# taz.de -- Fehlgeleitete Stadtplanung: Viktoria? Für'n Arsch | |
> Unsere Autoren leben am Mehringplatz in Berlin. In jüngerer Zeit geht es | |
> mit dem Kiez bergab. Und das hat am wenigsten mit den Anwohnern selbst zu | |
> tun. | |
Bild: Einst ein guter Ort zu leben, heute nicht mehr: der Mehringplatz | |
Septembermorgen am Halleschen Tor, wo die berühmte Friedrichstraße | |
überraschend in einer Großwohnsiedlung der frühen siebziger Jahre endet. | |
Einer Betonburg mit bis zu 18 Stockwerken. Klassische Stadtrandbebauung | |
eigentlich. Dabei ist die geografische Mitte Berlins nur wenige hundert | |
Meter entfernt, und selbst von unserem Balkon im 5. Stock aus kann man den | |
Potsdamer Platz sehen. Auf der Rasenfläche des kleinen Parks vorm | |
Tommy-Weisbecker-Haus, das an die linksradikale Geschichte des Viertels | |
erinnert, tollen ein paar Hunde herum. | |
Vom Checkpoint Charlie her weht es eine Gruppe übernächtigter | |
Feiertouristen in den Kiez. Junge Leute in Designerklamotten retten sich | |
torkelnd aus dem Berufsverkehr in die kleine Fußgängerzone unter uns. Doch | |
auch dort rangieren heute schwere Limousinen und Wohnmobile herum. Ein | |
Nachbar beschwert sich: „Scheiße, was soll das da unten?!“ | |
Die Antwort bekommen wir an einem Absperrband, dessen Bewacher knapp | |
erklärt, dass unser Viertel heute als Filmkulisse dient. „Ruhe jetzt! | |
Kamera läuft!“ Das Rondell am zentralen Mehringplatz füllt sich mit | |
Statisten, so verkleidet, wie sich das Fernsehteam die Anwohner offenbar | |
vorstellt: Frauen in schwarzen Burkas, tätowierte Schläger. Filmkreuzberg. | |
Jenes Kreuzberg, das nicht Deutschland ist, wie der CDU-Vorsitzende | |
Friedrich Merz unlängst erklärte. Erst am Nachmittag werden die Kameras | |
abgebaut, und mit ihnen verschwindet die Inszenierung als „sozialer | |
Brennpunkt“. Vorm Al-Sultan-Bistro versammelt sich wieder der Klub älterer | |
Damen türkischer und arabischer Herkunft. | |
Wie jeden Tag beobachten sie bei Zigaretten und Sonnenblumenkernen das | |
Treiben im Rondell. Am Stammtisch vorm Café MadaMe werden erste Biere | |
bestellt. Zwei Omis mit Rollatoren füttern Tauben. Eine Bande halbwüchsiger | |
Mädchen in Sportklamotten, manche mit, manche ohne Hidschab, stürmt aus | |
der U-Bahn. Laut und übermütig treten sie den Ball, beenden ihr | |
Fußballtraining erst hier, wo sie wohnen, mit einem kleinen Kick zu Füßen | |
der Siegesgöttin Viktoria, die auf ihrer Säule das Zentrum des Platzes | |
markiert. | |
Würde man jetzt filmen, das Ergebnis könnte als Werbevideo für eine | |
funktionierende interkulturelle Gemeinschaft auf niedrigem finanziellen | |
Niveau dienen. Doch auch dieser Eindruck täuscht. Trotz stabiler | |
Einwohnerstruktur ist das soziale Gefüge binnen weniger Jahre brüchig | |
geworden. Die Gründe dafür sind vielfältig. | |
## Einst mondän, heute für viele ein Schandfleck | |
Die Viktoria auf dem Mehringplatz erinnert an die mondäne Geschichte des | |
Viertels als südlicher Teil der ab 1688 errichteten und 1944/45 in Schutt | |
und Asche gebombten Friedrichstadt – Prädikat: „vollständig zerstört“.… | |
