# taz.de -- Russland und der Ukraine-Krieg: Bomben-Stimmung für Putin | |
> Das Institut Lewada hat ermittelt, dass über 80 Prozent der Russ*innen | |
> Putin und dessen „Spezialoperation“ stützen. Doch so einfach ist es | |
> nicht. | |
Bild: Üben für die Parade zum Ende des II. Weltkriegs | |
Etwa einen Monat nach dem Beginn von Russlands „Spezialoperation“ in der | |
Ukraine führte das Moskauer Lewada-Zentrum auch zu diesem Thema eine | |
Umfrage durch. Ein Monat ist für die Gesellschaft eine ausreichend lange | |
Zeit, um sich zu diesem oder jenem Ereignis zu verhalten. Sowohl im | |
Lewada-Zentrum als auch in der Öffentlichkeit warteten viele gespannt auf | |
die Ergebnisse der Erhebung. | |
Einige glaubten, dass die [1][Schritte der russischen Führung] und die | |
daraus resultierenden Folgen in der Bevölkerung Unzufriedenheit hervorrufen | |
würden und die Zustimmung zu Präsident Wladimir Putin sinken würde. Andere | |
hingegen nahmen an, dass die Entscheidungen von der Gesellschaft | |
unterstützt und die Beliebtheitswerte von Putin steigen würden. | |
Für die zweite Einschätzung gab es gute Gründe. 2008 – Putin war zu diesem | |
Zeitpunkt weder Präsident noch Oberbefehlshaber – hatte eine kurze | |
Militäroperation zur „Erzwingung“ des Friedens in Georgien die | |
Zustimmungswerte für Putin auf 88 Prozent steigen lassen. Der gleiche Wert | |
wurde 2014 ermittelt, als sich Russland unter Beteiligung eigener Truppen, | |
jedoch ohne Blutvergießen, die Krim einverleibte. | |
In beiden Fällen stärkte die negative Reaktion der internationalen | |
Staatengemeinschaft in der russischen Öffentlichkeit das Bewusstsein, im | |
Recht zu sein. Auch die Sanktionen wurden nicht als ernsthafter Schaden | |
oder eine Bestrafung für das Getane wahrgenommen: Wir haben agiert, sobald | |
sich das eine Großmacht erlauben kann, oder besser gesagt: sobald es einer | |
Großmacht erlaubt wurde, so zu handeln. Die Reaktion des Westens, | |
wenngleich negativ, doch im Wesentlichen kraftlos, ist eine Anerkennung | |
unserer Größe. | |
## Angst vor Hungerzeiten und einer Wirtschaftsblockade | |
Doch dieses Mal erfolgte die Aktion weder schnell noch unblutig. Das | |
verstehen alle, sogar diejenigen, die niemandem zuhören, außer den Stimmen | |
in ihrem Fernseher. Dieses Mal machte sich Angst vor Hungerzeiten und einer | |
Wirtschaftsblockade breit. Wer also – ganz im Sinne des sowjetischen | |
Marxismus-Leninismus – geglaubt hatte, das Sein bestimme das Bewusstsein, | |
der Kühlschrank sei stärker als der Fernseher, hatte die Hoffnung, dass es | |
dieses Mal nicht so sein würde wie damals. | |
Aber es kam wieder ganz genauso. Sowohl 2014 als auch jetzt ist eine | |
wachsende Zustimmung nicht nur in Bezug auf die Operation, sondern auch auf | |
den Oberbefehlshaber zu verzeichnen. (Sie nähert sich schnell den bereits | |
bekannten Werten an: Die Unterstützung für die Spezialoperation liegt bei | |
81 Prozent, Putin kommt auf 83 Prozent. Das sind 12 Prozentpunkte mehr als | |
noch im Februar). | |
Wie damals hat sich eine Art Selbstgefälligkeit ausgebreitet. Sowohl der | |
Ministerpräsident als auch die Regierung erfahren ein ungewöhnlich hohes | |
Maß an Zustimmung. Sogar die Staatsduma, die sich immer im Minusbereich | |
bewegte, wird jetzt für ihre Arbeit positiv bewertet. Die | |
Zukunftsaussichten für ihre eigene Familie, die vor Kurzem noch in düsteren | |
Farben gezeichnet wurden, schätzen viele der Befragten jetzt optimistischer | |
ein. | |
Doch Politiker, aufgepasst: Eine absolute Mehrheit der Russ*innen (55 | |
Prozent, von denen 64 Prozent treueste Putinist*innen sind), ist davon | |
überzeugt, dass Russland „eine Verbesserung des politischen Lebens“ | |
bevorsteht, und zwar nicht irgendwann, sondern „in den kommenden Monaten“. | |
Diese Menschen dürfen nicht enttäuscht werden. Sie erwarten sich vor allem | |
politische, nicht wirtschaftliche Verbesserungen. | |
## Welche Gefühle lösen Russlands Kampfhandlungen aus? | |
Denjenigen aber, die nach Luft schnappten, als sie von den über 80 Prozent | |
Zustimmung zu Putin und seiner Operation in der Ukraine erfahren und für | |
sich entschieden haben, dass das Fernsehen obsiegt und alles Menschliche in | |
den Leuten umformatiert hat, sagen wir: So einfach ist es nicht. | |
Wir haben den Russ*innen die folgende Frage gestellt: Welche Gefühle | |
lösen Russlands Kampfhandlungen in der Ukraine bei Ihnen aus? Zwei Prozent | |
fanden die Antwort schwierig. „Keine besonderen Gefühle“ verspürten acht | |
Prozent der Befragten. Das heißt, die Menschen sind bereit zu antworten. | |
Den Befragten wurde ein Dutzend Wörter vorgelegt, um verschiedene Gefühle | |
