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# taz.de -- Fehlgeleitete Stadtplanung: Viktoria? Für'n Arsch
> Unsere Autoren leben am Mehringplatz in Berlin. In jüngerer Zeit geht es
> mit dem Kiez bergab. Und das hat am wenigsten mit den Anwohnern selbst zu
> tun.
Bild: Einst ein guter Ort zu leben, heute nicht mehr: der Mehringplatz
Septembermorgen am Halleschen Tor, wo die berühmte Friedrichstraße
überraschend in einer Großwohnsiedlung der frühen siebziger Jahre endet.
Einer Betonburg mit bis zu 18 Stockwerken. Klassische Stadtrandbebauung
eigentlich. Dabei ist die geografische Mitte Berlins nur wenige hundert
Meter entfernt, und selbst von unserem Balkon im 5. Stock aus kann man den
Potsdamer Platz sehen. Auf der Rasenfläche des kleinen Parks vorm
Tommy-Weisbecker-Haus, das an die linksradikale Geschichte des Viertels
erinnert, tollen ein paar Hunde herum.
Vom Checkpoint Charlie her weht es eine Gruppe übernächtigter
Feiertouristen in den Kiez. Junge Leute in Designerklamotten retten sich
torkelnd aus dem Berufsverkehr in die kleine Fußgängerzone unter uns. Doch
auch dort rangieren heute schwere Limousinen und Wohnmobile herum. Ein
Nachbar beschwert sich: „Scheiße, was soll das da unten?!“
Die Antwort bekommen wir an einem Absperrband, dessen Bewacher knapp
erklärt, dass unser Viertel heute als Filmkulisse dient. „Ruhe jetzt!
Kamera läuft!“ Das Rondell am zentralen Mehringplatz füllt sich mit
Statisten, so verkleidet, wie sich das Fernsehteam die Anwohner offenbar
vorstellt: Frauen in schwarzen Burkas, tätowierte Schläger. Filmkreuzberg.
Jenes Kreuzberg, das nicht Deutschland ist, wie der CDU-Vorsitzende
Friedrich Merz unlängst erklärte. Erst am Nachmittag werden die Kameras
abgebaut, und mit ihnen verschwindet die Inszenierung als „sozialer
Brennpunkt“. Vorm Al-Sultan-Bistro versammelt sich wieder der Klub älterer
Damen türkischer und arabischer Herkunft.
Wie jeden Tag beobachten sie bei Zigaretten und Sonnenblumenkernen das
Treiben im Rondell. Am Stammtisch vorm Café MadaMe werden erste Biere
bestellt. Zwei Omis mit Rollatoren füttern Tauben. Eine Bande halbwüchsiger
Mädchen in Sportklamotten, manche mit, manche ohne Hidschab, stürmt aus
der U-Bahn. Laut und übermütig treten sie den Ball, beenden ihr
Fußballtraining erst hier, wo sie wohnen, mit einem kleinen Kick zu Füßen
der Siegesgöttin Viktoria, die auf ihrer Säule das Zentrum des Platzes
markiert.
Würde man jetzt filmen, das Ergebnis könnte als Werbevideo für eine
funktionierende interkulturelle Gemeinschaft auf niedrigem finanziellen
Niveau dienen. Doch auch dieser Eindruck täuscht. Trotz stabiler
Einwohnerstruktur ist das soziale Gefüge binnen weniger Jahre brüchig
geworden. Die Gründe dafür sind vielfältig.
## Einst mondän, heute für viele ein Schandfleck
Die Viktoria auf dem Mehringplatz erinnert an die mondäne Geschichte des
Viertels als südlicher Teil der ab 1688 errichteten und 1944/45 in Schutt
und Asche gebombten Friedrichstadt – Prädikat: „vollständig zerstört“.…
als der Bau der Berliner Mauer diesen Teil des historischen Zentrums zur
Randlage Westberlins machte, entstand die Idee, hier eine hermetische
Großwohnsiedlung mit sozialem Wohnungsbestand zu errichten. Das Rondell und
die südliche Friedrichstraße wurden zur Fußgängerzone – mit Restaurants,
Sozialräumen und Läden für den täglichen Bedarf. „Ein guter Ort zum Leben…
da sind sich diejenigen unserer rund 6.550 Nachbarn einig, die schon seit
Fertigstellung Anfang der siebziger Jahre hier wohnen.