als der Bau der Berliner Mauer diesen Teil des historischen Zentrums zur | |
Randlage Westberlins machte, entstand die Idee, hier eine hermetische | |
Großwohnsiedlung mit sozialem Wohnungsbestand zu errichten. Das Rondell und | |
die südliche Friedrichstraße wurden zur Fußgängerzone – mit Restaurants, | |
Sozialräumen und Läden für den täglichen Bedarf. „Ein guter Ort zum Leben… | |
da sind sich diejenigen unserer rund 6.550 Nachbarn einig, die schon seit | |
Fertigstellung Anfang der siebziger Jahre hier wohnen. | |
Stadtplanern von heute aber gilt der Kiez als Schandfleck. Nicht nur der | |
massierten Betonarchitektur wegen, die sich der von Norden herankriechenden | |
„Aufwertung“ mächtig entgegenstemmt, sondern auch wegen der Menschen, die | |
hier leben. Über 70 Prozent haben einen Migrationshintergrund, mehr als ein | |
Drittel bezieht Transferleistungen. | |
Darf denn so was sein, hier, im Zentrum der Hauptstadt? Gehören | |
Marginalisierte nicht dem Wortsinn nach an den Rand? | |
Die Schlagzeilen aus jüngster Zeit scheinen die Einschätzung als | |
„Problemviertel“ zu bestätigen: Angriff auf ein schwules Paar mitten am | |
Tag, Massenschlägereien zwischen arabischen Familien, und wenig später wird | |
ein Obdachlosenschlafplatz angezündet. Zum Glück kommen weder das dort | |
hausende Paar noch ihr Hund körperlich zu Schaden. Was nirgendwo zu lesen | |
war: Auslöser der Schlägereien war ein banaler Streit um Müllentsorgung, | |
wie Karin Lücker, Betreiberin des Café MadaMe, neben dem sich alles | |
abspielte, mitbekommen hat. Und für das obdachlose Paar organisierten | |
Nachbarn und Gäste des Cafés noch vor Tagesanbruch eine neue Matratze, | |
Decken, Hundefutter. | |
## Die Zahl der Konflikte hat zugenommen | |
Alles halb so wild also? Nein. Tatsächlich ist die Stimmung im Kiez zuletzt | |
kontinuierlich schlechter geworden, haben spontane Gewaltausbrüche unter | |
Jugendlichen zugenommen. Der Kiez vermüllt. Hauseingänge und Treppenhäuser | |
werden zum Drogenkonsum missbraucht, und im Sommer bilden sich feste | |
Obdachlosencamps rund um den Platz. Eine Abwärtsspirale. | |
Gerade mal neun Jahre ist es her, dass wir an den Mehringplatz zogen. Das | |
erste bezahlbare Angebot nach monatelanger Wohnungssuche. Ohne zu wissen, | |
was uns erwarten würde, hatten wir zugesagt. Umso größer die Überraschung: | |
Im Innern der abweisenden Betonburg herrschte eine geradezu beschauliche | |
Stimmung. Rund um den Platz gab es alles, was man brauchte: Supermarkt und | |
Drogerie, lauter kleine Geschäfte, ein türkisches Restaurant und sogar eine | |
Kiezkneipe mit schwulem Stammtisch. | |
Die Nachbarschaft: eine erstaunlich entspannte Mischung aus alten | |
Westberlinern türkischer und deutscher Herkunft, Kriegsflüchtlingen, | |
jüdischen Rentnern aus der früheren Sowjetunion und enorm vielen Kindern. | |
Auch Obdachlose waren fest in die Gemeinschaft integriert. Lulu zum | |
Beispiel, eine ältere Dame im Rollstuhl, die regelmäßig von den Nachbarn | |
neu eingekleidet wird und morgens am türkischen Backshop ihren Kaffee | |
bekommt. | |
Natürlich gab es Konflikte, aber wenn sich Jugendliche in der Fußgängerzone | |
