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# taz.de -- Harald Welzer zum Offenen Emma-Brief: „Die Gewaltlogik unterbrech…
> Er halte die Eskalation des Mitteleinsatzes für die Ukraine für
> problematisch, sagt Harald Welzer. Gewaltprozesse stoppe man so nicht.
Bild: Eine russische Bombe hat am 22.04.2022 das Haus dieser Bewohner:innen in …
taz: Herr Welzer, Sie haben sich [1][mit einem offenen Brief] viel
Gegenwind eingehandelt. Wie waren die letzten Tage für Sie und Ihre
Mitunterzeichner*innen?
Harald Welzer: Wie zu erwarten. Wir haben ja insbesondere in der
Medienlandschaft eine relativ homogene Haltung, die konträr zu unserem
Brief steht. Insofern hat es mich überhaupt nicht gewundert, dass es Kritik
oder Empörung oder was auch immer gibt. Ich habe auch nichts dagegen, einen
auf die Mütze zu kriegen. Es geht ja um was.
Warum haben Sie diesen Brief unterschrieben?
Weil ich erstens die Eskalation des Mitteleinsatzes für die Ukraine für
problematisch halte. Gewaltprozesse stoppt man nicht, wenn man den
Mitteleinsatz steigert. Und weil ich zweitens denke, dass die
Vereinheitlichung der Perspektive auf die scheinbare Notwendigkeit, immer
mehr und schwerere Waffen zu liefern, die Suche nach anderen Möglichkeiten
überdeckt. Man muss in so einer brisanten Situation nach Chancen suchen,
die eskalierende Gewaltlogik wenigstens zu unterbrechen.
Man liefert sich doch dem Kreml aus, wenn man den Wünschen aus dem offenen
Brief folgt und sagt: Wir liefern lieber keine Waffen, weil uns Russland
sonst mit Atomwaffen angreifen könnte.
Wieso begibt man sich denn dadurch in die Hand des Kremls?
Weil man die Definition des für Russland Zumutbaren dem Kreml überlässt.
Außerdem hat Diplomatie auch unmittelbar vor dem 24. Februar, unter anderem
durch Olaf Scholz, gar nichts genützt.
Das heißt aber nicht, dass man sie für den Rest aller Tage abschaffen
könnte. Wir können uns doch Szenarien ausdenken, wie die ganze Geschichte
jetzt weitergeht.
Und die wären aus Ihrer Sicht welche?
Ich sehe drei: Nummer eins ist die Lieferung weiterer Waffen, und das würde
bei Panzern nicht stehen bleiben. Die Forderung ist logisch beliebig
steigerbar. Die Mittel, die Putin einsetzen kann, sind auch beliebig
steigerbar. Das erwartbar positivste Szenario ist da noch ein auf Dauer
gestellter Zermürbungskrieg. Darauf läuft die gegenwärtige Entwicklung
hinaus.
Verstanden.
Die schlechtere Variante wäre eine Entgrenzung dieses Krieges, also das
Ausgreifen auf andere Nationen. Dann hat man den dritten Weltkrieg. Das
dritte Szenario wäre der Atomkrieg, den wir alle nicht kennen. Wir wissen
nur, dass er die Zivilisation, wie wir sie kannten, nicht unbeschädigt
lassen würde. Alle drei Szenarien finde ich nicht wünschenswert, und
deshalb ist die Suche nach einem vierten Szenario enorm wichtig, um
mindestens mal die Logik der Zwangsläufigkeit dieser drei Szenarien zu
unterbrechen.
Das vierte Szenario gibt es doch schon: Russland wird militärisch in der
Ukraine so sehr geschwächt, dass die Bereitschaft zu einem akzeptablen
Kompromiss steigt.
Der Einsatz der Mittel wurde ja schon gesteigert, ohne dass es Putins
Verhandlungsbereitschaft erhöht hat. Im Hintergrund haben sich aber unsere
nicht formulierten Kriegsziele radikal verändert, während wir auf der
Vorderbühne ausschließlich über Waffenlieferungen diskutiert haben. Die
Außenministerin hat am Sonntag zu meinem großen Erstaunen gefordert, den
ursprünglichen Zustand der Ukraine wiederherzustellen, inklusive Krim und
Donbass. Und auf dem taz lab war zu hören, es ginge um den System-Change in
Russland. Das finde ich schon spektakulär.