Stadtplanern von heute aber gilt der Kiez als Schandfleck. Nicht nur der
massierten Betonarchitektur wegen, die sich der von Norden herankriechenden
„Aufwertung“ mächtig entgegenstemmt, sondern auch wegen der Menschen, die
hier leben. Über 70 Prozent haben einen Migrationshintergrund, mehr als ein
Drittel bezieht Transferleistungen.
Darf denn so was sein, hier, im Zentrum der Hauptstadt? Gehören
Marginalisierte nicht dem Wortsinn nach an den Rand?
Die Schlagzeilen aus jüngster Zeit scheinen die Einschätzung als
„Problemviertel“ zu bestätigen: Angriff auf ein schwules Paar mitten am
Tag, Massenschlägereien zwischen arabischen Familien, und wenig später wird
ein Obdachlosenschlafplatz angezündet. Zum Glück kommen weder das dort
hausende Paar noch ihr Hund körperlich zu Schaden. Was nirgendwo zu lesen
war: Auslöser der Schlägereien war ein banaler Streit um Müllentsorgung,
wie Karin Lücker, Betreiberin des Café MadaMe, neben dem sich alles
abspielte, mitbekommen hat. Und für das obdachlose Paar organisierten
Nachbarn und Gäste des Cafés noch vor Tagesanbruch eine neue Matratze,
Decken, Hundefutter.
## Die Zahl der Konflikte hat zugenommen
Alles halb so wild also? Nein. Tatsächlich ist die Stimmung im Kiez zuletzt
kontinuierlich schlechter geworden, haben spontane Gewaltausbrüche unter
Jugendlichen zugenommen. Der Kiez vermüllt. Hauseingänge und Treppenhäuser
werden zum Drogenkonsum missbraucht, und im Sommer bilden sich feste
Obdachlosencamps rund um den Platz. Eine Abwärtsspirale.
Gerade mal neun Jahre ist es her, dass wir an den Mehringplatz zogen. Das
erste bezahlbare Angebot nach monatelanger Wohnungssuche. Ohne zu wissen,
was uns erwarten würde, hatten wir zugesagt. Umso größer die Überraschung:
Im Innern der abweisenden Betonburg herrschte eine geradezu beschauliche
Stimmung. Rund um den Platz gab es alles, was man brauchte: Supermarkt und
Drogerie, lauter kleine Geschäfte, ein türkisches Restaurant und sogar eine
Kiezkneipe mit schwulem Stammtisch.
Die Nachbarschaft: eine erstaunlich entspannte Mischung aus alten
Westberlinern türkischer und deutscher Herkunft, Kriegsflüchtlingen,
jüdischen Rentnern aus der früheren Sowjetunion und enorm vielen Kindern.
Auch Obdachlose waren fest in die Gemeinschaft integriert. Lulu zum
Beispiel, eine ältere Dame im Rollstuhl, die regelmäßig von den Nachbarn
neu eingekleidet wird und morgens am türkischen Backshop ihren Kaffee
bekommt.
Natürlich gab es Konflikte, aber wenn sich Jugendliche in der Fußgängerzone
prügelten, schritt der Besitzer des Restaurants Yıldız zuverlässig ein.
Nachts patrouillierten zwei eher skurrile Security-Männer durch die
Gebäude, die durch bloße Anwesenheit verhinderten, dass Junkies und Dealer
die Treppenhäuser in Beschlag nahmen. Über all dem lag eine täglich neu in
Gesten, Worten und Haltungen verhandelte Friedfertigkeit, die man auch
heute noch manchmal spüren kann. Doch vieles ist seither schiefgegangen,
und das hat nichts mit der Einwohnerstruktur des Viertels zu tun.
## Defekte Laternen, Heizungen, Fahrstühle
Binnen weniger Jahre verschwanden fast alle Geschäfte. Zuletzt sogar der
Supermarkt. Keine Nahversorgung mehr für 5.500 Menschen. Straßenlaternen
sind defekt. Dunkelheit schafft Angsträume. Nicht weniger schlimm ist die
Situation in den Gebäuden. War früher öfter mal einer von zwei Fahrstühlen
kaputt, ist das heute in allen Häusern der Normalzustand, manchmal fallen
auch beide für Tage aus. Dazu defekte Haustüren und Heizungen, Spritzen,
Alufolie und Fäkalien.