prügelten, schritt der Besitzer des Restaurants Yıldız zuverlässig ein. | |
Nachts patrouillierten zwei eher skurrile Security-Männer durch die | |
Gebäude, die durch bloße Anwesenheit verhinderten, dass Junkies und Dealer | |
die Treppenhäuser in Beschlag nahmen. Über all dem lag eine täglich neu in | |
Gesten, Worten und Haltungen verhandelte Friedfertigkeit, die man auch | |
heute noch manchmal spüren kann. Doch vieles ist seither schiefgegangen, | |
und das hat nichts mit der Einwohnerstruktur des Viertels zu tun. | |
## Defekte Laternen, Heizungen, Fahrstühle | |
Binnen weniger Jahre verschwanden fast alle Geschäfte. Zuletzt sogar der | |
Supermarkt. Keine Nahversorgung mehr für 5.500 Menschen. Straßenlaternen | |
sind defekt. Dunkelheit schafft Angsträume. Nicht weniger schlimm ist die | |
Situation in den Gebäuden. War früher öfter mal einer von zwei Fahrstühlen | |
kaputt, ist das heute in allen Häusern der Normalzustand, manchmal fallen | |
auch beide für Tage aus. Dazu defekte Haustüren und Heizungen, Spritzen, | |
Alufolie und Fäkalien. | |
Sicher, die Pandemiezeit hat Probleme verschärft, aber die Gründe für die | |
Fehlentwicklung sind systemischer Natur, da sind sich die Nachbarn einig. | |
„Ich hab beim Volksentscheid für die Vergesellschaftung von Deutsche Wohnen | |
& Co. gestimmt“, sagt einer. „Nur was machen wir mit der Gewobag? Die | |
gehört ja schon der Stadt, und nun schaut euch den Mist hier an!“ | |
Eigentlich genießen kommunale Wohnungsbaugesellschaften wie die Gewobag, | |
der die Mehrzahl der Wohnungen hier gehört, einen guten Ruf. Doch auch sie | |
müssen gewinnorientiert arbeiten, so will es ihr Hauptaktionär, die Stadt | |
Berlin. | |
Und wegen der Wohnungsnot müssen sie zudem bauen, viel bauen. | |
## Mieter in der Warteschleife | |
Die Gewobag scheint deshalb am Bestand sparen zu wollen. Nicht nur an der | |
Security, auch an Hausmeistern. | |
Diesen Job hat der Dienstleister Fletwerk übernommen, offenbar mit klarem | |
Reparaturverhinderungsauftrag. In der Regel hocken alle Mitarbeiter | |
zusammen in ihrem verschlossenen Büro und öffnen nicht einmal, wenn jemand | |
panisch an die Scheibe klopft. Der Weg für Schadensmeldungen ist klar | |
vorgeschrieben: Erst muss – in der Regel mehrfach – die Hotline der Gewobag | |
angerufen werden, dann schaut ein Hausmeister vorbei und notiert den | |
Schaden. Daraufhin passiert wochenlang nichts, bis man erneut die Hotline | |
anruft, und alles von vorn beginnt. | |
Wohnen als Beschäftigungsprogramm. | |
Auf der Website von Fletwerk heißt es, im Mittelpunkt des „zertifizierten | |
Qualitätsmanagementsystem“ stünden „die Kunden“. Damit sind aber nicht | |
Mieter, sondern Vermieter gemeint. Und tatsächlich ist das dysfunktionale | |
System aus Gewobag-Perspektive höchst funktional, weil die Leute Schäden | |
oft gar nicht mehr melden. | |
Auf unsere Nachfrage antwortet die Gewobag, die Hausmeister seien doch an | |
zwei Tagen für jeweils eine Stunde erreichbar und zudem „wöchentlich in | |
jedem Gebäude unterwegs“. Bei uns nehmen sie dabei wohl stets den | |
Hintereingang. Vorne ist der Türgriff wieder seit Monaten abgerissen. Erst | |
