# taz.de -- Ex-Kanzlerin gesteht kaum Fehler ein: Wohlfühltermin für Merkel | |
> Nach langem Schweigen erklärt sich die Ex-Kanzlerin – auch zu ihrer | |
> Russlandpolitik. Das ist interessant, aber frei von Selbstkritik. | |
Bild: Kaum Selbstkritik: Angela Merkel am Dienstagabend im Berliner Ensemble | |
BERLIN taz | Am Ende sitzt Angela Merkel an einem kleinen Tisch im großen | |
Salon des Berliner Ensembles, des traditionsreichen Theaters im Ostteil | |
Berlins, und signiert Bücher. „Also falls jemand Lust hat, ich sitze da | |
noch“, so hatte die Bundeskanzlerin a. D. es am Ende ihres Gesprächs mit | |
dem Spiegel-Journalisten Alexander Osang angekündigt. | |
In den Salon darf nur, wer das schmale Büchlein dabei hat, in dem der | |
Aufbau Verlag gerade drei Reden Merkels veröffentlicht hat. Jene, die | |
Merkel zum Festakt am Tag der deutschen Einheit im vergangenen Jahr | |
gehalten hat, gibt dem Gespräch am Dienstagabend seinen Titel: „Was also | |
ist mein Land?“ Das Buch ist der Anlass zur Veranstaltung, die Schlange vor | |
der Tür des großen Salons ist schnell lang. | |
Doch für Merkel erfüllt der Abend natürlich eine andere Funktion. Die | |
ehemalige Kanzlerin kann sich und ihr Handeln erklären – und damit der | |
Debatte ihre Sicht der Dinge hinzufügen. Denn es geht ja um nicht weniger | |
als die Deutung ihrer Kanzlerschaft. Und um die Frage: Hat sie im Umgang | |
mit Russland und der Ukraine Fehler gemacht? Hätte sie anders handeln | |
müssen? Und hätte das möglicherweise den russischen Angriffskrieg in der | |
Ukraine verhindern können? | |
Ein halbes Jahr lang, seitdem Merkel das Kanzleramt an Olaf Scholz | |
übergeben hat, [1][hat sie sich öffentlich nicht geäußert], obwohl sich die | |
Weltlage dramatisch verändert hat und nicht nur der ukrainische Botschafter | |
Andrij Melnyk ihr eine Mitverantwortung an der Entwicklung zuschreibt. Es | |
ist die erste öffentliche Veranstaltung seitdem, die Veranstaltung ist | |
ausverkauft, der Saal proppenvoll. Phoenix überträgt live. | |
## Harmlose Gespräche über die Ostsee | |
Doch als Merkel und Osang dann in den zwei großen grauen Sesseln vor der | |
dunkelroten Wand sitzen, die gut zum barocken Plüschambiente im Theatersaal | |
passt, aber weniger zu der doch meist nüchtern auftretenden Merkel in ihrem | |
knallblauen Blazer, fragt der Spiegel-Autor erst einmal, wie es ihr gehe. | |
„Heute geht es mir persönlich sehr gut“, sagt die ehemalige Kanzlerin. | |
Die beiden sprechen über die Ostsee, wo sie sich auskennt und die Leute so | |
schön schweigsam sind, über fehlende Bewegung und Hörbücher, die Merkel für | |
sich entdeckt hat. Sie berichtet von ihrem Vertrauen in die neue Regierung | |
und ihrer Lektüre von Macbeth. | |
Das ist alles sympathisch, unterhaltsam und munter – Osang, Ostdeutscher | |
wie die Ex-Kanzlerin, liefert ihr Vorlagen, bei denen sie ihren feinen Witz | |
in Kurzpointen gut ausspielen kann. Wenn sie lese, so Merkel etwa, sie | |
mache jetzt nur noch Wohlfühltermine: „Da sage ich – ja.“ Da lacht der S… | |
und klatscht, die Sympathien scheinen hier mehrheitlich ohnehin auf Merkels | |
Seite zu sein. | |
Doch das Problem: Auch im zweiten Teil, als es dann um Russland, den Krieg | |
in der Ukraine und ihre Politik als Kanzlerin geht, bleibt das insgesamt | |
anderthalbstündige Gespräch für Merkel ein Wohlfühltermin. Auf Selbstkritik | |
oder zumindest das öffentliche Hinterfragen alter Positionen wartet man | |
trotz der dramatischen Lage in der Ukraine vergeblich, auf kritisches | |
Nachhaken Osangs auch. „Also ich sehe nicht, dass ich da jetzt sagen | |
müsste: Das war falsch, und werde mich deshalb auch nicht entschuldigen“, | |
