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# taz.de -- Lisa Paus zur Kindergrundsicherung: „Das ist ein dicker Brocken“
> Seit acht Wochen ist Lisa Paus Familienministerin. Die Grünenpolitikerin
> verspricht Tempo im Kampf gegen Kinderarmut und hofft auf das Ende von
> Paragraf 218.
Bild: Bundesfamilienministerin Lisa Paus im taz-Gespräch
taz: Frau Paus, [1][als Nachfolgerin von Anne Spiegel] sind Sie erst Ende
April ins Kabinett gekommen. Woran merken Sie, dass Sie die Neue sind?
Lisa Paus: Ich kenne zwar noch nicht alle im Ministerium, aber ich verlaufe
mich zumindest hier im Haus nicht mehr. Und in der Kantine kennen sie mich
inzwischen. Ich habe meine erste Kabinettsvorlage durchgebracht und hatte
meinen ersten Auftritt in der Bundespressekonferenz. Es gibt gerade viele
erste Male, und ich habe noch nicht alle hinter mir, aber ich bin hier
schon ganz gut im Stoff.
Dass sich Ihre Kabinettskollegen länger warmlaufen konnten, ist für Sie
aber von Nachteil – aktuell zum Beispiel bei den Haushaltsverhandlungen?
Dass es insgesamt eine Herausforderung ist, den Haushalt für 2023
aufzustellen, ist kein Geheimnis. Ich war aber schon als stellvertretende
Fraktionsvorsitzende für Finanzen zuständig, und Herrn Lindner kannte ich
auch schon. Das schadet nicht – es gibt ja einiges zu tun.
Ums Geld geht es unter anderem bei der Einführung der Kindergrundsicherung
– einem der größten Projekte, an denen Ihr Ministerium beteiligt ist.
Kindergeld, Kinderfreibetrag, Kinderzuschlag und andere Leistungen sollen
darin zusammengefasst werden. Profitieren würden vor allem Kinder aus armen
Familien. Wie läuft die Arbeit?
Wir haben eine Arbeitsgruppe eingerichtet, an der sieben Ministerien
beteiligt sind. Das zeigt schon, wie dick das Brett ist. Wir wollen nach
dem Sommer 2023 einen Gesetzentwurf präsentierten. Auf der Fachebene wird
mit einem entsprechenden Zeitplan an den offenen Fragen gearbeitet. Damit
sich das nicht verläuft, lasse ich mir alle 14 Tage den Stand berichten.
Was sind die größten Brocken?
Da ist einmal die automatisierte Auszahlung. Beim aktuellen Kinderzuschlag
ist die Beantragung höchst bürokratisch. Das führt dazu, dass ihn nur 30
Prozent der Berechtigten in Anspruch nehmen und 70 Prozent der Kinder in
verdeckter Armut leben. Damit die Kindergrundsicherung tatsächlich ankommt,
soll sie automatisch gezahlt und möglichst digital umgesetzt werden. Das
ist ein dicker Brocken.
Und die zweite große Baustelle?
Die Höhe des Garantiebetrags für jedes Kind und den zusätzlichen
einkommensabhängigen Betrag zu definieren. Bei Letzterem liegt die
Federführung im Sozialministerium, das im Moment auch schon die Höhe des
Bürgergelds neu berechnet. Mit Hubertus Heil bin ich dazu im engen
Austausch.
Die Ampel hat bei dem Thema einen „Paradigmenwechsel“ angekündigt. Der
Sofortzuschlag für arme Kinder, mit dem die Regierung die Zeit bis zum Ende
der Reform überbrückt, beträgt aber nur 20 Euro im Monat. Was ist Ihre
Untergrenze für die neue Kindergrundsicherung?
Dazu werden Sie heute von mir nichts hören. Ich will dem Prozess nicht
vorgreifen.
Ein Konzept der Grünen von 2020 sah 290 Euro als Garantiebetrag vor. Müsste
der wegen der Inflation höher sein?
Selbstverständlich muss die Leistung der Lebensrealität gerecht werden. Mit
der Kindergrundsicherung wollen wir Kinderarmut bekämpfen, darum geht es
doch. Der Betrag ist daher nicht in Stein gemeißelt, sondern steht im
Zusammenhang mit dem Existenzminimum und dem Kinderfreibetrag.
Deren Höhe errechnet das Finanzministerium alle zwei Jahre neu.
Im Herbst kommt der nächste Existenzminimumbericht mit den aktuellen
Zahlen. Ich gehe davon aus, dass sich die Inflation darin niederschlägt.
Insgesamt geht es natürlich auch um die Frage, wie wir dieses
Existenzminimum ermitteln: Was bisher einberechnet wird, deckt die
wirklichen Bedarfe nicht ab. Hier müssen wir ansetzen und schauen, wie weit
wir in der Koalition kommen.
So oder so: Umsonst wird es die Kindergrundsicherung nicht geben.
Expert*innen gehen von 20 Milliarden Euro Mehrkosten aus. Könnte das
Projekt angesichts der aktuellen Lage am Geld scheitern?
Das ist das zentrale sozialpolitische Projekt dieser Koalition. Darauf
haben wir uns untereinander verständigt. Auch der Bundeskanzler hat das
gerade noch mal unterstrichen.
Finanzminister Christian Lindner will ab 2023 zurück zur Schuldenbremse
[2][und schließt höhere Steuern aus]. Woher soll das Geld kommen?
Die Kindergrundsicherung ist komplex. Mein Zeitplan ist ehrgeizig, sieht
eine Auszahlung aber frühestens 2025 vor. Aktuell reden wir über den
Haushalt 2023. Nach Corona und der Ukraine wäre es vermessen, heute schon
darüber zu spekulieren, wie genau der Haushalt 2025 aussehen wird.