als ein Nachbar die bezirkliche Wohnungsaufsicht einschaltet, erfolgt eine | |
„Reparatur“. Mit Kleber. Der ist noch zu sehen. Der Griff hielt, wenig | |
überraschend, keinen Tag. Für die Wohnungsaufsicht gilt der Fall dennoch | |
als erledigt. Sie arbeitet nach demselben System wie die Gewobag-Hotline: | |
Jede Meldung ist ein neuer Vorgang, monatelange Bearbeitungszeit inklusive. | |
Wenn vom Bezirk keine Hilfe zu erwarten ist, dachten sich die Bewohner | |
eines der Hochhäuser, in denen regelmäßig beide Fahrstühle ausfallen, | |
wenden wir uns eben an den Senat. Dessen Antwort allerdings wurde offenbar | |
per drag & drop aus einem Standardschreiben der Gewobag entnommen: Sofern | |
ein Defekt vorläge, schreibt der Staatssekretär, würde „die Reparatur | |
grundsätzlich umgehend beauftragt und zeitnah ausgeführt“. Auch „prüfe�… | |
Unternehmen eine Sanierung der Anlagen. Fall erledigt. Eine der Seniorinnen | |
aus dem 15. Stock bricht am Telefon in Tränen aus. „Wenn kein Fahrstuhl | |
fährt, kommt kein Pflegedienst. Wir sind dann auf uns allein gestellt!“ | |
## No-go-Area für arme Bewohner | |
Nicht nur „kommunales Wohnen“, auch andere eigentlich wohlklingende | |
Begriffe kann hier keiner mehr hören, „Sanierungsgebiet“ zum Beispiel oder | |
„Bürgerbeteiligung“: „Ständig sollen wir unsere Meinung sagen, aber nie… | |
hört zu. Ich rede mit keinem mehr!“ | |
Die Sätze gelten Florian Schmidt, dem grünen Bezirksstadtrat für Bauen, | |
Planen und Kooperative Stadtentwicklung, der an diesem Tag mit Leuten vom | |
Verein Bauhütte Kreuzberg an einem Stand in der Fußgängerzone herumsteht. | |
Sie wollen über das neueste Bauprojekt im Kiez, den Block 616, informieren | |
und die Anwohner ermuntern, Ideen einzubringen. Die meisten laufen so | |
blicklos vorbei wie an den Zeugen Jehovas im U-Bahnhof. In den letzten | |
zwölf Jahren haben sie gelernt, dass sich Stadtentwicklung nie an den | |
Bedarfen realer Menschen orientiert, sondern an übergeordneten politischen | |
Interessen. Und dass auch von städtebaulichen Aktivisten aus dem | |
kulturellen Spektrum keine Fürsprache zu erwarten ist. | |
2011, drei Jahre vor unserem Einzug, war die Südliche Friedrichstadt zum | |
Sanierungsgebiet erklärt worden. Für die Menschen im Viertel hatten sich | |
damit viele falsche Hoffnungen verbunden, weil Sanierung in diesem Kontext | |
nur öffentliche Räume meint, nicht Wohnhäuser. Begründete Hoffnung hatten | |
sich hingegen die Betreiber der KMA Antenne gemacht, einer gemeinnützigen | |
Tanz- und Musikschule, die gleichzeitig die einzige Kinder- und | |
Jugendeinrichtung in diesem so kinderreichen Kiez ist. Ihr Gebäude ist | |
schon lange marode. Dach und Fenster sind undicht. Im obersten Stock dürfen | |
sich nur noch sieben Menschen gleichzeitig aufhalten. | |
Aus Brandschutzgründen. „Von Anfang an hieß es, dass wir Teil der Sanierung | |
werden. Das Haus gehört ja dem Bezirk“, sagt Mareike Stanze, Leiterin des | |
Jugendclubs. „Also haben wir viel Arbeit reingesteckt, um Lösungen zu | |
finden, wie sich der Betrieb auch während der Bauzeit aufrechterhalten | |
lässt.“ | |
