# taz.de -- Grüne Energie in Schleswig-Holstein: Glauben an den Wind | |
> Zwei Küsten, viel Wind, hervorragende Bedingungen: Schleswig-Holstein war | |
> Vorreiter der Energiewende. Dann stockte sie. Doch es gibt neue Ideen. | |
Bild: Baustelle eines Windparks in Stuckum, Schleswig-Holstein | |
Reußenköge/Rendsburg taz | Auf den Großbildschirmen der Leitwarte dominiert | |
an diesem Nachmittag die Farbe Grün, die anzeigt: Die Windkraftanlagen, die | |
die Firma GP Joule von ihrem Sitz bei Husum aus betreut, laufen. In | |
Deutschland, Frankreich und Italien drehen sich die Rotoren. Der Strom | |
fließt ins Netz. | |
An diesem Dienstag im April bestaunt eine Delegation aus Kiel und Berlin | |
die Bildschirme im Kontrollraum des Energieunternehmens. Da [1][in | |
Schleswig-Holstein bald gewählt wird], hält der Bundesvorstand der Grünen | |
seine Klausurtagung an der Nordsee ab, zusammen mit dem landespolitischen | |
Spitzenpersonal. Zum Abschluss steht die Besichtigung in der Gemeinde | |
Reußenköge auf dem Programm, wo Ove Petersen rund um den Bauernhof seiner | |
Eltern seit 2009 ein Vorzeigeprojekt der Energiewende aufgebaut hat. | |
Windkraft, Photovoltaik, Wasserstoff: GP Joule entwickelt Technik, plant | |
und baut Anlagen im Auftrag von Kunden und übernimmt auf Wunsch auch deren | |
Betrieb. | |
Das Geschäft läuft gut. Und doch hat Petersen ein Problem: Dass an diesem | |
Nachmittag auf den Bildschirmen so viel Grün zu sehen ist, ist ein | |
Glücksfall. Häufig stehen die Windräder auch still – trotz guter | |
Wetterbedingungen. Nicht wegen technischer Probleme, sondern weil [2][die | |
Kapazität der Stromnetze erschöpft ist]. Gerade wenn die Sonne strahlt und | |
der Wind weht, wenn also viel Strom produziert werden kann, müssen Anlagen | |
oft abgeregelt werden. „Wir werden unseren Strom hier nicht los“, sagt | |
Petersen. | |
Nicht nur bei GP Joule hadert man damit, sondern auch anderswo in | |
Schleswig-Holstein. Das Land ist im Grunde ein Vorreiter der Energiewende. | |
Schon seit Jahren produziert Schleswig-Holstein deutlich mehr Strom aus | |
erneuerbaren Energien, als es selbst verbraucht. Die Lage des Landes | |
zwischen zwei Küsten bietet hervorragende Bedingungen für die Nutzung von | |
Windkraft sowohl an Land als auch durch Offshore-Anlagen. Die | |
Energiepolitik ist ehrgeiziger als in manch anderem Bundesland. | |
## Nutzung zur Wasserstoffproduktion | |
Das zahlt sich aus. Der „Reichtum an sauberer Energie“ lockt neue | |
Investoren an. So plant das schwedische Unternehmen Northvolt im Kreis | |
Dithmarschen eine Fabrik für Autobatterien mit mehr als 3.000 Jobs und eine | |
Aufbereitungsanlage für Alt-Akkus – der „größte industriepolitische Erfo… | |
für die Westküste und ganz Schleswig-Holstein seit 50 Jahren“, freute sich | |
Ministerpräsident Daniel Günther (CDU). Die Fabrik passt zum Konzept der | |
Landesregierung, in der strukturschwachen Region an der Nordsee den dort | |
produzierten Strom zur Wasserstoffproduktion zu nutzen. | |
Stand jetzt wird das Potenzial der Stromerzeugung aus den Erneuerbaren aber | |
dennoch nicht ausgeschöpft. Im Jahr gingen in Schleswig-Holstein 3.000 | |
Gigawattstunden verloren, weil Windkraftanlagen abgeregelt werden mussten – | |
