# taz.de -- Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken: Und täglich grüßt das… | |
> Viele Politiker*innen versuchen gerade, sich mit der Forderung zu | |
> profilieren. Die Debatte über längere Atomlaufzeiten ist | |
> Zeitverschwendung. | |
Bild: Bill Murray in „Groundhog Day“ von 1993. Damals noch nicht dabei: Mar… | |
In letzter Zeit fühle ich mich häufig wie Bill Murray im Film über den | |
Murmeltiertag: Man wacht auf und erlebt immer wieder das Gleiche. Jeden Tag | |
findet sich derzeit ein Politiker oder eine Wissenschaftlerin, die mal | |
wieder den originellen Vorschlag macht, wegen des [1][drohenden | |
Erdgasmangels] die verbliebenen drei deutschen Atomkraftwerke nicht wie | |
geplant am Jahresende abzuschalten, sondern länger laufen zu lassen. Und | |
jeden Tag finden sich Zeitungen und Nachrichtensendungen, die ausführlich | |
darüber berichten. | |
Leider ist die Aufmerksamkeit, die dieses Thema bekommt, umgekehrt | |
proportional zu seiner wirklichen Bedeutung. Denn faktisch vorstellbar ist | |
allenfalls, die Leistung der AKWs in diesem Sommer etwas zu drosseln, um | |
sie dann im kommenden Winter einige Monate länger laufen zu lassen – was | |
aber kaum etwas nützt, weil die Gesamtmenge des Stroms dabei nicht mehr | |
wird. | |
Die Laufzeiten stattdessen gleich um mehrere Jahre zu verlängern, wie es | |
zuletzt CSU-Chef Markus Söder, FDP-Chef Christian Lindner oder [2][die | |
Wissenschaftlerin Veronika Grimm] gefordert haben, ist kurzfristig schlicht | |
nicht machbar: Die Beschaffung neuer Brennelemente braucht einen Vorlauf | |
von mindestens eineinhalb Jahren, weil sie für jedes Kraftwerk individuell | |
angefertigt werden müssen. Dazu kommen die bekannten Probleme mit den | |
Sicherheitsüberprüfungen, auf die zuletzt wegen der anstehenden Stilllegung | |
verzichtet wurde, und die Schwierigkeit, dass es nicht mehr genug | |
qualifiziertes Personal für den sicheren AKW-Betrieb gibt. Diese Argumente | |
kommen übrigens nicht nur aus dem Umwelt- und dem Wirtschaftsministerium, | |
sondern auch von den Betreibern selbst. | |
## Keine Hilfe im Gaskrieg | |
Dazu kommt: Selbst wenn es möglich wäre, die AKWs länger laufen zu lassen, | |
würde es in der aktuellen Gaskrise wenig nützen. Denn für die | |
Stromversorgung spielt Erdgas in Deutschland keine große Rolle: Nur 11 | |
Prozent des in Deutschland genutzten Gases landen in Stromkraftwerken. Und | |
diese können ganz überwiegend auch nicht durch AKWs ersetzt werden, weil | |
die Atomreaktoren anders als Gaskraftwerke nicht flexibel hoch- und | |
runtergefahren werden können und auch keine Fernwärme produzieren. | |
Das alles ist lange bekannt, neue Argumente werden in der aktuellen Debatte | |
nicht vorgebracht. Und vermutlich wissen auch jene, die diese Fakten | |
ignorieren, dass ihre Forderung nach längeren AKW-Laufzeiten keine Chance | |
auf Umsetzung hat. Dass sie sie trotzdem erheben, dürfte rein politisch | |
motiviert sein: Man setzt darauf, dass Medien trotzdem ausführlich | |
berichten und Wähler*innen den Eindruck bekommen, Atomkraft sei eine | |
reale Alternative. Wenn die Energiepreise dann, wie allgemein erwartet | |
wird, weiter steigen, können Söder und Co behaupten, dass das nicht | |
passiert wäre, wenn man nur auf sie gehört hätte – und damit vermutlich | |
sogar politisch punkten. | |
Doch die realitätsferne Atomkraftdiskussion täuscht nicht nur die | |
Öffentlichkeit. Sie lenkt auch von jenen Maßnahmen ab, die wirklich gegen | |
die Gaskrise helfen würden. Mehr als ein Drittel des Erdgases wird in | |
Deutschland für Industrieprozesse verbraucht, weitere 30 Prozent zum Heizen | |
von Wohnungen. Dort muss mit Hochdruck an Einsparungen und Alternativen | |
gearbeitet werden. | |
Doch interessanterweise gibt es eine große Überschneidung zwischen | |
denjenigen, die jetzt nach längeren Atomlaufzeiten rufen, und jenen, die in | |
der Vergangenheit den Umstieg auf Alternativen blockiert haben: Markus | |
Söder verhindert mit unpraktikablen Abstandsregeln seit Jahren den Ausbau | |
der Windenergie in Bayern, Christian Lindner hat erfolgreich durchgesetzt, | |
dass auch im nächsten Jahr noch neue Gasheizungen in Deutschland verbaut | |
werden dürfen. | |
Bill Murray ist der ewigen Wiederholung des Murmeltiertags erst entkommen, | |
als er zu einem besseren, selbstlosen Menschen wurde. Dass sich eine solche | |
Entwicklung auch in der deutschen Politik durchsetzt und Union und FDP von | |
sich aus darauf verzichten, aus dem Thema politisches Kapital zu schlagen, | |
ist derzeit leider nicht absehbar. Obwohl sie reine Zeitverschwendung ist, | |
wird die Atomdebatte darum vermutlich erst enden, wenn die Betreiber die | |
Reaktoren am Jahresende tatsächlich abgeschaltet haben. | |
Aktualisierung am 24.06.2022, 16 Uhr: | |
Nach Erscheinen dieses Textes hat das Bayerische Umweltministerium am | |
Freitag ein TÜV-Gutachten veröffentlicht, aus dem hervorgeht, dass die | |
Brennelemente im AKW Isar 2 (im Gegensatz zu den anderen AKWs) Ende des | |
Jahres noch nicht komplett abgebrannt sind. Demnach könnte es auch ohne | |
vorherige Leistungsreduzierung einige Monate länger betrieben werden, so | |
dass – anders als im Kommentar auf Grundlage der bis dahin bekannten | |
Informationen dargestellt – nicht nur Strom zeitlich verschoben, sondern | |
zusätzlicher Strom produziert würde. Zumindest bei diesem einen AKW hätte | |
eine Laufzeitverlängerung um wenige Monate damit einen gewissen Nutzen; ob | |
er den Aufwand und das Risiko wert ist, bleibt aber fraglich. Für die | |
übrigen AKWs und die längerfristige Perspektive ändert sich nichts. | |
22 Jun 2022 | |
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## AUTOREN | |
Malte Kreutzfeldt | |
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