sagt die Ex-Kanzlerin. Da geht sogar [2][Bundespräsident Frank-Walter | |
Steinmeier selbstkritischer mit sich um.] | |
## Vier Fragen von Melnyk | |
Merkels Urteil über den Krieg aber ist klar: „Das ist ein brutaler, das | |
Völkerrecht missachtender Überfall, für den es keine Entschuldigung gibt.“ | |
Verständnis für den russischen Präsidenten Wladimir Putin hat sie nicht. | |
Lange sei ihr klar gewesen, wie dieser tickt. Schon 2007 in Sotschi, „bei | |
dem berühmten Besuch mit dem Hund“, habe er ihr gesagt, dass der Zerfall | |
der Sowjetunion für ihn die schlimmste Entwicklung des 20. Jahrhunderts | |
gewesen sei. „Für mich war das der Glücksumstand meines Lebens“, habe sie | |
geantwortet. Dieser Dissens habe sich fortgesetzt, der Kalte Krieg sei | |
letztlich nicht beendet worden. Es sei auch nicht gelungen, eine | |
Sicherheitsarchitektur zu schaffen, um den Krieg in der Ukraine zu | |
verhindern – was „keine Rechtfertigung“ sein solle. | |
Sie sei „nicht blauäugig oder so“ gewesen, sagt die ehemalige Kanzlerin | |
über sich selbst. „Putins Hass, Putins – ja, man muss sagen – Feindschaft | |
geht gegen das westliche demokratische Modell“, das habe sie klar gesehen. | |
Und sie habe gewarnt: „Ihr wisst, dass er Europa zerstören will. Er will | |
die Europäische Union zerstören, weil er sie als Vorstufe zur Nato sieht.“ | |
Nur warum sie trotzdem all die Jahre auf Verständigung mit Putin setzte, | |
diesen Widerspruch löst Merkel nicht auf. Trotz all dieser destruktiven | |
Kraft, die ihr nach eigenen Angaben glasklar gewesen sei, verteidigt sie | |
entschlossen ihre Politik. Etwa dass sie sich 2008 gegen eine | |
Nato-Beitrittsperspektive für die Ukraine und Georgien stark gemacht hat. | |
Sie sei sicher gewesen, dass Putin den Beschluss des Membership Action | |
Plans für die beiden Länder nicht einfach hingenommen hätte. „Ich wollte | |
das nicht weiter provozieren.“ Andernfalls hätte Putin schon damals einen | |
„Riesenschaden in der Ukraine anrichten können“, so aber habe das Land Zeit | |
gewonnen. Die Ukraine sei damals demokratisch instabil und „von Oligarchen | |
beherrscht“ gewesen. | |
Der ukrainische Botschafter hatte Osang, wie dieser berichtet, vier Fragen | |
an Merkel geschickt. Die Frage nach der Mitschuld ihrer | |
„Appeasementpolitik“ am Krieg, wie Melnyk es nennt, gibt Osang jetzt weiter | |
an die ehemalige Kanzlerin. „Das ist nicht meine Meinung“, antwortet sie | |
knapp. Sie betont lieber, dass sie ausreichend versucht habe, eine | |
Eskalation mit Russland zu verhindern. „Ich bin froh, dass ich mir nicht | |
vorwerfen muss, zu wenig versucht zu haben.“ Diplomatie sei ja nicht | |
falsch, wenn sie nicht gelinge. | |
Eine Zäsur sei die Annexion der Krim 2014 gewesen, so die ehemalige | |
Kanzlerin. Ihrer Meinung nach hätten die Sanktionen härter sein können. | |
Dass die Bundesregierung danach trotzdem weiter an dem Bau der Gaspipeline | |
Nord Stream 2 festhielt, dazu sagt Merkel nichts – und dazu wird sie auch | |
nicht kritisch befragt. Stattdessen kann sie ihren Ärger kundtun, dass die | |
US-Regierung deutsche Unternehmen wegen des Pipelinebaus sanktioniert | |
hätte. | |
Die Abhängigkeit von billigem, russischem Öl und Gas und seine Bedeutung | |
für die deutsche Wirtschaft? Sind an diesem Abend kein Thema. Nicht nur an | |
dieser Stelle hätte man sich einen kritischeren und klareren, dazu weniger | |
eitlen Frager gewünscht. Aber dann wäre es ja keine Wohlfühlveranstaltung | |
mehr gewesen. | |
Aktualisiert am 08.06.2022 um 15:30 Uhr. d. R. | |
8 Jun 2022 | |
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## AUTOREN | |
Sabine am Orde | |
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