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# taz.de -- Strafvollzug in Berlin: Berlin lässt Knackis länger sitzen
> Nur jeder zehnte Häftling wird in Berlin nach zwei Dritteln seiner Strafe
> entlassen. In fast keinem anderen Bundesland ist die Quote niedriger.
Bild: Justizvollzugsanstalt Tegel
Berlin taz | Eigentlich hat der Strafvollzug die Wiedereingliederung der
Häftlinge in die Gesellschaft zum Ziel. Es geht darum, diesen Menschen
Chancen zu eröffnen – nicht darum, sie so lange wie möglich wegzusperren.
Doch gerade in dieser Hinsicht ist die Hauptstadt ein schlechtes Vorbild.
Nur gut jeder zehnte Insasse in Berlins Knästen wird nach zwei Dritteln
seiner Haftzeit entlassen. Im Bundesvergleich ist das Land damit fast
Schlusslicht; in Bremen, Hessen und Baden-Württemberg kommt gut jeder
fünfte Häftling vorzeitig frei. Das geht aus der bisher unveröffentlichten
Antwort der Justizverwaltung auf eine Kleine Anfrage des Abgeordneten
Sebastian Schlüsselburg (Linke) hervor, die der taz vorliegt.
Paragraf 57 des Strafgesetzbuches ermöglicht eine vorzeitige Entlassung
nach zwei Dritteln der Strafe, sofern der Strafgefangene mindestens zwei
Monate im Gefängnis gesessen hat, seiner Entlassung zustimmt und diese
„unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit
verantwortet werden kann“. Geprüft und entschieden wird Letzteres im
Einzelfall von der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts, gestützt auf
die Stellungnahme der Haftanstalt.
Diese Chance erhalten in Berlin allerdings nur wenige Häftlinge. Lediglich
11,6 Prozent dürfen das Gefängnis nach zwei Dritteln ihrer Strafe
verlassen. Das sind zwar deutlich mehr als noch 2012: Zu Anfang der
SPD-CDU-Koalition lag die Quote bei 8 Prozent und sank bis 2017 sogar auf
6,8 Prozent. Schon damals landete Berlin damit stets auf dem letzten Platz
der Bundesländer.
## Bremen Spitzenreiter
Unter dem grünen [1][Justizsenator Dirk Behrendt] stieg die Quote ab 2017
kontinuierlich an. Doch im Vergleich der Länder hat sich Berlin nicht
verbessert: Bremen als Spitzenreiter kommt auf einen Wert von 23,4, selbst
lange konservativ regierte Bundesländer wie Hessen (22,2) und
Baden-Württemberg (21,6) liegen weit vor der von einer linken Koalition
geführten Hauptstadt.
Nur Sachsen-Anhalt schneidet mit 9,9 Prozent noch schlechter ab; auch
Sachsen könnte dahinter liegen, konnte aber keine Daten liefern. „Berlin
ist bei den vorzeitigen Haftentlassungen zwar besser geworden“, konstatiert
Schlüsselburg, der der gleichen Partei angehört wie [2][Justizsenatorin
Lena Kreck], „aber im bundesweiten Vergleich immer noch abgeschlagen“.
Zur Verbesserung beigetragen haben dürfte eine Studie des Kriminologischen
Dienstes. Sie untersuchte 2018 und 2019 die Abläufe und mögliche Hemmnisse
bei der vorzeitigen Entlassung. In der Folge, so die Justizverwaltung in
der Antwort auf Schlüsselburgs Anfrage, wurde ein Informationsangebot für
Gefangene zu den Voraussetzungen für eine vorzeitige Entlassung erarbeitet.
Derzeit werde zudem ein Projekt vorbereitet, das die Entscheidungsabläufe
der Strafvollstreckungskammern mit dem Ziel untersuchen soll, „die
Stellungnahmen des Justizvollzugs zur Frage der vorzeitigen Entlassung zu
optimieren“. Damit will die Justizverwaltung die Quote der vorzeitigen
Entlassungen erhöhen.
Dass sich Berlin im bundesweiten Ranking vom letzten auf den vorletzten
Platz gesteigert hat, sei ein schwacher Trost, sagt [3][Olaf Heischel,
Vorsitzender des Berliner Vollzugsbeirats]. Das Gremium ist die
Dachorganisation der Beiräte aller acht Berliner Haftanstalten. Heischel,
seit mehr als 20 Jahren Vorsitzender, kennt sich in der Knastlandschaft aus
wie kaum ein anderer.
Zwei Gründe hat er für die zögerliche Entlassungspraxis ausgemacht. Zum
einen „mangelnder Mut der Haftanstalten“; gerade unlängst sei ihm das von
Mitarbeitern der JVA Tegel bestätigt worden. Und: „eine sehr restriktive
Rechtsprechung“. Jahrzehntelang, sagt Heischel, habe in Berlin die
Ideologie vorgeherrscht, die vorzeitige Entlassung sei „eine Wohltat“, die
sich der einzelne Gefangene verdienen müsse.
## Ein Teufelskreis
Es handele sich um einen Teufelskreis des wechselseitigen Zuschiebens von
Verantwortung zwischen Haftanstalten und Gerichten, sagt Heischel. Jeder
Insasse, der zu mehr als zwei Jahren Haft oder wegen eines „Verbrechens“
verurteilt wird, muss begutachtet werden – und das sei eine hohe Hürde. Ein
Verbrechen sei es zudem schon, wenn drei Leute zusammen Rauschgift verkauft
haben, sagt Heischel: „Das zählt als Bande.“ Er sei froh über die
wissenschaftliche Untersuchung der Rechtsprechung. „Jetzt wird hoffentlich
klar, woran es hängt.“
Auch Schlüsselburg begrüßt die Untersuchung, fordert aber vor allem vom
Bund einen deutlich weitergehenden Schritt. Deutschland solle seinen
Sonderweg überdenken: „Österreich, Belgien, Schweden und Finnland haben
gute Erfahrungen mit der automatischen Zweidrittel-Entlassung außer in
begründeten Ausnahmefällen gemacht.“
Die Ampelkoalition sollte daher Paragraf 57 des Strafgesetzbuches
„dringend überarbeiten“. Laut Gesetz ist sogar eine Entlassung nach
Verbüßung der Hälfte der Haftstrafe möglich. 2021 profitierten davon genau
drei von insgesamt 2.477 Berliner Knackis.
14 Jul 2022
## LINKS
[1] /Reformen-in-Berlins-Knaesten/!5778869
[2] /Berliner-Senatorin-ueber-linke-Justizpolitik/!5828727
[3] /Strafvollzug-in-Berlin/!5829677
## AUTOREN
Plutonia Plarre
Bert Schulz
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