Warum führt Putin, Ihrer Ansicht nach, diesen Krieg gegen die Ukraine?
Aus imperialistischen Interessen.
Wird Putin jetzt nicht gestoppt: würde man dann nicht immer wieder mit
diesen imperialistischen Gefahren zu tun haben, angefangen beim Baltikum?
Absolut. Das ist ja gerade mein Problem. Wir haben eine Renaissance des
Imperialismus. Aber der russische Akteur ist nicht der einzige Imperialist
in der geopolitischen Figuration. Er ist möglicherweise nur der erste, der
massiv vorangeht. Und gerade weil wir es mit einer vollkommenen Veränderung
und Neuausrichtung der kompletten geopolitischen Figuration zu tun haben,
kann man doch nicht so kurzsichtig sein, zu glauben, man müsste jetzt in
irgendeiner Weise einen Regime-Change in Russland herstellen. Das ist
wirklich der Weltkrieg, wenn man das versucht.
Als Alternative fordern Sie in Ihrem Brief einen Kompromiss, der für beide
Seiten akzeptabel ist. Wie soll der aussehen?
Das muss sich in Verhandlungen zeigen. Mein Ziel ist sogar noch defensiver.
Mir kommt es darauf an, alle Chancen zu aktivieren, um irgendwie eine
Situation der Kommunikationsfähigkeit herzustellen – etwa einen temporären
Waffenstillstand, damit Perspektiven auftauchen können, wie man zu einem
Kompromiss kommt.
Sie fordern einen Kompromiss, sagen aber nicht, wie er aussehen kann.
Machen Sie es sich nicht ein bisschen einfach?
Ich habe doch keine Hybris und bin nicht in der Position, zu sagen, welchen
Kompromiss die Ukraine und Russland aushandeln müssen. Das geht überhaupt
nicht.
Lassen Sie uns doch mal spekulieren. Luhansk, Donezk und die Krim bleiben
russisch? Es gibt eine entmilitarisierte Zone?
Das muss sich nach Maßgabe der Machtverhältnisse dann irgendwie
konturieren. Ich werde den Teufel tun und jetzt sagen, was der geeignete
Kompromiss wäre, weil mir dann zu Recht alle Ukrainerinnen und Ukrainer
aufs Dach steigen würden. Aber wir können uns doch vielleicht auf die
Minimalrationalität verständigen, dass die Betrachtung einer zivilen, einer
zivilisatorischen Dimension der Konfliktaustragung wieder ins Spiel
gehört.
Können Zugeständnisse für die Ukraine bei allem Leid, das sie durch den
Krieg erfahren hat überhaupt akzeptabel sein?
Das weiß ich nicht. Aber ich könnte die Gegenfrage stellen: Kann eine
weitere Steigerung der Gewalt akzeptabel sein? Es wird zu Recht auf das
Entsetzen über die Kriegsverbrechen, die Vergewaltigungen und die extreme
Tötungsgewalt hingewiesen. Aber wenn ich einen solchen Krieg auf Dauer
stelle, dann stelle ich auch die Kriegsverbrechen und die Vergewaltigungen
und das Töten auf Dauer.
Aus ukrainischer Perspektive könnten Ihre Vorschläge einem politischen
Kotau gleichkommen.
Wir müssen sehen, dass wir zwei Logiken haben, die nicht in eins gesetzt
werden können: Wenn ich angegriffen werde, geht es mir um meine
Verteidigung um jeden Preis. Wenn ich nicht Kriegspartei bin, geht es mir
um die Verhinderung einer Entgrenzung des Krieges. Versuche ich, in einer
übergeordneten Perspektive auf eine Friedensordnung hinzusteuern und die
Mechanismen zu ventilieren, wie ich dahin komme? Oder geht es mir darum,
wie ich mich gegen einen Angriff wehre? Beides schließt sich nicht
unbedingt aus. Es ist aber nicht dasselbe.
