zu stalken beginnt, wird hinterher ein Eichenblatt in | |
seiner Stirn, später weiteres Laub und Äste am Körper tragen. | |
Einer Interpretation nach geht der Grüne Mann in der kirchlichen Tradition | |
auf den Schöpfungsmythos zurück: Aus Samen des Baums der Erkenntnis im Mund | |
Adams soll ein neuer Baum gewachsen sein, aus dem später das Kreuz, an dem | |
Jesus starb, gefertigt wurde. | |
Wie man es auch dreht und wendet, so scheint der einzige metaphorische | |
Gehalt von „Men“ auch im weiteren Verlauf eine simple Verallgemeinerung zu | |
sein, die bereits im ebenso kurzen wie vielsagenden Titel anklingt: Alle | |
Männer sind gleich, und das seit Urzeiten. Oder sind es zumindest in den | |
Augen der traumatisierten Protagonistin. | |
## Schuld am Tod ihres Ehemanns | |
Für eine Auslegung nach einer dieser beiden Spielarten spricht auch die auf | |
den ersten Blick spannende, letztlich in ihrer Sinnbildhaftigkeit aber doch | |
etwas zu plump geratene Casting-Entscheidung: Alle Männer, denen Harper | |
nach ihrem toten Ehemann begegnet, werden von Rory Kinnear gespielt. | |
Darunter ein Pfarrer, der ihr zunächst Gehör schenkt, ihr dann aber | |
einzureden versucht, dass sie am Tod ihres Ehemanns die Schuld trage, dass | |
Männer ihre Frauen eben bisweilen schlagen und sie ihm noch eine weitere | |
Chance hätte geben sollen. Darüber hinaus schlüpft Kinnear in die Rolle | |
eines Polizisten, eines Pubbesitzers und sogar eines Jungen, der Harper zum | |
Versteckspiel auffordert und sie anschließend unaufhörlich als „dumme | |
Schlampe“ beschimpft, als sie ablehnt. | |
In einem furiosen Finale gebären sich diese Männer gegenseitig, mit dem | |
Grünen Mann als Wurzel des Übels und Harpers unheilvollem James als dessen | |
jüngste Ausgeburt. Harpers Flucht ist gescheitert, dem sich ständig | |
reproduzierenden Patriarchat ist nicht zu entkommen, so die Lesart, die | |
sich aufdrängt. | |
Damit bleibt am Ende nicht viel mehr als eine optisch überzeugende, aber | |
oberflächliche Tirade gegen Misogynie. Alex Garlands dritte Regiearbeit | |
wirkt im Vergleich zu den eingangs erwähnten Vertretern des Subgenres, aber | |
auch anderen verwandten Filmen wie Darren Aronofskys polarisierendem | |
„Mother!“ oder [3][Jordan Peeles Horrorkomödie über Alltagsrassismus „G… | |
Out“] leider wie ein potemkinsches Dorf. | |
## Überbordende Symbolik | |
Durch ähnliche religiöse Referenzen beziehungsweise den Versuch, an heutige | |
gesellschaftliche Debatten anzuknüpfen, erinnert „Men“ zwar an derlei | |
Filme, bleibt aber vor allem mit Blick auf den inhaltlichen Gehalt | |
bedeutend dahinter zurück. Die überbordende Symbolik führt nicht zu mehr | |
als Floskeln, die der Ernsthaftigkeit des Themas womöglich schaden, weil | |
sie Missstände auf Plattitüden zu reduzieren droht. | |
Blickt man auf Alex Garlands bisheriges Schaffen, das neben „Ex Machina“ | |
weitere [4][hintergründige Sci-Fi-Werke wie „Auslöschung“] und die Serie | |
„Devs“ umfasst und stets Fragen um das Urmenschliche, unsere DNA und was | |
sie herausfordert, aufwirft, bleibt fraglich, wie das Ergebnis diesmal | |
vergleichsweise flach ausfallen konnte. Vielleicht ist der Stoff von „Men“ | |
zu real, zu wenig Dystopie, um geeignet zu sein für die eigentliche Stärke | |
des Filmemachers: die Garland’schen Gedankenexperimente um das Grauen, das | |
uns erst noch bevorsteht. | |
21 Jul 2022 | |
## LINKS | |
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## AUTOREN | |
Arabella Wintermayr | |
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