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# taz.de -- Transgenderathletinnen im Spitzensport: Wie Backsteine in einer Wand
> Die Diskussion um Teilhabe von Transgendersportlerinnen spitzt sich zu.
> Der Schwimmverband hat die Regeln verschärft. Zu Recht?
Bild: Beargwöhnte Athletin: Transgenderschwimmerin Lia Thomas
Seit Jahrhunderten denkt der Mensch recht angestrengt über die Geschlechter
nach. In der Antike gab es zum Beispiel den Mythos von den flinken
Kugelmenschen. Die hatten vier Arme und vier Beine, waren entweder rein
männlich, rein weiblich oder gemischt geschlechtlich. Göttervater Zeus
wurden die Kugelmenschen nun aber zu mächtig. Er ließ sie entzwei
schneiden, und so entstand nach dieser Saga das jeweilige Begehren, also
die heterosexuelle Attraktion und die homosexuelle. Man wollte wieder
vereint sein, ein Ganzes.
Heute geht es gefühlt noch turbulenter (sehnsuchtsvoller?) zu. Die
Anschauungen über Geschlechter sind weit vielfältiger, mitunter nicht
weniger mythologisch, und der Streit entfacht sich jedes Mal an der Frage,
wie sehr der Körper mit seinen Säften, Hormonen und Aminosäuren Denken und
Handeln bestimmt – oder ob wir uns erheben können über diese Determinanten:
Sind wir frei darin, uns zu etwas zu machen, was wir gern sein wollen? Kann
der Mensch nicht nur ein 800 Meter hohes Haus konstruieren, sondern auch
sein Geschlecht? Geht das per Sprechakt oder muss doch ein Eingriff in der
Körper her, um den Wandel zu manifestieren? Sind wir mächtiger als unsere
Keimdrüsen?
Die Diskussion hat den Leistungssport längst erreicht. Die Debatten werden
hart, nicht selten unerbittlich geführt, und selbst die queere Szene ist
zerstritten, wie der Fortschritt zu interpretieren sei. Galt es als
durchaus schick, die Wettkämpfe von [1][intersexuellen Leichtathletinnen],
Caster Semenya oder Francine Niyonsaba, über die Mittelstrecke als
emanzipativen Akt zu feiern, so ist der Umgang mit Transgenderathletinnen
schon nicht mehr so eindeutig: Machen sie den Frauensport kaputt? Dringen
sie gar in schützenswerte Bereiche ein? Lässt sich das alte binäre System
des Leistungssports überhaupt erhalten?
Im Netz kursieren immer wieder Bilder von Transgenderathletinnen, die mit
maskuliner Aura die Podien besteigen und Frauen mit der Konstitution von
Frauen auf die Plätze verweisen: Die US-Schwimmerin Lia Thomas ist das
meist genannte Exempel, ein anderes [2][die Gewichtheberin Laurel Hubbard],
die es sogar bis Olympia zu den Sommerspielen schaffte. Intersexuelle
Sportlerinnen gibt es relativ selten, in der Szene der
Transgenderathletinnen sieht das schon anders aus: Immer mehr
Sportlerinnen, die von Mann zu Frau switchen, erscheinen auf der Bühne des
Leistungssports und verlangen Teilhabe. Der Trend ist ungebrochen; 2017
identifizierte sich in den USA ein Mensch von 250 als trans*, ein Jahrzehnt
vorher war es noch die Hälfte. Die Sportfunktionäre sind zum Handeln
gezwungen.
## Offene Wettkampfkategorie?
Und so sieht das dann aus: Der internationale Schwimmverband Fina hat die
Teilhabe von Transgenderathletinnen in dieser Woche erheblich erschwert.
Sie dürfen nur noch bei Frauenwettbewerben mitmachen, wenn sie ihre
Geschlechtsanpassung bis zum Alter von 12 Jahren abgeschlossen haben. Die
Fina hat überdies eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, die an einer
sogenannten „offenen“ Wettkampfkategorie arbeiten soll.
71,5 Prozent der Schwimmfunktionäre stimmte fürs neue Regelwerk. Die
Fina-Entscheidung, die sich gegen den Zeitgeist zu stemmen scheint, löste
eine Welle der Betriebsamkeit in den Sportverbänden aus. Offenbar wurde von
den Schwimmern eine Tür aufgestoßen, durch die der organisierte Sport
marschieren will. Die Leichtathleten wollen ihre Regeln überprüfen und „der
Wissenschaft folgen“, was immer das auch heißen mag.
Der internationale Rugby-Verband verkündete, er schließe
Transgenderathletinnen von Frauenwettkämpfen aus. Der Weltfußballverband
Fifa möchte evaluieren. Und so geht es wohl munter weiter, was nicht
verwunderlich ist, denn das Internationale Olympische Komitee
verabschiedete kürzlich einen Leitfaden für den Umgang mit
Transgenderathletinnen, der zwar gut gemeint, aber nicht praktikabel ist in
einer binären Struktur.
