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# taz.de -- Oberstes Gericht in den USA: Die Anmaßung
> Dass in den USA Roe v. Wade gekippt wurde, zeigt: Der Oberste Gerichtshof
> agiert für eine radikale Minderheit. Abtreibungen sind wohl nur der
> Anfang.
Bild: Radikalisiert durch ergaunerte Richter*innennominierungen: der Oberste Ge…
Ein Begriff macht derzeit in den USA die Runde: minority rule. Unelegant,
wie das Deutsche oft ist, etwa „Herrschaft der Minderheit“. Das beschreibt
tatsächlich recht genau, was der konservativ besetzte Oberste Gerichtshof
in Washington gerade mit den Vereinigten Staaten anstellt.
[1][Die Entscheidung, das fast 50 Jahre alte Abtreibungsurteil Roe v. Wade
zu kippen] und damit allen Frauen in konservativ regierten US-Bundesstaaten
ein Recht zu nehmen, das sie seit 1973 als Grundrecht ansehen konnten, ist
dabei nur die Spitze des Eisbergs: Trotz allen Geschreis der selbst
erklärten „Lebensschützer*innen“ – sprich: des reaktionärsten Flügels…
Republikanischen Partei – zeigen alle seriösen Befragungen seit vielen
Jahren eine konstante Mehrheit für das Recht auf sicheren und legalen
Schwangerschaftsabbruch.
Aber während in vielen traditionell kulturell konservativen Ländern
Lateinamerikas inzwischen dieses Recht erkämpft wurde, wirft die
konservative 6:3-Mehrheit im Supreme Court die USA ein halbes Jahrhundert
zurück. Eine unglaubliche Anmaßung.
## Rechte Talking Points
[2][Donald Trump] hat das Gericht mit seinen ergaunerten
Richter*innennominierungen radikalisiert. Nun verordnet eben dieses
Gericht den USA eine Transformation, die weit über das Recht auf
Schwangerschaftsabbruch hinausgeht. Wenige Tage vor der Rücknahme von Roe
v. Wade – die ja damit begründet wurde, es sei Aufgabe der Bundesstaaten,
über solche Fragen zu entscheiden – hatte der Gerichtshof entschieden, der
Bundesstaat New York dürfe keine Restriktionen beim Waffentragen
auferlegen, das verstoße gegen den Zweiten Verfassungszusatz. Und am
Donnerstag entschieden die Richter*innen auf eine Klage der Kohlelobby,
[3][die Bundesumweltschutzbehörde EPA habe nicht das Recht, nationale
Grenzwerte für Treibhausgasemissionen festzulegen].
Zusammengenommen wird klar: Dieser Gerichtshof folgt keinen
Rechtsgrundsätzen, sondern rechten Talking Points. Die Vorlagen dazu
liefern entweder republikanisch regierte Bundesstaaten oder konservative
Lobbyorganisationen. Wer sich gefragt hat, was eigentlich damit gemeint
war, wenn angesichts der Ernennung der Richter*innen [4][Neil Gorsuch],
[5][Brett Kavanaugh] und [6][Amy Coney Barrett] immer kommentiert wurde,
damit bleibe der Trumpismus über Jahrzehnte an einer Schlüsselstelle der
Macht, bekommt jetzt die Antwort.
Und es ist davon auszugehen, dass auch die Skandalurteile der letzten 14
Tage nur der Anfang waren. Schon jetzt suggerieren einzelne Richter, dass
demnächst etwa auch LGBTQ*-Rechte bedroht sein könnten. Das ist freilich
besonders heikel, weil zum Beispiel auch das Recht auf
gleichgeschlechtliche Ehe in den USA anders als in der Bundesrepublik nicht
durch Parlamentsmehrheit beschlossen, sondern 2015 durch ein Urteil des
damals liberal besetzten Obersten Gerichtshof entschieden wurde.
Das Prinzip der Gültigkeit eines einmal entschiedenen Präzedenzfalls ist
ein Kernstück des anglo-amerikanischen Rechtsverständnisses. Wird es
einfach mal so über den Haufen geworden, wie jetzt bei Roe v. Wade, ist
jede Rechtssicherheit dahin.
