Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Film „The Whale“: Und der Walfisch, der hat Tränen
> In „The Whale“ sieht sich ein schwer adipöser Mann seinem Tod gegenüber.
> Darren Aronofskys Kammerspiel ist eine Parabel über Erlösung und
> Empathie.
Bild: Ein abgetauchter Wal: Charlie (Brendan Fraser)
Die Wahrheit, ihre Wahrheit, in die Argumentation einfließen zu lassen, das
sei das Allerwichtigste. Beinahe gebetsmühlenartig wiederholt Charlie
(Brendan Fraser) diese Worte gegenüber seinen Studenten. Nur wer die eigene
Wahrhaftigkeit zu fassen bekomme, sie dann auch freizulegen wagt, vermag
überzeugend zu schreiben. Ohne dieses Streben seien alle anderen Tipps und
Techniken, die er ihnen geben kann, schlicht sinn- und zwecklos.
Dass für Charlie nicht nur im Schreiben, sondern offenbar auch im
zwischenmenschlichen Miteinander nichts von größerer Bedeutung ist, als das
authentische Selbst nach außen zu kehren, sich gleichsam selbst aber
weitestmöglich versteckt, ist die bedrückende Diskrepanz, die in seinem
Leben klafft.
Zu groß ist die Scham, die er für sein eigenes Äußeres empfindet, als dass
er sich zu zeigen wagte. Zu groß ist wahrscheinlich auch die Furcht, dass
man in ihn hinter den 300 Kilogramm, die er mit sich herumträgt, auch gar
nicht sehen kann.
Auch deswegen verzichtet er als Dozent in den Videocalls mit seinem
College-Schreibkurs darauf, sichtbar zu sein. Lügt sogar, als ein
Teilnehmer fragt, warum er denn im Gegensatz zu ihnen nicht zu sehen sei.
Die Kamera an seinem Laptop sei weiterhin kaputt, behauptet er.
## Empathie und Erlösung
Einen Schnitt später erblickt ihn dann das Publikum zum ersten Mal. Charlie
hat den Laptop weiterhin vor sich platziert. Statt seiner Studenten zeigt
der Bildschirm nun allerdings zwei Männer beim Analsex. Eine Hand steckt in
seiner Hose, seine Stirn ist mit Schweißperlen benetzt. Im nächsten Moment
greift er sich an die linke Brust, Panik blitzt in seinen Augen auf. Er
ringt sichtbar nach Luft, tastet hektisch nach etwas auf dem Beistelltisch
neben ihm.
Nach nur wenigen Spielminuten scheint es so, als sei die scharfe Kritik an
[1][Darren Aronofskys Spielfilm „The Whale“, wie sie nach der Premiere bei
den Filmfestspielen von Venedig] und im Zuge des US-Kinostarts im Dezember
mitunter geübt wurde, durchaus berechtigt. Tatsächlich erweckt die
drastische Eröffnungssequenz den Eindruck, der Umgang mit Fettleibigkeit im
Film sei von zweifelhafter Sensationssucht geprägt.
So als würde bereits der garstige Beiklang des Titels auf die Grausamkeit
hindeuten, mit der das Drama auf seinen adipösen Protagonisten blickt. In
Wahrheit ist es aber, wie das mit der Wahrheit oft so ist, wesentlich
komplizierter. „The Whale“ ist als Parabel, die mindestens so zartfühlend
wie schonungslos von Empathie und Erlösung handelt, etwas viel Ehrlicheres
und damit Kostbareres.
Schonungslos, weil die Kamera Matthew Libatiques, mit dem Aronofsky seit
seinem ersten Spielfilm „Pi“ immer wieder zusammenarbeitet, sich niemals
von Charlies Leidensweg, der sich angesichts seines enormen Gewichts nicht
einmal recht vor die Tür gehen kann, abwendet.
Mit einer Gehhilfe schleppt er sich schwitzend und keuchend vom Sofa in die
Küche und ins Badezimmer. In das Bett kann er sich nur unter größter
Kraftanstrengung und über einen an der Decke montierten Haltegriff hieven,
auch das Duschen ist nur mit der Unterstützung einer solchen Vorrichtung
möglich.