Sicher, die Pandemiezeit hat Probleme verschärft, aber die Gründe für die
Fehlentwicklung sind systemischer Natur, da sind sich die Nachbarn einig.
„Ich hab beim Volksentscheid für die Vergesellschaftung von Deutsche Wohnen
& Co. gestimmt“, sagt einer. „Nur was machen wir mit der Gewobag? Die
gehört ja schon der Stadt, und nun schaut euch den Mist hier an!“
Eigentlich genießen kommunale Wohnungsbaugesellschaften wie die Gewobag,
der die Mehrzahl der Wohnungen hier gehört, einen guten Ruf. Doch auch sie
müssen gewinnorientiert arbeiten, so will es ihr Hauptaktionär, die Stadt
Berlin.
Und wegen der Wohnungsnot müssen sie zudem bauen, viel bauen.
## Mieter in der Warteschleife
Die Gewobag scheint deshalb am Bestand sparen zu wollen. Nicht nur an der
Security, auch an Hausmeistern.
Diesen Job hat der Dienstleister Fletwerk übernommen, offenbar mit klarem
Reparaturverhinderungsauftrag. In der Regel hocken alle Mitarbeiter
zusammen in ihrem verschlossenen Büro und öffnen nicht einmal, wenn jemand
panisch an die Scheibe klopft. Der Weg für Schadensmeldungen ist klar
vorgeschrieben: Erst muss – in der Regel mehrfach – die Hotline der Gewobag
angerufen werden, dann schaut ein Hausmeister vorbei und notiert den
Schaden. Daraufhin passiert wochenlang nichts, bis man erneut die Hotline
anruft, und alles von vorn beginnt.
Wohnen als Beschäftigungsprogramm.
Auf der Website von Fletwerk heißt es, im Mittelpunkt des „zertifizierten
Qualitätsmanagementsystem“ stünden „die Kunden“. Damit sind aber nicht
Mieter, sondern Vermieter gemeint. Und tatsächlich ist das dysfunktionale
System aus Gewobag-Perspektive höchst funktional, weil die Leute Schäden
oft gar nicht mehr melden.
Auf unsere Nachfrage antwortet die Gewobag, die Hausmeister seien doch an
zwei Tagen für jeweils eine Stunde erreichbar und zudem „wöchentlich in
jedem Gebäude unterwegs“. Bei uns nehmen sie dabei wohl stets den
Hintereingang. Vorne ist der Türgriff wieder seit Monaten abgerissen. Erst
als ein Nachbar die bezirkliche Wohnungsaufsicht einschaltet, erfolgt eine
„Reparatur“. Mit Kleber. Der ist noch zu sehen. Der Griff hielt, wenig
überraschend, keinen Tag. Für die Wohnungsaufsicht gilt der Fall dennoch
als erledigt. Sie arbeitet nach demselben System wie die Gewobag-Hotline:
Jede Meldung ist ein neuer Vorgang, monatelange Bearbeitungszeit inklusive.
Wenn vom Bezirk keine Hilfe zu erwarten ist, dachten sich die Bewohner
eines der Hochhäuser, in denen regelmäßig beide Fahrstühle ausfallen,
wenden wir uns eben an den Senat. Dessen Antwort allerdings wurde offenbar
per drag & drop aus einem Standardschreiben der Gewobag entnommen: Sofern
ein Defekt vorläge, schreibt der Staatssekretär, würde „die Reparatur
grundsätzlich umgehend beauftragt und zeitnah ausgeführt“. Auch „prüfe�…
Unternehmen eine Sanierung der Anlagen. Fall erledigt. Eine der Seniorinnen
aus dem 15. Stock bricht am Telefon in Tränen aus. „Wenn kein Fahrstuhl
fährt, kommt kein Pflegedienst. Wir sind dann auf uns allein gestellt!“
## No-go-Area für arme Bewohner
Nicht nur „kommunales Wohnen“, auch andere eigentlich wohlklingende
Begriffe kann hier keiner mehr hören, „Sanierungsgebiet“ zum Beispiel oder
„Bürgerbeteiligung“: „Ständig sollen wir unsere Meinung sagen, aber nie…
hört zu. Ich rede mit keinem mehr!“
Die Sätze gelten Florian Schmidt, dem grünen Bezirksstadtrat für Bauen,
Planen und Kooperative Stadtentwicklung, der an diesem Tag mit Leuten vom
Verein Bauhütte Kreuzberg an einem Stand in der Fußgängerzone herumsteht.
