| # taz.de -- Abschaffung von Paragraf 219a: „Ein großartiger Tag“ | |
| > Der Bundestag hat die Abschaffung des Informationsverbots für | |
| > Abtreibungen nach Paragraf 219a beschlossen. Eindrücke aus dem | |
| > Plenarsaal. | |
| Bild: Lange wurde für die Abschaffung von Paragraf 219a gekämpft – nun ist … | |
| Berlin taz | Kristina Hänel sitzt auf der Besuchertribüne des Bundestags | |
| und wischt sich eine Träne von der Wange. Unter ihr im Plenum sind viele | |
| der anwesenden Abgeordneten aufgestanden, haben der Gießener Ärztin den | |
| Blick zugewandt, applaudieren. Kurz zuvor haben die Fraktionen von SPD, | |
| Grünen, FDP und Linken die Abschaffung von Paragraf 219a beschlossen, dem | |
| sogenannten Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche. Es ist der vorläufige | |
| Endpunkt eines Kampfes, dessen [1][Galionsfigur Hänel] in den vergangenen | |
| fünf Jahren war. | |
| „Es ist Zeit für mehr Vertrauen in Ärztinnen und Ärzte, und es ist Zeit f�… | |
| mehr Informationsfreiheit für Frauen“, sagt zu Beginn der Debatte | |
| Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP). Dass Paragraf 219a keineswegs | |
| nur Werbung, sondern vor allem sachliche Information durch Fachleute | |
| verbietet, das hat der Fall Kristina Hänel mehr als deutlich gemacht: Die | |
| Allgemeinmedizinerin wurde 2017 zu einer Geldstrafe verurteilt, weil auf | |
| ihrer Webseite stand, dass und mit welchen Methoden sie | |
| Schwangerschaftsabbrüche durchführt. Seither setzte sie sich für ein Ende | |
| des Informationsverbots ein. | |
| „Im Internet kann jedermann, selbst jeder Troll und jeder | |
| Verschwörungstheoretiker alles mögliche über Schwangerschaftsabbrüche | |
| verbreiten“, sagt Buschmann. „Aber dass wir hochqualifizierten Ärztinnen | |
| und Ärzten bei Kriminalstrafe verbieten, dort sachliche Informationen | |
| bereitzustellen, das ist absurd, das ist aus der Zeit gefallen, das ist | |
| ungerecht und deshalb beenden wir diesen Zustand.“ | |
| Es sei „ein großartiger Tag“, ergänzt Bundesfrauenministerin Lisa Paus | |
| (Grüne). Mit der Abschaffung ende die „jahrzehntelange Stigmatisierung und | |
| Kriminalisierung von Ärzt*innen“. Es sei eben „kein glücklicher Tag“, | |
| widerspricht CSU-Politikerin Dorothee Bär. Union und AfD betonen, das | |
| Bundesverfassungsgericht habe den „Schutz des ungeborenen Lebens“ | |
| vorgegeben – und zu diesem gehöre Paragraf 219a. Es gehe bei der Debatte | |
| „um zwei Menschen: um die Frauen, und um die Kinder“, sagt Bär. | |
| ## Politik kommt Verfassungsbeschwerde zuvor | |
| „Sie werden gleich jubeln, wenn das Gesetz durchgeht“, prognostiziert die | |
| AfD-Politikerin Beatrix von Storch. „Aber vergessen Sie nicht: Sie können | |
| nur jubeln, weil sie leben. 100.000 Kinder in diesem Land, jedes Jahr, | |
| werden niemals jubeln können, weil sie nicht leben.“ In Deutschland finden | |
| jedes Jahr rund 100.000 Schwangerschaftsabbrüche statt, die allermeisten | |
| davon in frühen Stadien der Schwangerschaft. | |
| Hänel zog gegen ihre Verurteilung durch die Instanzen bis zum | |
| Bundesverfassungsgericht. [2][Ihre Verfassungsbeschwerde] und die zweier | |
| weiterer Ärzt*innen sind dort anhängig. Nun ist die Politik einer | |
| Entscheidung zuvorgekommen: Die Parlamentarier*innen beschlossen auch | |
| eine Aufhebung der ergangenen Urteile. Hänel will sich derzeit nicht dazu | |
| äußern, ob sie ihre Verfassungsbeschwerde zurückzieht. | |
| Das Bundesverfassungsgericht könnte auch zum Zug kommen, falls die Union | |
| dort die Abschaffung von Paragraf 219a überprüfen lassen will. Doch | |
| keine*r der Redner*innen an diesem Tag kündigt einen solchen Schritt | |
| an. Immer wieder zollen die Befürworter*innen der Streichung ihren | |
