# taz.de -- Krieg in der Ukraine: Zurückhaltung ist gefährlich | |
> Kritik an Waffenlieferungen: Zehn Gegenthesen zum offenen Brief an | |
> Bundeskanzler Olaf Scholz und den Debattenbeitrag von Jürgen Habermas. | |
Bild: „Stop Putin“: Ohne Waffen wird sich der russische Präsident kaum sto… | |
In einem [1][offenen Brief,] der von der Zeitschrift Emma verbreitet wurde, | |
haben deutsche Prominente von Reinhard Mey über Alexander Kluge bis Dieter | |
Nuhr vor einer Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine gewarnt. „Die | |
Lieferung großer Mengen schwerer Waffen könnte Deutschland selbst zur | |
Kriegspartei machen.“ Es drohe die Eskalation des Krieges zum Dritten | |
Weltkrieg, zum atomaren Konflikt. | |
Auch der Philosoph Jürgen Habermas hat in der Süddeutschen Zeitung | |
[2][ähnlich schwere Bedenken geäußert]. Letztlich entscheide der russische | |
Präsident Wladimir Putin darüber, ab wann er die Unterstützung der Ukraine | |
durch die Nato-Staaten als Kriegseintritt des Westens betrachtet. | |
„Angesichts des unbedingt zu vermeidenden Risikos eines Weltenbrandes lässt | |
die Unbestimmtheit dieser Entscheidung keinen Spielraum für riskantes | |
Pokern“, warnt Habermas. | |
Diese Diskussionsbeiträge sind nicht überzeugend. Hierzu einige | |
Gegenthesen. | |
1. Völkerrecht: Es gibt bisher keine umfassenden völkerrechtlichen Regeln, | |
ab wann der Kriegsbeitritt eines Staates vorliegt. Die Mehrheit der | |
deutschen bzw. westlichen Völkerrechtler hat sich in den letzten Wochen | |
darauf festgelegt, dass die Verhängung von Sanktionen und die Lieferung von | |
Waffen keinen Kriegseintritt darstellt. Erst das Eingreifen von Soldaten | |
der Nato-Staaten führe zu einem Kriegseintritt dieser Staaten. Diese | |
völkerrechtliche Position ist gut vertretbar und in sich konsistent. Sie | |
setzt auch eine klare Grenze. | |
2. Konsistenz: Deutlich weniger konsistent ist es, die Grenze bei der | |
Lieferung von schweren Waffen wie Panzern anzusetzen und die Lieferung | |
leichter Waffen sowie das Verhängen von Sanktionen als noch ungefährlich | |
anzusehen. Wer kein Risiko eingehen will, dass Putin ein Verhalten als | |
Kriegseintritt werten kann, darf die Ukraine überhaupt nicht unterstützen, | |
das heißt: ihr keinerlei Waffen liefern und gegen Russland keinerlei | |
Sanktionen verhängen. Er müsste völlig neutral bleiben und sollte besser | |
auch auf die – eigentlich eindeutige – Bewertung der russischen Invasion | |
als völkerrechtswidrigen Angriffskrieg verzichten. Denn Russland sieht | |
seine Invasion als gerechtfertigt an, um den nur von Russland anerkannten | |
Volksrepubliken Donezk und Luhansk gegen einen angeblichen Völkermord der | |
angeblich faschistischen ukrainischen Regierung beizustehen, so die | |
Ausgangslüge dieses Krieges. Eine so weitgehende Neutralität Deutschlands | |
fordern aber selbst die Emma-Prominenten und Habermas nicht. | |
3. Abschreckung: Bisher hat Putin die Nato-Lieferung von Waffen an die | |
Ukraine und die Sanktionen gegen Russland nicht zum Anlass genommen, nun | |
das Nato-Gebiet anzugreifen. Das ist aber nicht Ausdruck einer | |
völkerrechtlichen Position Russlands. Denn verbal hat die russische Seite | |
die Waffenlieferungen durchaus bereits als Kriegsbeitritt bezeichnet. Dass | |
Russland hierauf nicht mit einem Angriff auf Nato-Territorium geantwortet | |
hat (zum Beispiel gegen polnische Bahnhöfe, auf denen Waffen verladen | |
werden), ist wohl ausschließlich eine Wirkung der militärischen | |
Abschreckung der Nato. Denn wenn Russland das Nato-Gebiet angreift, müsste | |
es auch mit Angriffen der Nato auf das eigene Gebiet rechnen. Wenn Russland | |
Atomwaffen gegen Nato-Staaten einsetzt, müsste es auch mit dem Einsatz von | |
Nato-Atomwaffen gegen Russland rechnen. Inzwischen haben zahlreiche Staaten | |
(etwa die USA) auch schwere Waffen an die Ukraine geliefert, ohne dass | |
Russland deshalb die Nato-Staaten angegriffen hat. Dies zeigt, dass bei der | |
Lieferung schwerer Waffen die gleichen Mechanismen der Abschreckung wirken | |
und eben keine „rote Linie“ überschritten wurde und wird. | |
4. Nicht-Eskalation: Das bisherige Verhalten der Nato war und ist nicht | |
eskalierend. Russland hat die Ukraine unter einem erfundenen Vorwand mit | |
einer gewaltigen Armee militärisch angegriffen, um seine Einflusssphäre zu | |
sichern. Das ist ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg. Es ist völlig | |
eindeutig, dass die Nato der Ukraine militärisch helfen darf, sich gegen | |
diese rechtswidrige Aggression zu verteidigen. Die Nato ist dazu zwar nicht | |
verpflichtet, weil die Ukraine kein Nato-Mitglied ist, aber sie ist dazu | |
berechtigt, weil die Ukraine ausdrücklich um diese Hilfe gebeten hat. Die | |