## Der demokratische Sauhaufen
All das müsste zumindest eine Welle von Wahlsiegen der Demokrat*innen
etwa bei den midterm elections nach sich ziehen, den Novemberwahlen zur
Halbzeit von Joe Bidens Präsidentschaft. Klare Mehrheiten im Kongress
könnten Bundesgesetze verabschieden und so zum Beispiel das bundesweite
Recht auf Abtreibungsfreiheit endlich gesetzlich verankern – falls der
Supreme Court das zuließe.
Nur: Anders als die Republikaner*innen, die seit Jahrzehnten stur,
skrupellos, auf den radikalsten Teil ihrer Basis fokussiert und durchaus
strategisch schlau ihre Agenda vorantreiben, agieren die Demokrat*innen
im Kongress immer wieder als planloser Sauhaufen. Wer Demokrat*innen
wählt, kann sich nicht darauf verlassen, dass sie umsetzen, was ihren
Wähler*innen wichtig ist, selbst wenn sie die Chance dazu haben. Die
Präsidentschaft Barack Obamas und die Belange der Schwarzen Bevölkerung
waren dafür das beste und enttäuschendste Beispiel.
Und noch ein anderer Aspekt der politischen Debatte über die jüngsten
Supreme-Court-Entscheidungen zeigt, welche Zeitenwende in den USA im Gange
ist. Die linke Senatorin Elizabeth Warren etwa sagt, das Oberste Gericht
sei nunmehr als „illegitim“ anzusehen. Das ist politisch nachvollziehbar,
und sie ist nicht die Einzige, die das meint. Aber war es nicht just Donald
Trump, der stets die Legitimität der Gerichte zu untergraben suchte und der
ohne die Standhaftigkeit diverser Richter*innen womöglich seine
Wahlniederlage vom November 2020 zu einem Sieg hätte erklären lassen? Auch
hier wirkt seine Amtszeit zerstörerisch nach: Wenn jetzt weder Rechte noch
Liberale die Rechtsprechung für legitim halten, also die Rechtmäßigkeit
einer der drei Staatsgewalten in der öffentlichen Wahrnehmung massiv
beschädigt ist, dann ist es um Demokratie und Rechtsstaat nicht mehr gut
bestellt.
Genau diese Legitimität aber wäre nötig, um die US-Institutionalität vor
der weiteren Zerstörung durch die zum Trumpkultverein transformierte
Republikanische Partei zu bewahren. Wenn etwa die derzeit laufenden
Anhörungen zu Trumps Rolle bei der Stürmung des Kapitols am 6. Januar 2021
tatsächlich zur strafrechtlichen Verfolgung des Ex-Präsidenten führen
sollten, bräuchte es die allgemeine Anerkennung einer unabhängigen Justiz.
Von Trump und seinen Anhänger*innen ist das nicht zu erwarten: Sie
werden immer von einer „politisch motivierten Hexenjagd“ sprechen. Können
aber die Demokrat*innen politisch den einen Gerichtshof als illegitim
begreifen, den anderen aber als objektive Rechtsinstanz?
Die massiven Fehler und Schwachstellen der US-Demokratie sind seit Jahren
bekannt. Ein Senat, in dem die 760.000 Einwohner*innen von North Dakota
exakt dasselbe Gewicht von zwei Stimmen haben wie die fast 40 Millionen
Einwohner*innen von Kalifornien, ist zwar historisch erklärbar, führt
aber keine Entscheidungen herbei, die Mehrheiten repräsentieren.
Gerrymandering, also der beliebige Neuzuschnitt von Wahlkreisen, verzerrt
die Mehrheiten im Repräsentantenhaus und den Staatsparlamenten. Der
ungeregelte Einfluss von Lobbyist*innen auf Wahlkämpfe und Gesetzgebung
tut ein Übriges.
Ein Oberster Gerichtshof, der im Sinne der radikalen Agenda einer
Minderheit agiert, könnte der letzte Sargnagel für das ohnehin
angeschlagenes US-System sein.
2 Jul 2022
## LINKS
[1] /US-Gericht-zu-Schwangerschaftsabbruechen/!5863360
[2] /Schwerpunkt-USA-unter-Trump/!t5079612
[3] /Klimakrise-in-den-USA/!5864870
[4] /Juraprofessorin-ueber-Neil-Gorsuch/!5395876
[5] /Nach-Benennung-von-Brett-Kavanaugh/!5538215
[6] /Proteste-wegen-Richterin-Barrett/!5721720
## AUTOREN
Bernd Pickert
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