Sie wollen über das neueste Bauprojekt im Kiez, den Block 616, informieren
und die Anwohner ermuntern, Ideen einzubringen. Die meisten laufen so
blicklos vorbei wie an den Zeugen Jehovas im U-Bahnhof. In den letzten
zwölf Jahren haben sie gelernt, dass sich Stadtentwicklung nie an den
Bedarfen realer Menschen orientiert, sondern an übergeordneten politischen
Interessen. Und dass auch von städtebaulichen Aktivisten aus dem
kulturellen Spektrum keine Fürsprache zu erwarten ist.
2011, drei Jahre vor unserem Einzug, war die Südliche Friedrichstadt zum
Sanierungsgebiet erklärt worden. Für die Menschen im Viertel hatten sich
damit viele falsche Hoffnungen verbunden, weil Sanierung in diesem Kontext
nur öffentliche Räume meint, nicht Wohnhäuser. Begründete Hoffnung hatten
sich hingegen die Betreiber der KMA Antenne gemacht, einer gemeinnützigen
Tanz- und Musikschule, die gleichzeitig die einzige Kinder- und
Jugendeinrichtung in diesem so kinderreichen Kiez ist. Ihr Gebäude ist
schon lange marode. Dach und Fenster sind undicht. Im obersten Stock dürfen
sich nur noch sieben Menschen gleichzeitig aufhalten.
Aus Brandschutzgründen. „Von Anfang an hieß es, dass wir Teil der Sanierung
werden. Das Haus gehört ja dem Bezirk“, sagt Mareike Stanze, Leiterin des
Jugendclubs. „Also haben wir viel Arbeit reingesteckt, um Lösungen zu
finden, wie sich der Betrieb auch während der Bauzeit aufrechterhalten
lässt.“
Doch während am Mehringplatz bald immer größere Teile des öffentlichen
Raums für Jahre nutzlos hinter Baugittern verschwanden, begann die
Sanierung weiter nördlich, wo die schicke Berliner Mitte längst mit
Luxus-Hotels, Büros und Galerien über den Checkpoint Charlie nach Kreuzberg
rüberwuchert. Eine vom Bezirk offenbar gewünschte Entwicklung, die man mit
schneller „Aufwertung“ des Stadtraums dort befördern wollte.
Parallel wurde das Areal des einstigen Blumengroßmarkts gegenüber dem
Jüdischen Museum passend „entwickelt“ – mit Neubaublöcken für Büros u…
Eigentumswohnungen, die sich „Integrationsprojekt“ oder „Metropolenhaus“
nennen und nebenbei „Projekträume für die Kreativwirtschaft“ bieten. Unter
dem beliebten Stadtplaner-Euphemismus „aktivierte Erdgeschosse“ wurden eine
„Organic Bakery“, ein Lastenfahrradladen und ein Frühstücksrestaurant
angesiedelt – Kimchi-Croissant mit Tomatenmarmelade und Essig-Heidelbeeren
für 18 Euro. Eine No-go-Area für die armen Bewohner des südlich
angrenzenden Kiezes.
„Während wir in der KMA bei Regen Eimer aufstellen müssen, floss das ganze
Geld erst mal dorthin. Das war frustrierend“, sagt Mareike Stanze.
Baustadtrat Florian Schmidt kann die Kritik am Blumengroßmarkt nicht
vollständig teilen, als wir ihn vorm Café MadaMe zum Interview treffen.
Damals noch städtebaulicher Aktivist, hatte er mit Gleichgesinnten aus der
Berliner „Kreativwirtschaft“ die „Bauhütte Kreuzberg“ als eine Art
selbsternannte Bürgervertretung gegründet, um Einfluss zu nehmen: „Wir
haben uns dafür engagiert, dass das Gelände nicht einfach an einen Investor
verkauft wird, sondern man ein Konzeptverfahren macht.“
Dessen Hauptziel war indes nicht sozialer Ausgleich, sondern die Ansiedlung
kultureller Akteure. [1][Gut für die taz, deren neues Gebäude an der
Friedrichstraße seine Existenz dieser Festlegung verdankt.] Gut auch für
die Aktivisten der Bauhütte, die sich so teilweise selbst neue Flächen
schufen. Einer von ihnen betreibt im dritten großen Gebäuderiegel „Frizz23�…
jetzt ein „Miniloft Apartment Hotel“. Konkrete Mehrwerte für die
Bevölkerungsmehrheit in der Südlichen Friedrichstadt gab es jedoch nicht.