Doch während am Mehringplatz bald immer größere Teile des öffentlichen | |
Raums für Jahre nutzlos hinter Baugittern verschwanden, begann die | |
Sanierung weiter nördlich, wo die schicke Berliner Mitte längst mit | |
Luxus-Hotels, Büros und Galerien über den Checkpoint Charlie nach Kreuzberg | |
rüberwuchert. Eine vom Bezirk offenbar gewünschte Entwicklung, die man mit | |
schneller „Aufwertung“ des Stadtraums dort befördern wollte. | |
Parallel wurde das Areal des einstigen Blumengroßmarkts gegenüber dem | |
Jüdischen Museum passend „entwickelt“ – mit Neubaublöcken für Büros u… | |
Eigentumswohnungen, die sich „Integrationsprojekt“ oder „Metropolenhaus“ | |
nennen und nebenbei „Projekträume für die Kreativwirtschaft“ bieten. Unter | |
dem beliebten Stadtplaner-Euphemismus „aktivierte Erdgeschosse“ wurden eine | |
„Organic Bakery“, ein Lastenfahrradladen und ein Frühstücksrestaurant | |
angesiedelt – Kimchi-Croissant mit Tomatenmarmelade und Essig-Heidelbeeren | |
für 18 Euro. Eine No-go-Area für die armen Bewohner des südlich | |
angrenzenden Kiezes. | |
„Während wir in der KMA bei Regen Eimer aufstellen müssen, floss das ganze | |
Geld erst mal dorthin. Das war frustrierend“, sagt Mareike Stanze. | |
Baustadtrat Florian Schmidt kann die Kritik am Blumengroßmarkt nicht | |
vollständig teilen, als wir ihn vorm Café MadaMe zum Interview treffen. | |
Damals noch städtebaulicher Aktivist, hatte er mit Gleichgesinnten aus der | |
Berliner „Kreativwirtschaft“ die „Bauhütte Kreuzberg“ als eine Art | |
selbsternannte Bürgervertretung gegründet, um Einfluss zu nehmen: „Wir | |
haben uns dafür engagiert, dass das Gelände nicht einfach an einen Investor | |
verkauft wird, sondern man ein Konzeptverfahren macht.“ | |
Dessen Hauptziel war indes nicht sozialer Ausgleich, sondern die Ansiedlung | |
kultureller Akteure. [1][Gut für die taz, deren neues Gebäude an der | |
Friedrichstraße seine Existenz dieser Festlegung verdankt.] Gut auch für | |
die Aktivisten der Bauhütte, die sich so teilweise selbst neue Flächen | |
schufen. Einer von ihnen betreibt im dritten großen Gebäuderiegel „Frizz23�… | |
jetzt ein „Miniloft Apartment Hotel“. Konkrete Mehrwerte für die | |
Bevölkerungsmehrheit in der Südlichen Friedrichstadt gab es jedoch nicht. | |
Schmidts Resümee: „Aus heutiger Sicht kann man sagen, dass wir nicht alles | |
erreicht haben, was wir uns wünschten. Heute hätte man die Grundstücke in | |
Erbbaurecht vergeben und nur an Genossenschaften, diese Möglichkeit bestand | |
damals nicht. Aber wenn man bedenkt, dass wir in der Südlichen | |
Friedrichstadt – auch durch unsere Zukäufe in den letzten Jahren – knapp 70 | |
Prozent kommunalen Wohnungsbau haben, kann dieses Tüpfelchen | |
Hochwertigkeit, das da entstanden ist, keine Welle der Gentrifizierung | |
auslösen.“ | |
„Man könnte durchaus sagen, dass die Leute, die sich damals so für den | |
Blumengroßmarkt eingesetzt haben, vor allem eigene Interessen verfolgten“, | |
sagt Mareike Stanzes Kollegin Marthe Eggebrecht. Und eigentlich wäre das | |
gar nicht schlimm, wenn zugleich der Mehringplatz profitiert hätte. Doch | |
als dort 2020 endlich die Bauzäune abgeräumt wurden, waren die meisten | |