[3][Caitlyn Jenner], die 1976 als Bruce Jenner Olympiagold im Zehnkampf
gewann und 2015 bekannt gab, transsexuell zu sein, begrüßte die
Entscheidung der Schwimmer: „Was fair ist, ist fair. Wenn man durch eine
männliche Pubertät geht, sollte man nicht die Möglichkeit bekommen, den
Frauen Medaillen wegzunehmen“, schrieb Jenner bei Twitter. Die neue
Regelung baue großen Druck auf junge trans* Mädchen auf, sagte wiederum
Kalle Hümpfner, zuständig für die gesellschaftspolitische Arbeit im
Bundesverband Trans* (BVT*), dem Berliner Tagesspiegel: „Sie müssen schon
früh Entscheidungen treffen, wenn sie in den professionellen Leistungssport
einsteigen möchten.“
## T wie Testosteron
De facto ist es so, dass Transitionen, wenn überhaupt, erst in der
Pubertät vorgenommen werden, nicht aber im Alter von 9 oder 10. Freudiger
reagierte der BVT* auf eine Meldung vom Donnerstag: Der Deutsche
Fußball-Bund möchte es Transgenderkickern im Amateurbereich selbst
überlassen, wo sie mitspielen: bei Männlein oder Weiblein.
Haben Transgenderfrauen nun einen Vorteil, selbst wenn sie eine
Hormontherapie hinter sich haben und ihr Testosteronlevel im Blut nicht
mehr so hoch wie früher ist? Den besten Überblick über die vermännlichende
Wirkung des Hormons Testosteron, ein Schlüsselfaktor, liefert die
US-amerikanische Evolutionsbiologin Carole Hooven, deren [4][Buch „T wie
Testosterone. Alles über das Hormon, das uns beherrscht, trennt und
verbindet“] jetzt auch auf Deutsch im Ullstein-Verlag erschienen ist. Die
Autorin, die sich um Ausgleich und Differenzierung bemüht, sagt
unmissverständlich: „Testosteron lenkt Psychologie und Verhalten der
Geschlechter in mehrfacher Hinsicht in unterschiedliche Richtungen.“
Sie hat erkennbar Spaß an unvoreingenommener Forschung und
Wissensvermittlung. Das könne manchmal unangenehm und verstörend sein, sie
habe auch immer wieder Angriffe der Gegenseite ertragen müssen, aber das
hält sie offensichtlich nicht ab, Körper und Geist als Einheit zu denken
und einem bei Progressiven verpönten „Biologismus“ zu frönen.
Die konstituierenden und mächtigen Einflüsse des Testosterons auf den
Körper versucht Hooven mit einem Vergleich zu verdeutlichen; diese
Formungen durch Testosteron ließen sich auch nicht im Nachhinein durch die
Gabe hoher Dosen Östrogen tilgen: Man solle sich also den Bau des Körpers
wie den Bau eines Steinhauses vorstellen. Das Testosteron schafft feste
Strukturen, so fest wie eine Wand aus Backsteinen. Das betrifft vor allem
das Skelettsystem, die langen Knochen und den Muskelaufbau.
Das Testosteron ist aber auch Raumausstatter und Dachdecker. Es sorgt für
das Fundament und die Kosmetik. „Die Kraft von Testosteron ist schier
unglaublich“, schreibt Hooven. Das Hormon verändere alles: „Es verändert
die Art, wie Gene in Chromosomen zur Entfaltung kommen – Proteine von
Tausenden von Genen werden bei Männern und Frauen systematisch in
unterschiedlichen Mustern und Quantitäten produziert. Diese Proteine
beeinflussen den Körper und das Gehirn, zuerst im Uterus, kurz nach der
Geburt, und dann kommt es wieder zu einer Explosion der Veränderungen
während der Pubertät.“
Kurzum: Testosteron schafft Fakten, die sich nicht leugnen und auch nicht
wegredigieren lassen mit Willensakten, auch nicht mit medikamentösen
Interventionen. Hoovers Buch ist auch dies: eine Liebeserklärung an das
Körperliche, das Wunder der Menschwerdung in der Ontogenese.
Der ehemalige Ruderer und Sportmediziner Jürgen Steinacker, Professor in
Ulm, kennt das Buch. Und mit der Komplexität des Themas weiß er gleichfalls
umzugehen. Der taz sagt er: „Es kann auch kein 20-Jähriger bei 14-Jährigen
mitmachen. Es gibt schützenswerte Rechte der Frauen im Leistungssport, da
müssen klare Regeln her.“ Transgendersportler bräuchten selbstverständlich
Unterstützung und Beratung bei Problemen und Selbstfindung – und keinen
Druck, findet Steinacker, der auch den Ruderverband berät und sich als
einer der wenigen Wissenschaftler zu diesen Themen äußert. Doch beides wird
jeweils kaum in Einklang zu bringen sein: Inklusion und Fairness,
Selbstbestimmung und Frauenrechte.
Es gibt wie bei den Kugelmenschen eine Sehnsucht nach Vereinigung,
Vereinbarkeit. Am Ende aber bleibt eine Differenz, die es auszuhalten gilt.
28 Jun 2022
## LINKS
[1] /Testosteron-Trouble-bei-Olympia/!5787602
[2] /Revolution-bei-Olympischen-Spielen/!5775482
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Caitlyn_Jenner
[4] https://www.ullstein-buchverlage.de/nc/buch/details/t-wie-testosteron-97838…
## AUTOREN
Markus Völker
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