der Jahresbedarf von mehr als einer Million Haushalten hätte davon gedeckt | |
werden können. Das Ausmaß der Abschaltungen sinkt zwar, vor allem weil die | |
Stromnetze im Norden in den letzten Jahren ausgebaut wurden und sie nun | |
mehr Strom transportieren können. Dennoch stehen Windräder noch immer oft | |
still. | |
## Neue Verwendung für Strom | |
Die Visite bei GP Joule verläuft anders als andere solcher PR-Termine. | |
Normalerweise bemühen sich Besuchergruppen aus der Politik, bei | |
Firmenrundgängen durch interessierte Fragen ihre Zugewandtheit zu | |
demonstrieren. Nicht dass die Grünen-Spitze in Reußenköge desinteressiert | |
wäre – gegen Energieunternehmer Petersen kommen sie schlicht nicht oft zu | |
Wort. Ove Petersen von GP Joule hat nämlich einen Vorschlag zur Lösung des | |
Problems der Abschaltung: dezentrale, sektorübergreifende Modelle. | |
Ein solches Projekt hat seine Firma in der Region vorangetrieben. | |
Produzieren Windparks in der Region zu viel Strom, wird ein Teil davon in | |
Wasserstoff umgewandelt. Für den Regionalverkehr hat GP Joule auf eigene | |
Rechnung zwei Busse angeschafft, die mit Wasserstoff betankt werden. Der | |
überschüssige Strom findet so doch noch seine Verwendung. | |
## Ausbau wieder vorantreiben | |
Ähnliche Pilotprojekte gibt es auch anderswo in Schleswig-Holstein. In | |
Friedrich-Wilhelm-Lübke-Koog, einer Gemeinde in Nordfriesland, werden | |
Häuser über einen externen Tauchsieder direkt mit Windstrom geheizt. Dazu | |
schaltet die Heizung von Öl auf Strom, wenn das Netz eine Überkapazität | |
meldet und die Windkraftanlage damit ansonsten abgeschaltet werden müsste. | |
Den überschüssigen Strom nutzbar zu machen ist aber nur eine Aufgabe, vor | |
dem das Land steht. Die zweite ist, [3][den Ausbau der Windkraft- und | |
Solaranlagen] wieder voranzutreiben, auch wenn es angesichts der | |
Überkapazitäten in Spitzenzeiten paradox erscheint. In letzter Zeit ist der | |
Ausbau im früheren Energiewende-Musterland ins Stocken geraten, und selbst | |
wenn einige Anlagen mehr hinzukommen, reiche das längst nicht, meint Marcus | |
Hrach, Leiter der Landesgeschäftsstelle Schleswig-Holstein des | |
Bundesverbands Windenergie: „Energiewende funktioniert nur mit | |
Überkapazität. Wenn der Wind weht und die Sonne scheint, müsste ein Land | |
wie Schleswig-Holstein 500 Prozent seines Bedarfs erzeugen und für Tage mit | |
Flaute und Regen speichern.“ | |
## Verlorene fünf Jahre | |
2.981 Windräder drehen sich heute in Schleswig-Holstein. Fast mantrahaft | |
wiederholt der SPD-Spitzenkandidat Thomas Losse-Müller diese Zahl. Denn | |
2.981 Mühlen waren es auch schon am Ende der vergangenen Wahlperiode, als | |
Losse-Müller als Chef der Staatskanzlei unter dem SPD-Ministerpräsidenten | |
Torsten Albig für den Windkraftausbau zuständig war. Keine einzige Anlage | |
kam hinzu, also verlorene fünf Jahre, kritisiert die SPD. | |
Ganz stimmt diese Bilanz nicht: Zahlreiche alte Windräder wurden durch | |
größere ersetzt, damit stieg die Stromproduktion. Zudem gab es mehrere | |
Jahre lang nur Ausnahmegenehmigungen für den Bau neuer Windmühlen, nachdem | |
ein Gericht die frühere Landesplanung gestoppt hatte. Inzwischen aber | |
laufen die Verfahren an. Laut dem Grünen-geführten Energiewendeministerium | |