Läden längst weg. Was der Kiez dafür bekam? [2][Neues Straßenpflaster, eine | |
absurd fehlgeplante Durchwegung des Platzes] und die Ausweisung der | |
öffentlichen Parkanlagen als „Premium-Grünflächen“. | |
Ballspielende Kinder sind jetzt nicht mehr erlaubt. Auch nicht das | |
kostenlose Kreuzberger Spielmobil, das jeden Dienstag im Park die Jüngsten | |
bespaßte. Nun wird neben der menschenleeren Rasenfläche ein Stück Straße | |
zum Spielen abgesperrt. Knie auf Pflaster statt grüner Wiese. | |
## [3][Der Kiez wird zum Labor] | |
Florian Schmidt ist erstaunt, als wir ihn mit den Vorbehalten vieler | |
Kiezbewohner gegen die Bauhütte konfrontieren. Schmidt ist gekommen, um uns | |
Fragen zum geplanten Block 616 zu beantworten, dem Neubauvorhaben, das | |
weitere Wohnungen in den dicht besiedelten Kiez bringen soll. | |
Seine alten Gefährten von der Bauhütte und die „Parkakademie“, ein Projekt | |
von Urbanitas BB, wo Schmidt bis 2016 Mitinhaber war, haben die bezirkliche | |
Ausschreibung für eine „informelle Bürgerbeteiligung“ gewonnen. Ein neues | |
Verfahren, das die Website der Parkakademie als „milieuübergreifendes | |
Experiment der Koproduktion und kollektiven Gestaltung des öffentlichen | |
Raumes“ beschreibt. Die Bauhütte will dafür gar ein „Labor 616“ aufbaue… | |
einen „Testraum“, um „zukunftsweisende Lösungen für städtische | |
Herausforderungen zu entwickeln“. | |
„Ach, das ist ja schön, und wir sind dann wohl die Labormäuschen“, sagt | |
eine derjenigen Anwohnerinnen, die stets dort helfen, wo die Institutionen | |
versagen: Briefverkehr mit Behörden oder Einkäufe organisieren. Aber | |
konkrete Alltagshilfen dieser Art meint Maria Muñoz Duyos, Leiterin des | |
Urbanitas-BB-Büros, wohl nicht, wenn sie sagt: „Die Menschen müssen ein Wir | |
finden, um zusammenzuarbeiten, ein Wir, das neue Konstellationen der | |
Zusammenarbeit zwischen Sektoren oder sozialen und kulturellen Akteuren | |
schafft.“ | |
Ihr Ansatz: „Wir wollen reale Konflikte – Edeka ist weg und all das – auf | |
eine gute Weise nutzen. Strategien der Zusammenarbeit und der kulturellen | |
Produktion nutzen, um einen neuen Kontext aufzubauen.“ | |
Bislang greifbarstes Ergebnis: eine „mobile Modewerkstatt“ in der jetzt | |
zweimal im Monat Stickworkshops stattfinden. Kulturelle Pflaster für | |
materielle Probleme – so präsentiert sich der neoliberale Grundsatz, dass | |
stets die Menschen das Problem sind, nicht deren Lebensumstände in grünem | |
Gewand. | |
Was wirklich fehlt, meint Mareike Stanze von der Kinder- und | |
Jugendeinrichtung KMA, sind mehr Stellen für echte Sozialarbeit und – | |
natürlich – Geld: „Es gibt hier Familien, die mit 9 Personen in | |
3-Zimmer-Wohnungen leben. Das ist ein Albtraum. Armut zu Hause, nicht genug | |
Endgeräte, kein Netz – die Kids müssen in den U-Bahnhof, um sich ihre | |
Hausaufgaben runterzuladen. Viele schaffen so keinen Schulabschluss, und | |
durch Corona sind noch mehr auf der Strecke geblieben.“ | |
Die KMA konzentriere sich mangels Kapazitäten inzwischen mehr auf die | |
Jüngeren. Für die zunehmende Aggression der Älteren brauche es | |