Man könnte aber auch sagen: Zu einer Friedensordnung kann man überhaupt
erst wieder kommen, wenn die Ukraine in der Lage ist, sich zu verteidigen.
Das kann man auch in Frage stellen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie zu
einer zivilisatorischen Lösung kommen, sinkt mit der Eskalation der
Gewaltdynamik. Beziehungsweise: Sofern keine Atomwaffen eingesetzt werden,
passiert das irgendwann nach fünf oder sechs Jahren, wenn der
Zermürbungsprozess des Kriegshandelns so lange geht, bis nichts mehr geht.
Alexander Kluge hat in extenso beschrieben, wie so was aussieht.
Der Autor und Filmemacher hat in einem Interview nach der Veröffentlichung
des offenen Briefes gesagt, die Ukraine möge bitte kapitulieren. Er habe
die Erfahrung in Halberstadt als Kind selbst gemacht. So schlimm sei das
nicht.
Ja, das ist doch eine diskutable Position.
Halberstadt hat geschehen müssen, da ging es um den Sieg über
Nazideutschland. Jetzt geht es um die Verteidigung gegen das Putin-Regime.
Das Zitat ist, glaube ich, anders zu verstehen. Es ist ein autobiografisch
fundiertes Zitat. Da spricht er aus der Perspektive des Kindes, das Opfer
des Krieges ist und aus dessen Sicht eine Kapitulation eine durchaus
wünschenswerte Haltung ist, weil es dann nämlich überleben kann. Es geht
nicht um eine allgemeingültige Theorie über die Beendigung von Kriegen oder
darum, dass Kapitulation in jedem Fall vorzuziehen sei.
Aus der Tradition der bundesdeutschen Friedensbewegung wurde im Diskurs mit
den Antitotalitären gesagt: Lieber rot als tot. Im Sinne eines
Freiheitskampfes ist eine solche These vielleicht nicht mehr tragfähig.
In solchen Fragen taucht genau das Problem konventioneller
Auseinandersetzungen auf: Die Zuspitzung der Situation auf etwas Binäres,
bei dem es nur eine richtige oder eine falsche Antwort gibt. Binär ist es
auch, wenn man verengt davon spricht, die Ukraine zu unterstützen oder
nicht zu unterstützen. Ich denke, dass man das eine vielleicht tun kann,
ohne der Logik der Gewalteskalation zu folgen, dass man das aber aushandeln
und irgendwie schauen muss, wie man da weiterkommt.
Apropos Zwischentöne: Sind Sie eigentlich nur gegen die Lieferung schwerer
Waffen aus Deutschland oder gegen die Lieferung jeglicher Waffen und woher
auch immer?
Wenn ich ehrlich bin, war ich von vornherein gegen Waffenlieferungen.
Jetzt, nach zwei Monaten, ist es notwendig, eine Zäsur zu machen. Es ist
ein großer Wert, Ohne unseren offenen Brief wäre das nicht der Fall
gewesen. Das ist doch besser, als nicht zu sprechen und der merkwürdig
morphischen Koalition aus Anton Hofreiter und Frau Strack-Zimmermann die
Ratio zu überlassen.
Wenn die Ukraine von Anfang an keine Waffen aus dem Ausland erhalten hätte,
wäre sie schon russisch.
Wie weit wollen wir jetzt zurückgehen? Wir können doch sofort eine
Übereinstimmung darüber herstellen, dass die Reaktion auf 2014 vollkommen
falsch war. Wir können dann weitergehen und sagen: Die ganze Diskussion vor
dem 24. Februar war geprägt von wunschgetriebenen Fehleinschätzungen, auch
von Euch. Daraus kann man auch lernen, dass die jeweils aktuelle
Einschätzung in einer eskalierenden Situation möglicherweise nicht die ist,
auf deren Grundlage man sofort handeln sollte. Mit Brecht: Wer A sagt, muss
nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war.
3 May 2022
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## AUTOREN
Jan Feddersen
Tobias Schulze
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