sind weitere 395 Anlagen genehmigt. | |
## Fragliche Flächen | |
Wie es noch mehr werden können? Viele Parteien, auch die CDU, setzten in | |
ihren Wahlprogrammen auf „Bürgerwindparks“, bei denen ganze | |
Dorfgemeinschaften gemeinsam Windräder errichten. Doch dieses Erfolgsmodell | |
klappte nur auf Basis des Erneuerbare-Energien-Gesetzes, das Windstrom | |
bevorzugte. Ohne diese Förderung werde es schwer werden für | |
Kleininvestor*innen, befürchtet Hrach: „Das Risiko ist zu groß.“ | |
Fraglich ist auch, ob ausreichend Flächen für den Energiebedarf zur | |
Verfügung stehen werden. Schleswig-Holstein hat aktuell 2 Prozent seiner | |
Landesfläche für erneuerbare Energien reserviert – und will mehr: Bei einer | |
Podiumsdiskussion im Januar erklärten Vertreter*innen von Grünen und | |
SPD, aber auch CDU und FDP, sie würden nach der Wahl nicht am | |
2-Prozent-Ziel festhalten. | |
## Der Frust wächst | |
Allerdings gibt es ein Problem: Die Jamaika-Regierung hat die Abstände | |
zwischen Häusern und Windkraftanlagen vergrößert, wie die CDU es vor der | |
Wahl 2017 versprochen hatte. Die Regel betrifft auch Gehöfte, die einsam | |
zwischen Feldern liegen. Bleiben die Abstände so, wird es langsam eng im | |
Land. Eine Lösung könnte Photovoltaik sein. Das Land hat eine Pflicht | |
erlassen, Solaranlagen auf Nichtwohngebäude und Parkplätzen zu errichten. | |
Laut Studien könnten so 7 bis 9 Gigawatt an sauberem Strom zusätzlich | |
erzeugt werden – es wird aber dauern, bis die Maßnahme umgesetzt ist. | |
Unter Windmüller*innen und Investor*innen wächst der Frust über das | |
langsame Tempo: Alles in allem spiegele sich „die wachsende Bedeutung der | |
erneuerbaren Energiegewinnung nicht ausreichend in der Landespolitik | |
wider“, kritisiert Marcus Hrach. | |
## Umstrittener Flüssiggasterminal | |
Dass es nicht so schnell geht, liegt teilweise an Bundesgesetzen oder – | |
Stichwort Netzausbau – am Widerstand der anderen Bundesländer. Doch es gibt | |
im eigenen Land eine Reihe von Hindernissen und Problemen. So protestiert | |
der Deutsche Wetterdienst gegen Anlagen, die zu dicht an | |
Regenradarstationen stehen, und stützt sich dabei auf ein Gutachten des | |
Energiewendeministeriums. Bekannt ist der [4][Widerstreit zwischen | |
Naturschutz auf der einen und Windmühlen auf der anderen Seite], der immer | |
wieder den schnelleren Ausbau stoppt. | |
Schnell geht es jetzt hingegen ausgerechnet mit einem fossilen | |
Energieprojekt: dem Flüssiggasterminal in Brunsbüttel, schon lange im | |
Gespräch, wegen des Ukrainekriegs jetzt aber mit besten Chancen auf | |
Verwirklichung. Ob er tatsächlich benötigt wird, damit Deutschland von | |
russischem Pipelinegas unabhängig wird, ist umstritten. Der grüne | |
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck will aber den Ausbau. In | |
Schleswig-Holstein sind CDU, SPD und FDP dafür, die Minderheitenpartei SSW | |
und die Linke dagegen. Bei den Landes-Grünen wird zwischen Spitze und Basis | |
gestritten. Die Basis sprach sich auf dem jüngsten Parteitag dagegen aus. | |
6 May 2022 | |
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## AUTOREN | |
Esther Geißlinger | |
Tobias Schulze | |
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