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# taz.de -- Spielfilm „Civil War“ im Kino: Land unbegrenzter Wirklichkeiten
> Mit „Civil War“ hat Regisseur Alex Garland einen immersiven Actionfilm
> über die gespaltenen USA gedreht. Dass er keine Moral hat, ist ein
> Vorteil.
Bild: Erster Einsatz im eigenen Land: Kriegsreporterin Lee (Kirsten Dunst) in �…
Aus dem Dunst einer Nebelgranate rennen Menschen. Die schwerbewaffnete
Polizei schießt wahllos in die Masse. Eine Frau dringt bis zu einem
Panzerfahrzeug vor. Eine Explosion. Kurze Stille. War das Ding um ihren
Bauch ein Sprengstoffgürtel?
Die Kamera zoomt heraus: brennende Autos, eingestürzte Häuser, abgetrennte
Körperteile und mittendrin: die Kriegsreporterin Lee (Kirsten Dunst). Sie
wirkt zugleich abgeklärt und besorgt. Sie hat in ihrer Karriere bereits
dutzende Kriege miterlebt, aber noch nie im eigenen Land.
Schon die ersten Minuten von „Civil War“ des Regisseurs Alex Garland
zeigen: Dieser Film macht keine Gefangenen – so wie seine Figuren. Die USA
befinden sich inmitten eines gewalttätigen Bürgerkriegs.
Die Bundesstaaten Texas, Kalifornien und Florida werden von rebellischen
Sezessionisten, den „Western Forces“, regiert, die auf Washington
vorrücken, um den Präsidenten (Nick Offerman) zu stürzen. Letzterer leugnet
die Eskalation und erklärt in einer wahnhaft patriotischen
Fernsehansprache, seinem Land gehe es gut, das Militär habe alles unter
Kontrolle.
## Ein letztes Interview mit dem Präsidenten
Um zu zeigen, wie infam diese Lüge ist, reist Reporterin Lee mit dem
New-York-Times-Reporter Sammy (Stephen McKinley Henderson) und dem
Reuters-Journalisten Joel (Wagner Moura) sowie der unerfahrenen
College-Absolventin Jessie (Cailee Spaeny) durch den Nordosten der USA
Richtung Hauptstadt. Ihr Ziel: ein – womöglich letztes – Interview mit dem
Präsidenten.
Die Reise durch Pennsylvania, West Virginia und Virginia ist ein
dystopischer Road- oder besser: Horrortrip durch eine kaputte Welt. Sie
begegnen traumatisierten Zivilist*innen, die provisorisch in
Footballstadien leben, und entstellten Leichen, die auf der Straße
verwesen. Sie begleiten Western Forces bei Schießereien, deren Kugeln sie
nur um wenige Zentimeter verfehlen. Sie fahren durch seltsame, scheinbar
friedliche Kleinstädte, deren Einwohner*innen so tun, als sei alles in
Ordnung.
An keiner Stelle des Films wird erklärt, warum der Bürgerkrieg wütet, wer
dafür verantwortlich ist und wer für was eigentlich auf welcher Seite
kämpft. Eines ist eindeutig: Es existieren völlig unterschiedliche
Wirklichkeiten nebeneinander. Während der Präsident Optimismus vorgaukelt,
bringen sich Zivilist*innen gegenseitig für einen Eimer Wasser um,
manche leben auf noch nicht umkämpften Landstrichen, als sei nichts
gewesen.
Dass Garland, der wie für „Ex Machina“ (2014) oder [1][„Auslöschung“
(2018)] auch das Drehbuch schrieb, aus der Perspektive der vier Figuren
erzählt, ist eine geniale Idee. Die Geschichte macht sich die emotionale
Kälte ihrer Figuren zu eigen, die nichts mehr zu schocken scheint. Nicht
die Schmerzensschreie gefolterter Zivilisten, nicht die Kugel, die sich in
das Fleisch des Nebenmanns bohrt.
## Soundtrack als Weichzeichner
Die hartgesottenen Kriegsreporter*innen bieten eine willkommene
Projektionsfläche, mit der die Gewalt und Tragik erträglicher wird.
Besonders wenn Lees zynische Art, fulminant gespielt von einer bei aller
Düsterheit geradezu leuchtend guten Dunst, auf die eskapistische
Gleichgültigkeit des dauerberauschten Joel oder die schlagfertige
Anfängerin Jessie trifft.
Auch der Soundtrack ist ein Weichzeichner der dargestellten Härte. Ähnlich
wie im legendären Kriegsfilm [2][„Apocalpyse Now“ (1979) von Francis
Coppola] werden blutige Szenen manchmal mit energischer Popmusik unterlegt.
Nur dass hier nicht The Doors, sondern Rap von [3][De La Soul] eingeblendet
wird. Manche Sequenzen haben eine morbide Schönheit, etwa wenn gegen Ende
Aufnahmen brennender Landschaften – die an die ausgebrannten Palmen in
Coppolas Film erinnern – von einem heiteren Countrysong unterlegt werden.
Tolle ästhetische Spielereien sind jene Kriegsszenen, in denen Schüsse aus
den Waffen Kameraschüssen folgen, bei denen das Bild stets kurz einfriert.
Das hat einerseits den gruseligen Effekt, das Grauen noch ein bisschen
länger betrachten zu müssen.
Andererseits ließe sich aus der Parallelführung von Kamera und Waffe die
trostlose, womöglich einzige Botschaft des Films schließen: Niemand ist
unschuldig. Menschen erschießen Menschen, Journalisten „erschießen“
Erschossene.
## Ein Film ohne Lehren?
„Civil War“ stellt keine politischen Fragen, sondern pflegt Action und
Voyeurismus. Lee und ihre Kolleg*innen handeln nicht wirklich moralisch.
Sie mögen irgendwie für freie Meinungsäußerung stehen, doch eigentlich geht
es ihnen vor allem um den money shot, die im Fotojournalismus übliche,
spektakuläre Aufnahme, die kommerziellen Erfolg verspricht.
Darf ein Film, der indirekt stets auf die Situation der gespaltenen
US-Gesellschaft schielt, ohne Lehren auskommen? Ja, und zwar nicht, obwohl
dieser Film mit einem Budget von 50 Millionen US-Dollar wohl mehr als 50
Arthouse-Filme kostet, die eine ausgewogene Reflexion über die Gefährdung
von Demokratie durch Fake News, rechte Polemik und binäres Denken liefern
könnten, sondern weil. So ließe sich Brechts Aphorismus für 2024 updaten.
Stell dir vor, es läuft ein Kriegsfilm und niemand weiß, um was es geht,
aber wie.
Vielleicht hat derart immersive Action in einer Zeit, in der vor allem mit
Gefühlen und nicht Argumenten Politik gemacht wird, mehr
Abschreckungspotenzial. Es ist wohl kein Zufall, dass Garland mit „Civil
War“ erstmals keinen Sci-Fi- oder Horrorfilm dreht. Die Realität ist
beängstigend genug. In diesem Sinn geht es nicht um Politik, sondern den
Horror, der in einer Welt jenseits von Politik herrscht.
18 Apr 2024
## LINKS
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## AUTOREN
Philipp Rhensius
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