# taz.de -- Kampf ums Recht auf Abtreibung: Globales Tauziehen um Frauenrechte | |
> Der Oberste Gerichtshof der USA will das Recht auf Abtreibung kippen. | |
> Auch international bringt das Gewissheiten ins Wanken. | |
Bild: Eine Demonstrantin vor dem amerikanischen Supreme Court | |
Es war ein globaler feministischer Meilenstein: Im Januar 1973 entschied | |
der Oberste Gerichtshof der USA, dass Frauen das Recht haben, über den | |
Abbruch einer Schwangerschaft selbst zu entscheiden. Zwar waren die USA | |
nicht das erste Land, das Abbrüche legalisierte – 1920 etwa war die | |
Sowjetunion vorangegangen, seit 1972 war es Frauen in der DDR erlaubt, bis | |
zur zwölften Woche abzutreiben. | |
Stabil jedoch waren diese Rechte selten. Seit einem halben Jahrhundert aber | |
war eben die US-amerikanische Verfassung ein verlässlicher Bezugspunkt für | |
Frauen auf der ganzen Welt. Eine Demokratie, die Frauenrechte achtet, ging | |
mit gutem Beispiel voran: Bis zum Zeitpunkt, an dem der Fötus außerhalb des | |
menschlichen Körpers selbst lebensfähig ist – bis etwa zur 24. Woche – | |
können Frauen in den USA bis heute selbst entscheiden, ob sie ihre | |
Schwangerschaft austragen möchten oder nicht. | |
Nun tut sich jedoch ein Abgrund auf. Seit Jahrzehnten, letztlich seit | |
[1][dem „Roe vs. Wade“ genannten Urteil], war das Recht auf | |
Schwangerschaftsabbruch erbittert umkämpft. Es war zu befürchten, was | |
Anfang der Woche in einer katastrophalen Erklärung des Obersten Gerichts | |
per Leak an die Öffentlichkeit gelangte und was bis Juni final entschieden | |
werden soll: Demzufolge will das seit Donald Trumps Amtszeit | |
ultrakonservativ besetzte Gericht „Roe“ kippen – das eigene historische | |
Grundsatzurteil also. | |
Es wäre eines der kontroversesten und folgenschwersten Urteile des Gerichts | |
seit Langem. Zum einen für die USA selbst, die zwar immer [2][eine starke | |
feministische Bewegung hatten], in denen es aber ebenfalls eine | |
einflussreiche antifeministische und fundamentalistische Rechte gibt: Die | |
Gesetzgebungskompetenz würde zurück an die Bundesstaaten fallen, von denen | |
mehr als die Hälfte Verbotsgesetze schon in der Tasche hat – darunter | |
Totalverbote, unter denen noch nicht einmal im Fall von Vergewaltigung | |
Abbrüche möglich sein sollen. Zwar könnten Frauen vor allem aus dem Süden | |
und Mittleren Westen der USA dann noch in andere Bundesstaaten reisen, die | |
Abbrüche noch nicht illegalisiert haben. Ob das allerdings tatsächlich | |
möglich sein würde, wäre eine Klassenfrage. Arme Frauen, oft arme und | |
Schwarze Frauen, würden in vielen Fällen kaum genug Zeit und Geld | |
aufbringen, um zum Teil mehrfach weite Reisen auf sich zu nehmen. | |
## Globales Tauziehen um Frauenrechte | |
Ähnlich erschütternde Konsequenzen hätte eine solche zunächst | |
innenpolitische Entscheidung allerdings auf globaler Ebene. Zwar haben in | |
den vergangenen Jahren etwa Irland, Argentinien und Kolumbien das Recht auf | |
Abbruch liberalisiert. Seit Mitte der 1990er Jahre haben weltweit nur drei | |
Länder das Recht eingeschränkt, statt es zu lockern: Polen, El Salvador und | |
Nicaragua. Nichtsdestotrotz sind in mehr als 20 Ländern Abbrüche noch immer | |
unter allen Umständen verboten – auch dann, wenn das Leben der Schwangeren | |
in Gefahr ist, wie es auch im EU-Land Malta gilt. In verschiedenen Ländern | |
kommen Frauen wegen Tot- oder Fehlgeburten ins Gefängnis. Allein zwischen | |
2000 und 2014 etwa wurden fast 150 Frauen in El Salvador wegen solcher | |
Fälle zu mehrere Jahrzehnte umfassenden Haftstrafen verurteilt. | |
[3][Die USA nun sind – ob gerechtfertigt oder nicht – in Bezug auf | |
Menschenrechte noch immer ein Anker] vor allem für westliche Demokratien. | |
Kippen die USA, kippt ein immens wichtiger Player im globalen Tauziehen um | |
