| # taz.de -- Streit um Lehrplan für Oberschulen: Schulreform spaltet Spanien | |
| > Der Bürgerkrieg oder traditionelle Geschlechterrollen sollen in | |
| > spanischen Schulen kritischer beleuchtet werden. Die Konservativen üben | |
| > harsche Kritik. | |
| Bild: Auf die Schüler:innen in Spanien kommt veränderter Lehrstoff zu | |
| Madrid taz | Wenn Mitte September das [1][neue Schuljahr in Spanien] | |
| beginnt, steht für die angehenden Abiturientinnen und Abiturienten eine | |
| ganze Reihe neuer Themen auf dem Lehrplan: der Klimanotstand, der kritische | |
| Blick auf traditionelle Geschlechterrollen oder die Würdigung der Opfer der | |
| Franco-Diktatur. So sieht es der neue Rahmenlehrplan der spanischen | |
| Regierung für die Oberstufe vor, der im April verabschiedet worden ist. In | |
| Spanien kommen 60 Prozent der Lehrinhalte von der Zentralregierung, 40 | |
| Prozent dürfen die Regionalregierungen ausgestalten. | |
| In einer Region jedoch stemmt sich die Regionalregierung mit allen Mitteln | |
| gegen die neuen Inhalte. „Wir werden alle Schulbücher in der Region Madrid | |
| durchschauen und beantragen, dass alle Bücher und alle Texte, die | |
| sektiererisches Material enthalten, aus den Schulen genommen werden“, | |
| kündigte die Präsidentin der Madrider Regionalregierung, Isabel Díaz Ayuso, | |
| an. | |
| Insgesamt identifiziert die Politikerin des konservativen Partido Popular | |
| 30 Konzepte, mit denen die linke Regierung [2][unter Pedro Sánchez] die | |
| Schülerinnen und Schüler im Land „indoktrinieren“ wolle. Entsprechende | |
| Formulierungen würden aus dem Lehrplan gestrichen, verspricht Ayuso. Gegen | |
| die neuen Schulbücher reichte sie im Juni Klage beim Obersten Gericht ein. | |
| Den Schulen in Madrid empfiehlt ihre Regierung, im kommenden Schuljahr die | |
| alten Bücher weiterzuverwenden. | |
| ## Nicht die erste Schulreform, die spaltet | |
| Es ist nicht das erste Mal, dass eine [3][Schulreform in Spanien] das Land | |
| spaltet. Als das spanische Parlament mit den Stimmen der linken Regierungs- | |
| sowie der Regionalparteien Ende 2020 die starke Stellung der Privatschulen | |
| und des Religionsunterrichts beschnitt, sahen Konservative und die | |
| katholische Kirche darin eine Kampfansage. Auch damals kämpfte die | |
| konservative Madrider Regionalregierung an vorderster Front. | |
| Die 43-jährige Ayuso hat im vergangenen Jahr mit der angeblichen | |
| Indoktrinierung an Schulen bereits ihren Wahlkampf bestritten. Seither | |
| macht sie mit dem Thema Stimmung gegen die Zentralregierung. Anfang Juni | |
| erst hat ihre Regierung einen Lehrplan für Kinder bis 6 Jahre vorgestellt, | |
| der ein unliebsames Thema – Entdeckung der Sexualität – einfach gestrichen | |
| hat. Ähnliches plant Ayuso nun auch bei dem neuen Oberstufenlehrplan. Die | |
| Liste ist dieses Mal nur viel länger. | |
| So ist ihr die kritische Beleuchtung der Kolonialgeschichte Spaniens ebenso | |
| unrecht wie die Unterrichtseinheit über das von der Monarchie geschaffene | |
| zentralistische Spanien. Natürlich soll auch von „nationalen und regionalen | |
| Identitäten“ innerhalb Spaniens so wenig wie möglich an der Schule die Rede | |
| sein, von den „demokratischen Errungenschaften“ der in den 1930er Jahren | |
| von den Faschisten unter General Franco weggeputschten Republik am besten | |
| auch nicht. | |
| Ayuso stört auch das „demokratische Gedenken“ – die historische | |
| Aufarbeitung von Bürgerkrieg, Diktatur und dem demokratischen Widerstand | |
| als solches. Der neue Oberstufenlehrplan spricht erstmals in den mehr als | |
| 45 Jahren der spanischen Post-Franco-Demokratie statt von einem „Aufstand“, | |
| „einem Kreuzzug“ oder einer „Revolte“ von einem „Staatsstreich“. | |
| ## Hitzige Debatte | |
| Doch damit nicht genug. Das neue Bildungsgesetz der Zentralregierung | |
| besteht darauf, die Rolle der Frau in Gesellschaft und Wissenschaft | |
| aufzuzeigen. Es geht um soziale Werte wie „Gleichstellung und Toleranz“. In | |
| all diesen Punkten sieht Ayuso und ihre von der rechtsextremen VOX | |