Schmidts Resümee: „Aus heutiger Sicht kann man sagen, dass wir nicht alles
erreicht haben, was wir uns wünschten. Heute hätte man die Grundstücke in
Erbbaurecht vergeben und nur an Genossenschaften, diese Möglichkeit bestand
damals nicht. Aber wenn man bedenkt, dass wir in der Südlichen
Friedrichstadt – auch durch unsere Zukäufe in den letzten Jahren – knapp 70
Prozent kommunalen Wohnungsbau haben, kann dieses Tüpfelchen
Hochwertigkeit, das da entstanden ist, keine Welle der Gentrifizierung
auslösen.“
„Man könnte durchaus sagen, dass die Leute, die sich damals so für den
Blumengroßmarkt eingesetzt haben, vor allem eigene Interessen verfolgten“,
sagt Mareike Stanzes Kollegin Marthe Eggebrecht. Und eigentlich wäre das
gar nicht schlimm, wenn zugleich der Mehringplatz profitiert hätte. Doch
als dort 2020 endlich die Bauzäune abgeräumt wurden, waren die meisten
Läden längst weg. Was der Kiez dafür bekam? [2][Neues Straßenpflaster, eine
absurd fehlgeplante Durchwegung des Platzes] und die Ausweisung der
öffentlichen Parkanlagen als „Premium-Grünflächen“.
Ballspielende Kinder sind jetzt nicht mehr erlaubt. Auch nicht das
kostenlose Kreuzberger Spielmobil, das jeden Dienstag im Park die Jüngsten
bespaßte. Nun wird neben der menschenleeren Rasenfläche ein Stück Straße
zum Spielen abgesperrt. Knie auf Pflaster statt grüner Wiese.
## [3][Der Kiez wird zum Labor]
Florian Schmidt ist erstaunt, als wir ihn mit den Vorbehalten vieler
Kiezbewohner gegen die Bauhütte konfrontieren. Schmidt ist gekommen, um uns
Fragen zum geplanten Block 616 zu beantworten, dem Neubauvorhaben, das
weitere Wohnungen in den dicht besiedelten Kiez bringen soll.
Seine alten Gefährten von der Bauhütte und die „Parkakademie“, ein Projekt
von Urbanitas BB, wo Schmidt bis 2016 Mitinhaber war, haben die bezirkliche
Ausschreibung für eine „informelle Bürgerbeteiligung“ gewonnen. Ein neues
Verfahren, das die Website der Parkakademie als „milieuübergreifendes
Experiment der Koproduktion und kollektiven Gestaltung des öffentlichen
Raumes“ beschreibt. Die Bauhütte will dafür gar ein „Labor 616“ aufbaue…
einen „Testraum“, um „zukunftsweisende Lösungen für städtische
Herausforderungen zu entwickeln“.
„Ach, das ist ja schön, und wir sind dann wohl die Labormäuschen“, sagt
eine derjenigen Anwohnerinnen, die stets dort helfen, wo die Institutionen
versagen: Briefverkehr mit Behörden oder Einkäufe organisieren. Aber
konkrete Alltagshilfen dieser Art meint Maria Muñoz Duyos, Leiterin des
Urbanitas-BB-Büros, wohl nicht, wenn sie sagt: „Die Menschen müssen ein Wir
finden, um zusammenzuarbeiten, ein Wir, das neue Konstellationen der
Zusammenarbeit zwischen Sektoren oder sozialen und kulturellen Akteuren
schafft.“
Ihr Ansatz: „Wir wollen reale Konflikte – Edeka ist weg und all das – auf
eine gute Weise nutzen. Strategien der Zusammenarbeit und der kulturellen
Produktion nutzen, um einen neuen Kontext aufzubauen.“
Bislang greifbarstes Ergebnis: eine „mobile Modewerkstatt“ in der jetzt
zweimal im Monat Stickworkshops stattfinden. Kulturelle Pflaster für
materielle Probleme – so präsentiert sich der neoliberale Grundsatz, dass
stets die Menschen das Problem sind, nicht deren Lebensumstände in grünem
Gewand.