An anderen Stellen könnte es deutlich früher einen höheren Finanzbedarf
geben, etwa für ein drittes Entlastungspaket, auch für Familien.
Die Belastungen für Familien sind derzeit tatsächlich besonders hoch und
werden noch steigen. Viele Haushalte werden die erhöhten
Heizkostenrechnungen erst noch bekommen. Ich befürchte, dass es gerade für
ärmere Haushalte weitere Entlastungen geben muss.
Womit wir wieder bei Lindner und seinen Grundsätzen wären. Ist die Ampel
für Verteilungsfragen schlecht aufgestellt?
Ich bin zuversichtlich, dass diese Koalition das macht, was notwendig ist.
Ich finde, bisher haben wir gezeigt, dass wir in der Lage sind, auch in
sehr dynamischen Zeiten Lösungen für die Herausforderungen zu schaffen.
Geld benötigen Sie auch für ein weiteres Projekt: Sie wollen Frauen besser
vor Gewalt schützen. Im Koalitionsvertrag ist vereinbart, dass der Bund
künftig Frauenhäuser mitfinanziert. Wie ist der Stand?
Es gibt bereits einen runden Tisch mit Ländern und Kommunen. In meiner
zweiten Woche im Amt konnte ich an der ersten Sitzung des runden Tisches in
dieser Legislatur teilnehmen, im Herbst wird die zweite sein, zu der wir
auch die Frauenverbände einladen. Dann wollen wir konkrete Vorschläge
vorlegen.
Um welche Summen geht es?
Zahlen kann ich hier noch nicht auf den Tisch legen. Aber der Bundestag
berät den Haushalt ab September und beschließt ihn im Dezember. Wenn wir
bis dahin ein Konzept haben, können wir die Mittel einplanen.
In der Istanbul-Konvention hat sich Deutschland dazu verpflichtet,
ausreichend viele Frauenhausplätze zu schaffen. Vorgaben des Europarats
zufolge müssten dafür rund 15.000 neue Plätze geschaffen werden – eine
Verdopplung. Passiert das bis zum Ende der Legislaturperiode?
Corona hat den Bedarf jedenfalls nicht gesenkt und noch mal sehr klar
gezeigt, dass wir derzeit zu wenige Plätze haben. Wie viele Plätze es am
Ende werden, liegt aber nicht alleine in meiner Hand. Zuständig sind
zuallererst die Länder. Über die Mitfinanzierung des Bundes werden wir
gemeinsam mit den Ländern entscheiden.
Im Koalitionsvertrag ist vereinbart, dass Sie die Istanbul-Konvention
wirksam umsetzen.
Als Frauenministerin sehe ich es als meine Aufgabe, die Konvention wirksam
umzusetzen. Aber die Zahl, die Sie genannt haben, ist in der Konvention
nicht klar definiert. Laut der Konvention kommt es darauf an, dass
„geeignete, leicht zugängliche Schutzunterkünfte in ausreichender Zahl“
verfügbar sind, und daran werde ich gemeinsam mit den Bundesländern
arbeiten.
Nächste Woche beschließt der Bundestag voraussichtlich die Abschaffung des
Strafgesetzparagrafen 219a, der Informationen über
Schwangerschaftsabbrüche verbietet. Endlich wieder ein gemeinsames Projekt
– tut das der Ampel gut?
Es ist ein sehr wichtiges Projekt. Und eines, das der Koalition so wichtig
war, dass in der ersten Bundestagsdebatte dazu zwei MinisterInnen
gesprochen haben: Herr Buschmann und ich.
In einem Punkt waren Sie sich allerdings uneins mit dem Justizminister: Er
will am Paragrafen 218 festhalten, der Schwangerschaftsabbrüche
grundsätzlich zur Straftat erklärt. Ihre Position haben wir anders
wahrgenommen.
Die ist ja auch unterschiedlich. Aber: Uns beide eint die
Koalitionsvereinbarung, worin steht, dass wir eine Kommission einsetzen,
die sich um solche Fragen kümmert. Da wird es um das Thema Eizellenspende
und Leihmutterschaft gehen, aber eben auch um den Paragrafen 218 und
reproduktive Rechte insgesamt. Ich hoffe, dass wir es noch vor der
Sommerpause schaffen, die Kommission anzuschieben.
Befürchten Sie nicht, dass der Paragraf 218 in der Kommission nur geparkt
wird und am Ende nichts passiert?
Wir haben bei solchen Themen schon oft erlebt, dass es plötzlich eine
positive Dynamik gibt. Die Federführung bei diesem Paragrafen liegt ja im
Gesundheitsministerium. Es kommt darauf an, die Kommission klug
zusammenzusetzen, uns auf ihren genauen Auftrag zu einigen, sie
arbeitsfähig zu machen und dann arbeiten zu lassen.
Was heißt klug zusammensetzen?
Menschen zu finden, die kompetent sind und uns gute Vorschläge
unterbreiten.
Die Gesellschaftspolitik gilt als Motor der Ampel. Gut scheint der bisher
nicht zu funktionieren.
Mein Ressort ist de facto das Gesellschaftsministerium. Ich bin froh über
die Ampel, weil wir deutlich mehr bewegen können als in anderen
Konstellationen. Mit der Union hätten wir so eine Kommission gar nicht erst
zustande gebracht. Insgesamt bin ich froh, dass mir der Koalitionsvertrag
ermöglicht, Politik wieder auf Augenhöhe mit der gesellschaftlichen
Realität in Deutschland zu bringen.
16 Jun 2022
## LINKS
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## AUTOREN
Tobias Schulze
Patricia Hecht
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Frauenhäuser
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Lisa Paus
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