| unterstützte Minderheitsregierung „einen hohen ideologischen Inhalt und ein | |
| offensichtliches Fehlen von zu vermittelnden Kenntnissen“. | |
| Ayuso wirft der Regierung vor, „eine Gesellschaft nach ihrem Bilde“ | |
| schaffen zu wollen. Die Linke wolle „Spanien neu gestalten“ und sprenge | |
| „die Brücken zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“. Die Jugend | |
| werde „instrumentalisiert und das in der gegenwärtigen Krise“. Um genau das | |
| zu verhindern, habe sie die Schulinspektion beauftragt, die Schulbücher | |
| durchzusehen. | |
| José Manuel Bar, Staatssekretär im Bildungsministerium, fühlt sich durch | |
| die von Ayuso geplante Revision der Schulbücher an seine eigene Schulzeit | |
| erinnert. „In der Zeit unter Diktator Franco sorgte die Zensur dafür, dass | |
| Inhalte und soziale Entwicklungen ausgeblendet wurden. Damit schufen sie | |
| ihre Ideologie. Dahin will Ayuso zurück“, sagt er. | |
| Er verteidigt das neue Bildungsgesetz, das das alte aus dem Jahr 2013 – | |
| verabschiedet von den Konservativen – ersetzt. Das neue Gesetz stelle einen | |
| „kulturellen Wandel“ in der Art des Lernens dar. „Es geht nicht nur um | |
| inhaltliche Modernisierung, sondern auch um neue Methodologie“, sagt Bar. | |
| Neben Fähigkeiten wie Gruppenarbeit oder eigenständigem Lernen soll der | |
| Lehrplan „zum kritischen Bewusstsein befähigen“, so Bar. Dies fördere die | |
| Gewissensfreiheit und die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, frei zu | |
| wählen. Was den Rechten in Spanien nach Sektierertum klingt, sei im | |
| restlichen Europa seit Jahrzehnten Ziel der Schule. | |
| ## Vorwurf der Ideologie | |
| Regionalpräsidentin Ayuso würde am liebsten das Gesetz aus dem Jahr 2013 | |
| beibehalten. Damals wurde der Religionsunterricht gestärkt. Regionen mit | |
| eigener Sprache, wie etwa Katalonien und das Baskenland, sollten, so der | |
| damalige Bildungsminister José Ignacio Wert, „hispanisiert“ werden. | |
| Spanisch sollte Hauptunterrichtssprache werden – „bilinguale Schulen“, an | |
| denen fast ausschließlich auf Englisch unterrichtet wird, ausgenommen. Das | |
| Konzept „Verkehrssprache“ taucht im neuen Gesetz nun nicht mehr auf. Die | |
| Rechte fürchtet um „die nationale Einheit“. | |
| Der Vorwurf, das neue Gesetz sei ideologisch belastet und das alte nicht, | |
| zeigt für Staatssekretär Bar, dass „die Madrider Regionalregierung zurück | |
| zu den Werten der dunklen Zeit Spaniens“ will. Es sei völlig legitim, | |
| konservativ zu sein, fügt er hinzu. „Großbritannien hat eine konservative | |
| Regierung, Frankreich gewissermaßen auch. Aber was nicht angeht, ist | |
| rückwärtsgewandte Politik zu machen“, sagt er. Er wirft Ayuso vor, den | |
| politischen Streit zu suchen, statt das zu erfüllen, was das Bildungsgesetz | |
| von ihr verlangt. Nämlich die Rahmenlehrpläne der Zentralregierung um | |
| eigene Inhalte zu ergänzen, anstatt gegen unliebsame vorzugehen. Keine | |
| andere der konservativen Zentralregierungen versucht, den neuen | |
| Oberstufenlehrplan mit juristischen Mitteln zu kippen. | |
| „Unser Recht sieht keine Zensur von Schulbüchern vor. Das ist schlichtweg | |
| gesetzwidrig“, beschwert sich Isabel Galvín, Vorsitzende der größten | |
| Lehrergewerkschaft in Madrid, Federación de Enseñanza de CCOO, und Dozentin | |
| für Didaktik und schulische Organisation an der Madrider Universität | |
| Complutense. Mit ihrer Kritik bewege sich Regionalpräsidentin Ayuso im | |
| ideologischen Umfeld autoritärer Politiker wie Donald Trump oder Viktor | |
| Orbán. „Die Landesregierung stellt das Studium von Gleichberechtigung, | |
| Diskriminierung, Gerechtigkeit, Toleranz und so weiter in Frage“, sagt | |
| Galvín. „Das sind die Werte, die in der Verfassung stehen.“ Der Madrider | |
| Regierungschefin gehe es nicht um pädagogische Logik, schlussfolgert die | |
| Gewerkschafterin, sondern um die „ideologische Vorherrschaft“ in der | |
| spanischen Gesellschaft. | |
| 15 Jul 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Reiner Wandler | |
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