## Ein Oscar für die Make-Up-Artists
Zartfühlend, weil „The Whale“ derlei gar nicht von seinem Protagonisten
verstecken muss, um Charlie als die überaus empathische Persönlichkeit zu
zeichnen, die er ist. Dass dies gelingt, liegt nicht zuletzt an Brendan
Frasers einnehmend facettenreichem Spiel unter täuschend echtem „Fat Suit“
und prothetischer Maske, das ganz zu Recht mit einem Oscar gewürdigt wurde.
Charlies liebenswerte Feinsinnigkeit kommt selbst, oder vielleicht gerade,
in vermeintlich voyeuristischen Szenen zum Ausdruck. Wonach er in dem
Moment tastet, den er für den Augenblick seines Todes hält, ist
ausgerechnet ein in Folie verpackter Essay.
Wie ein Stoßgebet liest er die Zeilen, die „Moby Dick“ analysieren und von
der Wichtigkeit der langweiligen Abschnitte über Wale handeln. Schließlich
seien sie ein wohlgemeinter Versuch Herman Melvilles, den Leser vor der
traurigen Geschichte, die er eigentlich erzählt, zu bewahren. Wenn auch nur
für eine kleine Weile.
Natürlich liebt Charlie diesen Essay ausdrücklich wegen seiner schmucklosen
Direktheit. Dafür, dass er sich unprätentiös damit begnügt, eine einfache
Wahrheit auf den Punkt zu bringen. Seine Begeisterung ist derart enorm,
dass er sogar den fremden jungen Mann, der plötzlich in seiner Tür steht,
darum bittet, ihn vorzulesen.
## Essen als selbstzerstörerische Form des Trosts
Thomas (Ty Simpkins), ein „Missionar“ der evangelikalen „New Life“-Kirc…
die vor der Endzeit mahnt, wird zu einem der Besucher, der in der letzten
Woche von Charlies Leben wiederholt auftaucht. Ebenso wie Liz (Hong Chau),
seine einzige Freundin, die als Krankenschwester notgedrungen die Rolle
seiner persönlichen Pflegerin übernimmt, da er sich trotz lebensbedrohlich
hohem Blutdruck vehement weigert, in die Notaufnahme zu fahren.
Wieso sich Liz so sehr an Thomas’ Präsenz stört und was die sektenähnliche
Kirche, die er vertritt, mit dem Tod von Charlies Freund zu tun hat,
enthüllt das Drehbuch, das Samuel D. Hunter basierend auf seinem
gleichnamigen Theaterstück verfasste, erst nach und nach.
Früh wird hingegen klar, dass Charlies wiederkehrende Essanfälle wenig mit
Hunger und viel mit überwältigenden Gefühlen, mit einer
selbstzerstörerischen Form des Trosts als Reaktion auf den Verlust des
Mannes, den er als die Liebe seines Lebens bezeichnet, zu tun haben.
Der Vorwurf, dass die Darstellung dieser Eskapaden in sich vorurteilsvoll
wäre oder zumindest gefährliche Vorurteile gegenüber Adiposität schüren
würde, erweist sich allein deswegen als Farce, weil Charlies körperliche
Verfassung weder das selbst verschuldete Produkt von „Faulheit“ noch
genusssüchtiger „Völlerei“, sondern Symptom eines Kontrollverlusts als
Folge einer von Trauer ausgelösten Depression, demnach einer Krankheit ist,
die vielerlei Formen annehmen kann.
## Biblischer Bußgang
Keineswegs reduziert „The Whale“ seine Hauptfigur auf ihre Fettleibigkeit.
Sondern bildet ab, wie sehr ihr Umfeld dazu neigt. Dem Film deswegen fat
phobia vorzuwerfen, spräche dem Kino eine zentrale Funktion der Kunst ab,
nämlich reale Missstände darzustellen und damit sichtbarer zu machen.
Insbesondere seine 16-jährige Tochter Ellie (Sadie Sink), zu der er nach
acht Jahren schließlich einen persönlichen Kontakt forciert, tritt grausam
gegenüber ihrem Vater auf. Im Wissen seines nahenden Todes versucht er eine
Beziehung aufzubauen. Darauf weiß sie lediglich mit Wut darüber, dass er
sie und ihre Mutter Mary (Samantha Morton) einst für einen Mann verließ, zu
antworten.