Frauenrechte. Für viele lateinamerikanische Staaten mit restriktiver | |
Gesetzgebung beispielsweise ebenso wie für das rechts regierte Polen wäre | |
es ein Leichtes, mit Blick auf die USA das eigene Verbot dann auch zu | |
beklatschen. | |
Auch die deutsche Rechte und die sogenannte „Lebensschutz“-Szene würde | |
mindestens diskursiv vom Rückenwind enorm profitieren. Einzelpersonen und | |
kleinere Initiativen bis hin zu größeren Verbänden und finanzstarken | |
Organisationen bauen ihre Kontakte zudem auch in die parlamentarische | |
rechtskonservative und rechte Ebene aus und pflegen zum Teil sehr enge | |
Kontakte in die US-amerikanische Szene. Langfristig wäre international eine | |
Kettenreaktion zu befürchten, wären die Auswirkungen für den Stellenwert | |
emanzipatorischer, menschenrechtsbasierter Politik immens. | |
Zudem wären sowohl die Außenpolitik als auch Entwicklungszusammenarbeit | |
betroffen. Weder könnte Joe Biden, der sich innenpolitisch für „Roe“ stark | |
macht, auf internationaler Ebene – etwa bei den Vereinten Nationen – als | |
offensiver Fürsprecher der Frauenrechte auftreten, wenn diese in den USA | |
selbst mit Füßen getreten würden. Wenn er schon im eigenen Land zu schwach | |
ist, Frauenrechte zu sichern, wie sollte er da noch glaubwürdig auftreten? | |
## Die deutsche Bundesregierung bleibt stumm | |
Auch ob die USA der größte staatliche Geldgeber für | |
Familienplanungsorganisationen im globalen Süden bleiben würden, ist | |
fraglich. Was ein solches Urteil für NGOs bedeuten würde, ist ökonomisch | |
wie rechtlich noch überhaupt nicht abzusehen. Die Konsequenzen wären | |
naheliegend: mehr ungewollte Schwangerschaften, Abbrüche unter unsicheren | |
Bedingungen und damit auch Tode. | |
Abbrüche sind seit Jahrhunderten umkämpft. Es ist tatsächlich ein | |
Kulturkampf, der sich über sie Bahn bricht, aber längst nicht „nur“ | |
Abbrüche betrifft. Expert:innen wie der Autorin Brynn Tannehill zufolge | |
klingt im Papier des Obersten Gerichts bereits durch, dass auch die | |
gleichgeschlechtliche Ehe, überhaupt die Rechte von LGBTI angegriffen | |
werden könnten, bis hin zur Illegalisierung ihrer sexuellen Orientierung. | |
Dass die konservative Rechte, deren Erfolg das Papier ist, darauf | |
hinarbeitet, ist lange klar. Was gerade in den USA passiert, ist | |
unmissverständlicher Vorbote eines umfassenden geschlechterpolitischen | |
Rollbacks. | |
Schon jetzt haben die Absichten [4][des Obersten Gerichts in den USA] ein | |
politisches Erdbeben ausgelöst. Das macht zumindest ein klein wenig | |
Hoffnung, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. US-amerikanische | |
Frauen haben ihre Rechte seit einem halben Jahrhundert internalisiert und | |
sehen nun einer sich rapide verschlechternden Realität ins Auge. Die | |
Proteste kochen hoch, längst bis in die parlamentarische Ebene. Auch | |
Politiker:innen wie der kanadische Premier Justin Trudeau haben | |
bereits offensiv Partei ergriffen für „Roe“. | |
Die deutsche Bundesregierung hingegen bleibt stumm. Das war absehbar – | |
schließlich sind Abbrüche in Deutschland seit 150 Jahren illegal und nur | |
unter bestimmten Bedingungen straffrei. Auch hierzulande arbeitet eine | |
rechte und fundamentalistische Bewegung daran, anschlussfähig für die | |
konservative Mitte zu werden und das Rad zurückzudrehen: Abbrüche als Mord | |
zu brandmarken, Frauen zu beschämen und Kontrolle über Körper zu erlangen. | |
Denn darum geht es: um Macht, um Abhängigkeiten, um die Aufrechterhaltung | |
des Unterschieds zwischen den Geschlechtern. Rechte Politik braucht | |
Frauenkörper, um zu funktionieren. Mit der Abschaffung von „Roe“ würde sie | |
ihrem Ziel global einen großen Schritt näherkommen. | |
6 May 2022 | |
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## AUTOREN | |
Patricia Hecht | |
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