Was wirklich fehlt, meint Mareike Stanze von der Kinder- und
Jugendeinrichtung KMA, sind mehr Stellen für echte Sozialarbeit und –
natürlich – Geld: „Es gibt hier Familien, die mit 9 Personen in
3-Zimmer-Wohnungen leben. Das ist ein Albtraum. Armut zu Hause, nicht genug
Endgeräte, kein Netz – die Kids müssen in den U-Bahnhof, um sich ihre
Hausaufgaben runterzuladen. Viele schaffen so keinen Schulabschluss, und
durch Corona sind noch mehr auf der Strecke geblieben.“
Die KMA konzentriere sich mangels Kapazitäten inzwischen mehr auf die
Jüngeren. Für die zunehmende Aggression der Älteren brauche es
Streetworker. Die gibt es zwar, aber das Gebiet, das die gerade mal vier
Mitarbeiter von Outreach zu betreuen haben, reicht vom Mehring- bis zum
fernen Moritzplatz.
## Jetzt ist auch noch der Supermarkt weg
Rückblick: Ein sonniger Tag im Juli. Die Schließung des Edeka hat bei
vielen Anwohnern das Fass zum Überlaufen gebracht. Vor allem der Grund
dafür: Zehn Jahre lang waren die Betreiber mit dem Versprechen auf einen
Neubau hingehalten worden. Aber dem Eigentümer des Gebäudes wurde die
Realisierung mehrfach sanierungsrechtlich versagt.
Weil er über dem Laden hauptsächlich Büros bauen wollte und Baustadtrat
Florian Schmidt auf Wohnungen bestand. Nun gibt es weder das eine noch das
andere und keine Nahversorgung mehr.
Man trifft sich vorm Al-Sultan-Bistro. Stühle werden herangeschleppt. Auch
wir sind dabei. Schluss mit journalistischem Abstand, heute sind wir wieder
Anwohner. Initiator des Treffens sind die Guerilla Architects, ein
Künstlerkollektiv, dessen Ziel nicht befriedendes Sticken ist. Sie wollen
den Leuten helfen, sich zu wehren. Im Durcheinanderreden scheint
Kampfeswille auf: „Kein Bock mehr zu betteln. Wir fordern jetzt!“ – „Was
wird eigentlich für die Kinder getan? Sind die nicht die Zukunft?“ – „Sa…
doch, worum es geht: Die wollen uns vertreiben!“ – „Uns?“ – „Na, die
Ausländer, die armen Schlucker und die Alten. Alle, die nix bringen.“
Pläne werden geschmiedet, weitere Treffen vereinbart. Einen Namen braucht
man noch. „Revolutionärer Anwohner*innen-Rat“ (RAR) – das trifft die
Stimmung.
Vier Wochen später hängen überall im Kiez riesige Transparente mit dem
RAR-Logo. „Wo kaufen wir ein?“, ist über dem geschlossenen Edeka zu lesen,
„Wie teuer ist Leerstand?“ über anderen verrammelten Läden. An der KMA
prangt: „Wann wird Jugendarbeit ausfinanziert?“ Dazu gibt es Plakate in
allen Sprachen, die hier gesprochen werden. „Engagiert euch doch lieber im
Sanierungsbeirat!“, echauffiert sich ein Mann während der Anbringung und
bezieht sich damit auf ein Gremium, in dem Verwaltung, kommunale
Wohnungsunternehmen und Sanierungsbetroffene miteinander ins Gespräch
kommen und Empfehlungen ausarbeiten. Auch er selbst macht dort mit.
Die Antwort: „Ihr macht doch schon gute Arbeit.“ Und das stimmt. Von reinen
Gestaltungsfragen bis zur Anmahnung eines bedarfsbezogenen Gewerbekonzepts
– nahezu alle Forderungen von ihm und den anderen Gebietsvertretern sind im
Viertel konsensfähig. Sie werden nur stets „souverän wegmoderiert“, wie
Cafébetreiberin Karin Lücker sagt.
Noch sinnloser ist nur ein Engagement im Mieterbeirat der Gewobag, weshalb
der sich kürzlich selbst aufgelöst hat.