Streetworker. Die gibt es zwar, aber das Gebiet, das die gerade mal vier | |
Mitarbeiter von Outreach zu betreuen haben, reicht vom Mehring- bis zum | |
fernen Moritzplatz. | |
## Jetzt ist auch noch der Supermarkt weg | |
Rückblick: Ein sonniger Tag im Juli. Die Schließung des Edeka hat bei | |
vielen Anwohnern das Fass zum Überlaufen gebracht. Vor allem der Grund | |
dafür: Zehn Jahre lang waren die Betreiber mit dem Versprechen auf einen | |
Neubau hingehalten worden. Aber dem Eigentümer des Gebäudes wurde die | |
Realisierung mehrfach sanierungsrechtlich versagt. | |
Weil er über dem Laden hauptsächlich Büros bauen wollte und Baustadtrat | |
Florian Schmidt auf Wohnungen bestand. Nun gibt es weder das eine noch das | |
andere und keine Nahversorgung mehr. | |
Man trifft sich vorm Al-Sultan-Bistro. Stühle werden herangeschleppt. Auch | |
wir sind dabei. Schluss mit journalistischem Abstand, heute sind wir wieder | |
Anwohner. Initiator des Treffens sind die Guerilla Architects, ein | |
Künstlerkollektiv, dessen Ziel nicht befriedendes Sticken ist. Sie wollen | |
den Leuten helfen, sich zu wehren. Im Durcheinanderreden scheint | |
Kampfeswille auf: „Kein Bock mehr zu betteln. Wir fordern jetzt!“ – „Was | |
wird eigentlich für die Kinder getan? Sind die nicht die Zukunft?“ – „Sa… | |
doch, worum es geht: Die wollen uns vertreiben!“ – „Uns?“ – „Na, die | |
Ausländer, die armen Schlucker und die Alten. Alle, die nix bringen.“ | |
Pläne werden geschmiedet, weitere Treffen vereinbart. Einen Namen braucht | |
man noch. „Revolutionärer Anwohner*innen-Rat“ (RAR) – das trifft die | |
Stimmung. | |
Vier Wochen später hängen überall im Kiez riesige Transparente mit dem | |
RAR-Logo. „Wo kaufen wir ein?“, ist über dem geschlossenen Edeka zu lesen, | |
„Wie teuer ist Leerstand?“ über anderen verrammelten Läden. An der KMA | |
prangt: „Wann wird Jugendarbeit ausfinanziert?“ Dazu gibt es Plakate in | |
allen Sprachen, die hier gesprochen werden. „Engagiert euch doch lieber im | |
Sanierungsbeirat!“, echauffiert sich ein Mann während der Anbringung und | |
bezieht sich damit auf ein Gremium, in dem Verwaltung, kommunale | |
Wohnungsunternehmen und Sanierungsbetroffene miteinander ins Gespräch | |
kommen und Empfehlungen ausarbeiten. Auch er selbst macht dort mit. | |
Die Antwort: „Ihr macht doch schon gute Arbeit.“ Und das stimmt. Von reinen | |
Gestaltungsfragen bis zur Anmahnung eines bedarfsbezogenen Gewerbekonzepts | |
– nahezu alle Forderungen von ihm und den anderen Gebietsvertretern sind im | |
Viertel konsensfähig. Sie werden nur stets „souverän wegmoderiert“, wie | |
Cafébetreiberin Karin Lücker sagt. | |
Noch sinnloser ist nur ein Engagement im Mieterbeirat der Gewobag, weshalb | |
der sich kürzlich selbst aufgelöst hat. | |
Die Transparente des RAR aber haben gezeigt, dass der Kiez weiter da ist. | |
Seine Bewohner nicht aufgegeben haben. Das mangelnde Interesse am Block 616 | |
zeigt nur, dass sie genau wissen, dass dieser Neubau keines ihrer Probleme | |
lösen wird. Zumal bis zur Realisierung laut Florian Schmidt „fünf bis sechs | |
Jahre“ vergehen werden. Viele der älteren Anwohner werden mithin bis zu | |
