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# taz.de -- Jetzt spricht Berlins Friedrichstraße: Gefragt hat mich noch keiner
> Erst Fußgängerzone, bald wieder Autos. Kaum einer Straße wurde so
> zugesetzt wie der Friedrichstraße. Was, wenn sie vom Objekt zum Subjekt
> würde?
Bild: Er will hoch hinaus, genauso wie die Straße selbst
Jetzt bin ich schon mehr als dreihundert Jahre alt, aber gefragt hat mich
immer noch keiner.
Der erste, der über mich hinwegentschied, war ein eitler Fatzke.
[1][Friedrich hieß er, ein Kurfürst, der sich 1701 zum König in Preußen
krönen ließ].
So sehr war dieser Fritzefatzke von sich überzeugt, dass er nicht nur das
neue Quartier westlich seines Schlosses nach sich benennen ließ, sondern
auch die ehemalige Querstraße. Würde das heute noch Schule machen, hieße
ich vielleicht Franziskastraße oder Bettinasteig.
Die eine wollte, dass mir Autos über den Buckel fahren, die andere stand
eher auf Fahrräder. Jetzt ist da eine neue, deren Namen ich schon wieder
vergessen habe, [2][die lässt die SUV wieder rollen]. So werde ich auf
meine alten Tage hin- und hergeschubst. Ich werde langsam müde.
## Ohne mich ging nichts
Als ich noch jung war, war ich mitten drin. Revolution. Barrikaden.
Märzkämpfe. Die einen hab ich aufgehalten, die andern durchgelassen. Ohne
mich ging nichts. Heute bauen sie wieder Barrikaden. Fürs Stadtmarketing.
Manchmal fühle ich mich wie eine dieser Beachflags, die sich immer im Wind
hin- und herbiegen.
[3][Aber in meinem Glanz wollten sie sich schon immer sonnen]. Die Ecke zu
den Linden, legendär. Und die Goldenen Zwanziger erst, die hängen mir noch
immer an. [4][Die Varietés am Bahnhof], die leichten Mädchen, Berlin war
eine Großstadtsinfonie, und ich war eine ihrer Sinfonikerinnen. Hat dabei
jemand an meine Kinder gedacht? Die im Norden, zur Chauseestraße hin oder
zum [5][Belle-Alliance-Platz] im Süden? Nichts war da aus Gold, die mussten
gucken, wo sie bleiben. Schaut auch auf die Schattenseiten, hab ich
manchmal geschrien. Aber auf dem Ohr waren sie taub.
Wann wurde ich eigentlich zum Opfer meines eigenen Erfolgs? Zum Bild, dem
nichts mehr entsprach in der Wirklichkeit? Nach dem Krieg haben sie mich
durchgeschnitten. Meine Beine standen nun im Schaufenster des Westens, der
Rest fiel in die Hände von Arbeitern und Bauern. Umbenannt haben die mich
nicht, umgebaut schon. Der letzte Schrei waren die Friedrichstadtpassagen,
die mir an die Seite gestellt wurden. Da half es auch nichts, dass sie der
Volksmund „Tuntenbrosche“ nannte oder „Usbekischer Bahnhof“.
Nach der Wende war der Spuk vorbei. Die Arbeiter und Bauern waren weg, an
der Stelle, an der ich wieder zusammengeklebt wurde, tummeln sich jetzt die
Touristen. Die find' ich eigentlich ganz okay, auch wenn ich nicht immer
verstehe, was sie sagen. Englisch hat mir keiner beigebracht, aber
Fredericks Street wär auch nicht so mein Ding.
Ich hätte es gut gefunden, wenn mich die Touristen auch auf ganzer Länge
bequatscht hätten. Und die Berlinerinnen und Berliner, die was kaufen
wollen, was trinken, was gucken. Oder die Landeier, die aus dem Bahnhof
fallen und ein bisschen Stadt spielen wollen und bei Lafajette große Augen
kriegen.
Denn auf meine alten Tage spüre ich grade einen neuen Frühling. Alle freuen
sich mit mir, tanzen auf meinem Rücken, anstatt ihn zu befahren. Und das
soll nun wieder vorbei sein?
In den letzten Tagen habe ich oft gedacht: Jetzt geben sie mir den
Gnadenschuss. Aber so weit bin ich noch nicht. Das letzte Wort hab diesmal
ich. Was ich sagen werde? Bleibt mein Geheimnis. Vielleicht mache ich es
wie der Kaiserdamm. Ermüdungsbruch. Dann geht gar nichts mehr. Wie damals
mit den Barrikaden. Oder ich mach ganz was Neues. Lasst euch überraschen!
27 May 2023
## LINKS
[1] https://entwicklungsstadt.de/artikelreihe-die-geschichte-der-friedrichstras…
[2] /Friedrichstrasse-nicht-mehr-autofrei/!5933351
[3] /Berliner-Friedrichstrasse-in-der-Krise/!5607068
[4] https://www.dhm.de/blog/2016/09/19/ein-tag-im-berlin-der-goldenen-zwanziger/
[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Mehringplatz
## AUTOREN
Uwe Rada
## TAGS
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