Die Transparente des RAR aber haben gezeigt, dass der Kiez weiter da ist.
Seine Bewohner nicht aufgegeben haben. Das mangelnde Interesse am Block 616
zeigt nur, dass sie genau wissen, dass dieser Neubau keines ihrer Probleme
lösen wird. Zumal bis zur Realisierung laut Florian Schmidt „fünf bis sechs
Jahre“ vergehen werden. Viele der älteren Anwohner werden mithin bis zu
ihrem Tod auf Einkaufshilfe angewiesen sein. Werden damit vollends aus dem
Kiezleben ausgeschlossen. Still greift Panik um sich.
Florian Schmidt treiben andere Themen um: „Eine Art Vernetzung der
Kulturinstitutionen im Umfeld, dass sie vor Ort gehen, weil sie hier einen
Projektraum haben, wo sie mit ihren Angeboten viel näher an den Leuten
sind.“
Projektraum – das klingt nach Blumengroßmarkt. Nach Event-Kultur,
Gentrifizierung. Und die ist inzwischen tatsächlich im Kiez angekommen. Im
ehemaligen Sozialladen hat eine vegane Pizzeria mit Preisen um die 14 Euro
eröffnet. Die Wohnungen der einstigen Seniorenresidenz nebendran werden
jetzt als temporäres Wohnen vermarktet – möbliert, für 1.700 Euro im Monat.
Und auch der Neubezug einzelner Ladenflächen spricht für sich: Werkstatt
für Designermöbel, Start-up-Büros und eine Filiale der Hipster-Imbisskette
Sahara in direkter Konkurrenz zum Al-Sultan-Bistro. „Wenn dahinter
wenigstens ein finsterer Verdrängungsplan stecken würde“, sagt einer aus
dem RAR. „Aber was hier passiert, ist völlig planlos. Wir können ja gar
nicht weg, weil es nirgendwo Wohnungen gibt.“ Also bleiben. Ausharren. Wie
unerwünschte Gäste im eigenen Viertel, das anderen Projektraum oder
Filmkulisse ist. Angst wächst. Ziellose Wut. Beteiligte Bürger in Ohnmacht.
So schafft man „Problemviertel“.
## Wem gehört der Kiez?
Nacht am Halleschen Ufer. Der Sommer ist lang vergangen. Menschen laufen
schneller. Kälte hetzt. Der Pfad, den sie in stoischer Herdengewohnheit in
den Mehringplatz getrampelt haben, leuchtet so hell wie die blonden
Pferdeschwänze, die 500 Meter weiter im „Frizzforum“ am Blumengroßmarkt b…
„transferfokussiertem Training“ fröhlich auf und ab hüpfen. Der Beat drö…
in Richtung der Kinder- und Jugendeinrichtung KMA, wo ein neuer Termin die
Sanierung in die Ferne schiebt. 2032. Noch neun Jahre.
Im Rondell quietschen Reifen. Seit der Baustellenzeit stehen die Schranken
zum Viertel dauerhaft offen. Autos, Roller und E-Bikes rasen durch die
Fußgängerzone, terrorisieren den öffentlichen Raum. Eltern fürchten um ihre
Kinder, Hundebesitzer um ihre Kacknasen. Für die Schließung verantwortlich
wären – na klar – die Hausmeister von Fletwerk.
„Ich bin echt ein bisschen am Ende, was den Mehringplatz im Großen angeht.“
Der Bezirksstadtrat wirkt müde, als er sich im Berliner Baukollegium, einem
„Gremium zur Sicherung der Baukultur“, zu dieser Bemerkung hinreißen läss…
Auch Lulu, die obdachlose Nachbarin, ist müde. Frierend kauert sie sich in
eine dunkle Ecke der Betonburg. Unbeschützt vorm großen Wandel, der zuerst
die Kleinsten, die Schwächsten, die Unbehausten und Einsamen trifft. Halb
abgerissen flattert neben ihr trotzig ein RAR-Plakat im Wind: „Wem gehört
der Kiez?“
16 Dec 2023
## LINKS
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[2] /Urbane-Gestaltung-in-Kreuzberg/!5961473
[3] /Zusammenleben-in-Berlin/!5859324
## AUTOREN
Manja Präkels
Markus Liske
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Lesestück Recherche und Reportage
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