ihrem Tod auf Einkaufshilfe angewiesen sein. Werden damit vollends aus dem | |
Kiezleben ausgeschlossen. Still greift Panik um sich. | |
Florian Schmidt treiben andere Themen um: „Eine Art Vernetzung der | |
Kulturinstitutionen im Umfeld, dass sie vor Ort gehen, weil sie hier einen | |
Projektraum haben, wo sie mit ihren Angeboten viel näher an den Leuten | |
sind.“ | |
Projektraum – das klingt nach Blumengroßmarkt. Nach Event-Kultur, | |
Gentrifizierung. Und die ist inzwischen tatsächlich im Kiez angekommen. Im | |
ehemaligen Sozialladen hat eine vegane Pizzeria mit Preisen um die 14 Euro | |
eröffnet. Die Wohnungen der einstigen Seniorenresidenz nebendran werden | |
jetzt als temporäres Wohnen vermarktet – möbliert, für 1.700 Euro im Monat. | |
Und auch der Neubezug einzelner Ladenflächen spricht für sich: Werkstatt | |
für Designermöbel, Start-up-Büros und eine Filiale der Hipster-Imbisskette | |
Sahara in direkter Konkurrenz zum Al-Sultan-Bistro. „Wenn dahinter | |
wenigstens ein finsterer Verdrängungsplan stecken würde“, sagt einer aus | |
dem RAR. „Aber was hier passiert, ist völlig planlos. Wir können ja gar | |
nicht weg, weil es nirgendwo Wohnungen gibt.“ Also bleiben. Ausharren. Wie | |
unerwünschte Gäste im eigenen Viertel, das anderen Projektraum oder | |
Filmkulisse ist. Angst wächst. Ziellose Wut. Beteiligte Bürger in Ohnmacht. | |
So schafft man „Problemviertel“. | |
## Wem gehört der Kiez? | |
Nacht am Halleschen Ufer. Der Sommer ist lang vergangen. Menschen laufen | |
schneller. Kälte hetzt. Der Pfad, den sie in stoischer Herdengewohnheit in | |
den Mehringplatz getrampelt haben, leuchtet so hell wie die blonden | |
Pferdeschwänze, die 500 Meter weiter im „Frizzforum“ am Blumengroßmarkt b… | |
„transferfokussiertem Training“ fröhlich auf und ab hüpfen. Der Beat drö… | |
in Richtung der Kinder- und Jugendeinrichtung KMA, wo ein neuer Termin die | |
Sanierung in die Ferne schiebt. 2032. Noch neun Jahre. | |
Im Rondell quietschen Reifen. Seit der Baustellenzeit stehen die Schranken | |
zum Viertel dauerhaft offen. Autos, Roller und E-Bikes rasen durch die | |
Fußgängerzone, terrorisieren den öffentlichen Raum. Eltern fürchten um ihre | |
Kinder, Hundebesitzer um ihre Kacknasen. Für die Schließung verantwortlich | |
wären – na klar – die Hausmeister von Fletwerk. | |
„Ich bin echt ein bisschen am Ende, was den Mehringplatz im Großen angeht.“ | |
Der Bezirksstadtrat wirkt müde, als er sich im Berliner Baukollegium, einem | |
„Gremium zur Sicherung der Baukultur“, zu dieser Bemerkung hinreißen läss… | |
Auch Lulu, die obdachlose Nachbarin, ist müde. Frierend kauert sie sich in | |
eine dunkle Ecke der Betonburg. Unbeschützt vorm großen Wandel, der zuerst | |
die Kleinsten, die Schwächsten, die Unbehausten und Einsamen trifft. Halb | |
abgerissen flattert neben ihr trotzig ein RAR-Plakat im Wind: „Wem gehört | |
der Kiez?“ | |
16 Dec 2023 | |
## LINKS | |
[1] /UnsereneuenNachbarn/!5539548/ | |
[2] /Urbane-Gestaltung-in-Kreuzberg/!5961473 | |
[3] /Zusammenleben-in-Berlin/!5859324 | |
## AUTOREN | |
Manja Präkels | |
Markus Liske | |
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