Bisweilen fühlen sich Charlies Bemühungen wie ein mit biblischer Kraft
erzählter Bußgang an, wie ein Versuch, die Versäumnisse eines früheren
Zeitpunktes seiner Vita gegen ihr Ende wiedergutzumachen. Das
Religiös-Allegorische, das „The Whale“ bei allem Weltlich-verhaftet-Sein
durchzieht, ist es schließlich auch, das das recht konventionell
inszenierte Kammerspiel, gemessen zumindest an den großen Gesten, zu denen
Aronofsky sonst neigt, eindeutig als ein Projekt des US-amerikanischen
Filmemachers auszeichnet.
In einem pathetischen, aber dennoch unweigerlich anrührenden Finale wird
Charlie, der auf die Gehässigkeiten seines Umfelds stets nur mit Güte
reagiert, selbst zu einer Erlöser-ähnlichen Figur erhoben. Entwaffnend
gutherzig zeigt sich Charlie nicht nur im Umgang mit Ellie, sondern auch
mit Thomas, dessen „Lehren“ er äußerst ablehnend gegenübersteht. Vor all…
weil die „New Life“-Kirche, ihre Predigten von Sünde und Verdammnis,
mittelbar für Charlies Leid verantwortlich sind.
## Späte Erlösung
Wie schon in Aronofskys vielschichtigem Fantasy-Drama „The Fountain“
(2006), im Bibelfilm „Noah“ (2014) und vor allem in „Mother!“ (2017) –
einem intensiven Psychothriller, der sich als Gleichnis über einen
narzisstischen Schöpfer (Javier Bardem), unter dessen nicht weniger
rücksichtsloser Kreation, die Menschheit, insbesondere die barmherzige
Mutter Erde (Jennifer Lawrence) zu leiden hat, lesen lässt – wird auch in
„The Whale“ die Idee eines absolutistischen Gottes beziehungsweise der
fanatische Glaube an einen solchen hintergründig kritisiert und wahre
Empathie als viel realeres Heilsversprechen für gutes Miteinander im
Diesseits gegenübergestellt.
Für Charlie besteht seine persönliche Erlösung am Ende schließlich darin,
seine Wahrheit, getrieben von ebensolcher Empathie, doch noch einmal nach
außen zu kehren, sich ehrlich zu machen und aus dem Versteck, das er sich
zum Schutze errichtete, herauszuwagen. Wenn auch nur für eine kleine Weile,
wenn auch nur ein allerletztes Mal.
26 Apr 2023
## LINKS
[1] /Filme-ueber-Lehrende-in-Venedig/!5876412
## AUTOREN
Arabella Wintermayr
## TAGS
Essstörungen
USA
Krankheit
Drama
Depression
Schwerpunkt LGBTQIA
Übergewicht
Adipositas
Schwerpunkt Filmfestspiele Venedig
Schwerpunkt Erster Weltkrieg
Film
Kino
Oscarverleihung
Spielfilm
## ARTIKEL ZUM THEMA
Neuer Film „Luise“: Abseits der Welt und ihrer Wirren
Im Personenstück „Luise“ fächert der deutsche Regisseur Matthias Luthardt
eine Charakterstudie auf. Inspiration ist eine Erzählung von 1922.
Film über BDSM und Reitsport: Eva wächst ein Pferdeschwanz
Begehren zum Greifen: Das Spielfilmdebüt „Piaffe“ der Künstlerin Ann Oren
erzählt liebevoll von einer Selbstbefreiung durch die Neigung zu Pferden.
Sam Mendes' neuer Film „Empire of Light“: Gefühlskino mit Gebrauchsanleitu…
Wo finden wir Hoffnung? In der Liebe, in Gemeinschaft – und im Kino. Sam
Mendes drängt in „Empire of Light“ stark auf ganz große Emotionen.
95. Oscar-Verleihung: „Everything Everywhere“ gewinnt
Der Science-Fiction-Film holt sieben Oscars. Das deutsche Weltkriegsdrama
„Im Westen nichts Neues“ wird bester internationaler Film und erhält
insgesamt vier Oscars.
Horrorfilm „Men“ im Kino: Männer, die sich selbst gebären
Alex Garland drehte bisher vor allem Science-Fiction-Filme. In „Men“ übt
der britische Regisseur mit den Mitteln des Horrors Kritik am Patriarchat.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.