Nato verzichtet auf eine Intervention mit eigenen Armeen, weil sie den | |
militärischen Konflikt lokal begrenzt halten will. Es soll ein | |
militärischer Konflikt zwischen Russland und der Ukraine bleiben und kein | |
militärischer Konflikt zwischen Russland und den Nato-Staaten werden. Die | |
Nato vermeidet damit einen Dritten Weltkrieg. | |
5. Nato-Interesse: Die Nato setzt hier auf Nicht-Eskalation, obwohl sie | |
politisch genügend Gründe hätte, der Ukraine beizustehen. Eine militärische | |
Intervention an der Seite der Ukraine wäre keineswegs nur ein selbstloser | |
Akt der Hilfe für einen rechtswidrig angegriffenen Staat. Schließlich | |
besteht die ernsthafte Gefahr, dass Russland, wenn es gelänge, die Ukraine | |
zu einem Vasallenstaat zu machen, weitere Staaten seiner ehemaligen | |
Einflusssphäre (z.B. die baltischen Staaten und Polen) unter erfundenen | |
Vorwänden angreifen würde, um sie von ihren angeblich faschistischen | |
Regierungen zu befreien. Bei einem derartigen Angriff auf Nato-Staaten | |
müssten die übrigen Mitglieder dann auch militärisch eingreifen. | |
6. Hilfe für die Ukraine: Wenn die Nato-Staaten also auf einen | |
Kriegseintritt verzichten, aber ein elementares Interesse haben, dass die | |
russische Aggression gegen die Ukraine erfolglos bleibt, müssen sie schon | |
aus eigenem Interesse alles tun, um der Ukraine bei ihrer Verteidigung zu | |
helfen und Russland zum Rückzug zu zwingen. Das heißt: Sie müssen der | |
Ukraine schnell und umfassend die Waffen liefern, die sie für die | |
Verteidigung braucht. Und sie müssen so massive Wirtschaftssanktionen | |
verhängen, dass diese möglichst schnell wirkungsvoll sind. Angesichts der | |
großen Nicht-Eskalation (Verzicht auf einen eigenen Kriegseintritt) gibt es | |
keinen Grund zu noch weitgehender Nicht-Eskalation, wenn man die Interessen | |
der Ukraine und die eigenen Interessen wirklich ernst nimmt. | |
7. Selbstbestimmung: Man kann es durchaus als moralisch zweifelhaft | |
ansehen, den Konflikt militärisch auf die Ukraine zu begrenzen, obwohl es | |
doch auch um elementare Interessen der Nato-Staaten geht. Indem die Ukraine | |
von der Nato aufgerüstet wird, wird diese aber nicht gegen ihren Willen als | |
Kampffeld missbraucht. Vielmehr fordert die Ukraine diese Aufrüstung selbst | |
massiv ein. Die Ukraine würde zwar einen Kriegseintritt der Nato bevorzugen | |
(etwa indem die Nato-Luftwaffe eine Flugverbotszone über der Ukraine | |
durchsetzt). Die Unterstützung des ukrainischen Kampfes mit Nato-Waffen ist | |
für die Ukraine insofern nur die zweitbeste Lösung, aber es ist immer noch | |
eine sehr erwünschte Lösung. | |
8. Schutz der Zivilbevölkerung: Natürlich geht dieser Krieg auch auf Kosten | |
der ukrainischen Zivilbevölkerung. Doch zum einen steht diese ganz | |
überwiegend hinter der militärischen Selbstverteidigung ihres Landes und | |
damit auch hinter den Waffenlieferungen an die Ukraine. Zum anderen haben | |
die EU-Staaten eine fundamentale Hilfe für die ukrainische Zivilbevölkerung | |
beschlossen, indem sie der gesamten ukrainischen Bevölkerung freien Zutritt | |
und ein dreijähriges Aufenthaltsrecht in den EU-Staaten ermöglichen. Dieses | |
Angebot gilt auch für ukrainische Männer, die sich nicht an den Kämpfen | |
beteiligen wollen. | |
9. Gesichtswahrung: Es ist nicht Aufgabe der Ukraine oder der Nato-Staaten, | |
sich zu überlegen, wie Wladimir Putin gesichtswahrend diesen | |
verbrecherischen Krieg beenden kann. Putin hat diesen Krieg mit Lügen | |
begonnen, er kann ihn auch jederzeit mit Lügen seiner Wahl beenden. [3][Die | |
russische Bevölkerung scheint derzeit auch überwiegend gewillt, Putin jede | |
Lüge zu glauben]. Wenn die neuen Lügen zu einem Ende des Krieges führen, | |
dürfte es hiergegen auch in der russischen Bevölkerung kaum Proteste geben. | |
10. Kriegsvermeidung: Es ist immer besser, einen Konflikt auf | |
diplomatischem Wege zu lösen als mit militärischen Mitteln. Hier geht es | |
aber nicht mehr um einen Interessenskonflikt, sondern um einen Krieg, den | |
Russland begonnen hat. Russland hat damit den Krieg und das Drohen mit | |
Kriegen wieder zum Mittel der Politik gemacht. Damit darf Russland keinen | |
Erfolg haben, wenn der Vorrang der Diplomatie bewahrt werden soll. Deshalb | |
müssen auch Pazifisten (klammheimlich) auf eine eindeutige militärische | |
Niederlage Russlands hoffen. | |
2 May 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.emma.de/artikel/offener-brief-bundeskanzler-scholz-339463 | |
[2] https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/kultur/das-dilemma-des-westens… | |
[3] /Russische-Bevoelkerung-und-die-Ukraine-Invasion/!5838964 | |
## AUTOREN | |
Christian Rath | |
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