| Respekt gegenüber Kristina Hänel und den Menschen, die an diesem Tag neben | |
| ihr auf der Tribüne sitzen: Weitere verurteilte Ärzt*innen und | |
| feministische Aktivist*innen, die in den vergangenen Jahren den Druck aus | |
| der Zivilgesellschaft auf die Politik aufrechterhalten haben. | |
| Denn eine politische Mehrheit für die Abschaffung von Paragraf 219a hätte | |
| es schon im Jahr 2017 gegeben, nach Hänels erster Verurteilung. Doch dann | |
| trat die SPD in eine weitere Große Koalition ein – und konnte gegen die | |
| Union nichts weiter als eine halbherzige Reform der Rechtslage durchsetzen. | |
| Seither dürfen Ärzt*innen darüber informieren, dass sie Abbrüche | |
| durchführen. Alle weiteren Informationen aber, etwa zur angewandten | |
| Methode, bleiben verboten. | |
| ## Ampel uneins bei Paragraf 218 | |
| Hänel und mehrere ihrer Kolleg*innen wurden aufgrund der neuen | |
| Rechtslage erneut verurteilt. Außerdem führt die Bundesärztekammer nun eine | |
| Liste mit verfügbaren Ärzt*innen. Auf dieser stehen bis heute nur 368 | |
| Ärzt*innen. Das ist gerade mal ein Drittel der ohnehin nur rund 1.100 | |
| Einrichtungen bundesweit. Es gebe ein sich zuspitzendes Problem, | |
| attestieren mehrere Politiker*innen. „Angesichts des drastischen Rückgangs | |
| von über 50 Prozent bei Ärzt*innen, die Abbrüche machen können, müssen wir | |
| die [3][Versorgungssicherheit von Frauen] verbessern“, sagt die Grüne Ulle | |
| Schauws. | |
| Laut Koalitionsvertrag sollen Schwangerschaftsabbrüche künftig kostenfrei | |
| sein und verstärkt Thema der medizinischen Aus- und Weiterbildung werden. | |
| Auch will die Ampel gegen die sogenannte Gehsteigbelästigung vorgehen – | |
| also gegen Abtreibungsgegner*innen, die vor Arztpraxen und Beratungsstellen | |
| stehen, um Beschäftigte und ungewollt Schwangere einzuschüchtern. | |
| In einem Punkt aber, das zeigt die Bundestagsdebatte, sind SPD, Grüne und | |
| FDP sich keineswegs einig. „Ein Schwangerschaftsabbruch gehört nicht ins | |
| Strafgesetzbuch“, sagt Schauws. Andere Redner*innen von SPD und Grünen | |
| sehen das ähnlich. Man müsse im Jahr 2022 auch über Paragraf 218 | |
| Strafgesetzbuch sprechen, bekräftigt Bundesfrauenministerin Lisa Paus. Dort | |
| ist geregelt, dass Abtreibungen in Deutschland grundsätzlich eine Straftat | |
| und nur unter bestimmten Bedingungen straffrei sind. | |
| Die Paragrafen 219a und 218 müsse man strikt trennen, betont hingegen | |
| Bundesjustizminister Marco Buschmann. Keineswegs wolle man Abtreibungen | |
| legalisieren, versichern die Redner*innen der FDP. Und so verwundert es | |
| nicht, dass im Koalitionsvertrag lediglich die Rede ist von einer | |
| Kommission, die Möglichkeiten der Regulierung außerhalb des Strafrechts | |
| „prüfen“ soll. | |
| ## Aus für 219a nur ein erster Schritt | |
| Trotz „aller Genugtuung“, sagt deswegen die Linken-Abgeordnete Heidi | |
| Reichinnek, sei die Abschaffung von Paragraf 219a „nur ein erster Schritt“ | |
| – auch der [4][Paragraf 218] müsse weg. In vielen europäischen Ländern | |
| seien die Abtreibungsgesetze schon längst liberaler. „Und in Deutschland? | |
| Müssen wir dafür kämpfen, dass wenigstens Informationen nicht bestraft | |
| werden.“ Schwangerschaftsabbrüche werde es immer geben. „Die Frage ist: Wie | |
| sicher sind sie, und wie stark ist die Belastung für die Betroffenen?“ | |
| 24 Jun 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Aerztin-ueber-Paragraf-219a/!5862865 | |
| [2] /Verfassungsklage-gegen-Paragraf-219a/!5651443 | |
| [3] /Schwangerschaftsabbrueche-in-Flensburg/!5843236 | |
| [4] /Selbstbestimmt-leben/!5859268 | |
| ## AUTOREN | |
| Dinah Riese | |
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