# taz.de -- Mehringplatz und „Pfad der Visionäre“: Andere Probleme als sch… | |
> In einem der ärmsten Kieze Berlins wird der Abschluss jahrelanger | |
> Bauarbeiten gefeiert. Den Leuten hier nütze das wenig, sagen die Menschen | |
> vor Ort. | |
Bild: Die Bauarbeiten am Mehringplatz sind inzwischen abgeschlossen, zu tun gib… | |
BERLIN taz | Lautes, rhythmisches Trommeln schallt am Samstagnachmittag | |
durch die südliche Friedrichstadt in Kreuzberg. Die Fertigstellung der | |
Bauarbeiten am Mehringplatz und die des Pfads der Visionäre werden groß | |
gefeiert. Hunderte Menschen sind gekommen. Es gibt sudanesische Falafel, | |
Capoeira und Klettern für Kinder sowie zahlreiche Infostände: die taz ist | |
dabei, die Omas gegen Rechts, die Galilei-Grundschule und viele mehr. Die | |
Stimmung scheint fröhlich, gelassen, neugierig. Plötzlich tönt es durch | |
große Lautsprecher von der Bühne: „Folgen Sie Europa!“ „Europa“ ist, … | |
und jetzt, bei der Eröffnungszeremonie des Pfads der Visionäre, ein Mensch | |
auf hohen Stelzen, im blau-goldenen, engelsartigen Kostüm. | |
Der Pfad der Visionäre ist [1][ein Kunstprojekt am Anfang der | |
Friedrichstraße], beginnend nur einige Meter hinter dem Ausgang des | |
U-Bahnhofs Hallesches Tor. Auf 27 etwa einen Quadratmeter großen | |
Steinplatten sind 27 Zitate von bekannten Persönlichkeiten aller | |
EU-Mitgliedstaaten verfasst. Sie sollen „tägliche Erinnerung an Werte, | |
Kulturen und Freiheiten, die wir leben“ sein, sagt Bonger Voges vom | |
Kunstwelt e. V., der maßgeblich an der Planung und Umsetzung beteiligt war. | |
„Europa“, so wirkt es, soll nicht nur hier auf Stelzen bei der | |
Eröffnungszeremonie voranschreiten. „Europäische Werte“ sollen offenbar | |
auch Haltungs- und Handlungsleitend für die Menschen hier sein – laut Voges | |
für „Identifikation“ sorgen. | |
Die Ideen dazu sind nicht neu und die Platten auch schon in der dritten | |
Auflage. Sie wurden in den vergangenen Jahren aus unterschiedlichen Gründen | |
mehrfach umgestaltet und waren so fester Bestandteil der mehr als | |
zehnjährigen Dauerbaustelle am Mehringplatz. Auch der U-Bahnhof Hallesches | |
Tor wurde in diesem Zuge saniert. Am Tag der Feier sind die Arbeiten nun | |
weitestgehend abgeschlossen. Nur das Gras rings um die Friedenssäule, | |
inmitten des Mehringplatzes, muss noch anwachsen. | |
Wie schnell das Gras auch über die für Anwohner*innen [2][besonders | |
leidvolle Baustellenzeit] wächst, bleibt abzuwarten. Besonders ungewiss und | |
auch streitbar ist jedoch, ob die umfangreichen baulichen Umgestaltungen | |
tatsächlich den Menschen nützen, die hier leben. | |
## Kinderarmut und Sanierungsstau im Sozialen | |
Der Mehringplatz und die südliche Friedrichstadt zählen zu den ärmsten | |
Kiezen Berlins. Kinderarmut ist besonders verbreitet, genau wie beengte | |
Wohnverhältnisse und Sanierungsstau in den angrenzenden Schulen und | |
sozialen Einrichtungen. Dass ein Appell an „europäische Werte“ diese | |
Probleme lösen kann, ist schwer vorstellbar – besonders in einem Viertel, | |
in dem viele Menschen aus aller Welt zusammenkommen und besonders auch vor | |
dem Hintergrund, dass der Großteil der Zitate auf den Steintafeln von | |
alten, weißen Männern stammt. | |
Hanin Abdallah, eine Sozialarbeiterin, die schon lange im Kiez aktiv ist, | |
gibt einem kleinen Mädchen mit dunklen Haaren und fröhlichem Lächeln ein | |
High Five. Sie scheint gut mit den hier lebenden Menschen verbunden zu | |
sein, sieht allerdings „ganz andere Probleme als schicke Steinplatten für | |
viel Geld“ und sagt: „Ich verstehe nicht, für wen das ist. Auf jeden Fall | |
nicht für die Menschen, die hier leben.“ Es fehle aus ihrer Sicht besonders | |
an „Mitteln für Kinder und Jugendliche und Angebote für Mütter“. Die | |
Gelder, die in die Baustelle geflossen sind, hätten viel mehr dafür genutzt | |
werden sollen, so Abdallah. | |
Die Kreuzberger Bezirksbürgermeisterin Clara Herrmann (Grüne) betonte | |
dagegen noch beim Pressegespräch zu den Feierlichkeiten: „Hier im Kiez wird | |
viel für die Menschen gemacht“ und verwies auf die zahlreichen Aktivitäten | |
des Quartiersmanagement. Und auch der neu gestaltete Platz ist aus ihrer | |
Sicht für die Menschen hier: „Das Rondell soll innen grün werden. Der Fokus | |
liegt auf Aufenthaltsqualität für die Nachbar*innen“, so Herrmann. | |
## Gentrifizierung à la Champs-Élysées? | |
Einen anderen Fokus sieht Kristijana Peneva, ehemaliges Mitglied des | |
Quartiersmanagements Mehringplatz, heute neben Voges wichtiger Teil des | |
Kunstwelt e. V. und ebenfalls im Pressegespräch mit der | |
Bezirksbürgermeisterin dabei. Aus ihrer Sicht ist das Gebiet das „Entrée zu | |
Friedrichstraße“, die sie als „Champs-Élysées Berlins“ bezeichnet. Zwar | |
soll die neu geschaffene „Verweilatmosphäre den Bewohner*innen | |
zugutekommen“, allerdings soll vor allem „der Brückenschlag gelingen, | |
mittels Kultur Tourist*innen anzuziehen“. | |
Auf Rückfrage der taz, wie sichergestellt wird, dass sich die Lebenskosten | |
nicht so entwickeln wie an den echten Champs-Élysées in Paris, antwortet | |
die Bezirksbürgermeisterin: „Die meisten Häuser hier sind landeseigene | |
Immobilien, so wird niemand verdrängt. Die Mieten sind gedeckelt und | |
gesichert.“ | |
Für Alexandra Fara, die bereits seit 22 Jahren im inneren Rondell wohnt, | |
geht das nicht weit genug. Wie Sozialarbeiterin Abdallah findet sie, dass | |
es „mehr Geld für die Kinder“ braucht. Sie fühlt sich vom | |
Quartiersmanagement nicht mitgenommen: „Wenig wird mit den | |
Anwohner*innen abgesprochen. Früher gab es am Platz zumindest ein paar | |
Spielgeräte und einen Sandkasten. Das gibt es jetzt alles nicht mehr und | |
gefragt wurden wir nicht.“ | |
15 May 2022 | |
## LINKS | |
[1] http://pfaddervisionaere.de/ | |
[2] /taz-Serie-Was-macht-eigentlich-2/!5821874 | |
## AUTOREN | |
Tobias Bachmann | |
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