zu beschreiben. Die Wörter repräsentierten vier Arten von Gefühlen: | |
politisch gefärbte positive Gefühle (Stolz auf Russland), politisch negativ | |
besetzte Begriffe (Wut, Empörung, Scham), unpolitische positive Gefühle | |
(Zufriedenheit, Freude, Begeisterung), unpolitische negative Gefühle | |
(Bedrohung, Entsetzen, Schock). | |
Dabei konnten die Befragten mehrere Antworten auswählen, daher ist die | |
Gesamtsumme größer als 100 Prozent. In diesem Zusammenhang drücken die | |
folgenden Zahlen nicht die Anzahl der Personen aus, die die eine oder | |
andere Antwort gegeben haben, sondern den Anteil der verschiedenen | |
Antworten an ihrer Gesamtzahl. So wird der Verhältnis von Meinungen | |
zueinander ermittelt, die in einer bestimmten Gesellschaft existieren. | |
## Stolz auf Russland dominiert | |
Betrachtet man den [2][Anteil negativer und positiver Gefühle], sind sie | |
fast gleich: 51 und 49 Prozent. Aber jede dieser Hälften setzt sich anders | |
zusammen. Unter den positiven Gefühlen dominiert der „Stolz auf Russland“ | |
(40 Prozent der aussagekräftigen Antworten). Das ist eine politisch klar | |
definierte Antwort. Auf „Freude und Begeisterung“ entfallen 11 Prozent. In | |
der anderen Hälfte ist das Verhältnis umgekehrt. | |
Politisch definierte Antworten – „Wut, Empörung, Scham“ – 10 Prozent d… | |
aussagekräftigen Antworten, die restlichen 39 Prozent entfallen auf | |
Bedrohung, Entsetzen, Schock. Es ist klar, dass sowohl in der individuellen | |
als auch in der kollektiven Seele ein Schamgefühl und ein Gefühl des | |
Entsetzens koexistieren können und dass sogar Stolz mit Angst verbunden | |
sein kann. | |
Diese Berechnungen lassen den Schluss zu, dass die Unterstützung der | |
russischen Öffentlichkeit für das Vorgehen der Armee und ihres Kommandos | |
zur Hälfte mit großer Besorgnis einhergeht. Wie schon gesagt unterstützen | |
80 Prozent der Russ*innen Putin. Es überrascht nicht, dass es unter ihnen | |
eine wachsende Anzahl derer gibt, die in der gegenwärtigen Situation stolz | |
auf Russland sind. Aber auch unter den Antworten dieser Menschen gibt es | |
viele Berichte über Angst und andere negative Gefühle. | |
Sie machen nur ein Drittel weniger aus als die Antworten „Freude“ und | |
„Stolz“. Die Ereignisse wurden von Jugendlichen und Älteren unterschiedlich | |
wahrgenommen. Unter den Befragten, die jünger als 35 Jahre sind, überwiegen | |
negative Gefühle. Von den Jüngsten werden sie doppelt so häufig genannt wie | |
positive Gefühle. Von Angst sprechen 37, von Stolz nur 33 Prozent. Unter | |
den Menschen mittleren Alters dominieren positive Emotionen. Diese sind bei | |
den ältesten Befragten jedoch am häufigsten zu finden. | |
## Mehr ältere Menschen unterstützen Putin | |
Nehmen wir die Gruppe 65+. Hier liegt die Unterstützung für die Aktionen | |
der russischen Streitkräfte in der Ukraine sowie die Zustimmung zu Putin | |
bei 90 Prozent. Bemerkenswert ist, dass, obwohl in dieser Altersgruppe | |
ältere Frauen stark überwiegen, diese seltener über Ängste berichten als | |
andere. Die russische Militäroperation in der Ukraine erzeugt mehr positive | |
als negative Reaktionen. | |
Ist dieses Bild nicht doch komplexer, als es vielen scheint, die nur auf | |
die sensationellen Zustimmungswerte blicken? Es ist bekannt, dass in | |
mehreren russischen Städten Proteste gegen die Spezialoperation in der | |
Ukraine stattgefunden haben. In der zitierten Erhebung haben wir die | |
Russ*innen auch danach gefragt, warum die Menschen ihrer Meinung nach an | |
diesen Protesten teilnehmen. | |
15 Prozent der Befragten fanden eine Antwort schwierig oder wollten gar | |
nicht antworten. Alle anderen wählten unter fünf Varianten aus, wobei | |
mehrere Antworten angekreuzt werden konnten. 32 Prozent der Befragten | |
wählten die Variante, dass viele protestierten, weil sie dafür bezahlt | |
würden. | |
Auch hier hat das Alter einen großen Einfluss auf die Antworten. Bei | |
Jugendlichen, die einen Großteil der Demonstrant*innen ausmachen, steht | |
die Antwort „Bestechung“ an vorletzter Stelle. Bei den Älteren ist das die | |
häufigste Antwort. Sie ist insofern bequem, als sie den Protest für fiktiv | |
erklärt und gleichzeitig auf die Anwesenheit geheimer Kräfte hinweist, die | |
versuchen, das System durch Bestechung zu untergraben. Jemand, der diese | |
Antwort wählt, koppelt sich vollständig von den Protestierenden ab und | |
erhebt sich moralisch über sie. Um sich selbst und anderen seine Loyalität | |
gegenüber den Behörden zu demonstrieren, ist eine solche Antwort ideal. | |
Ähnlich funktioniert die Antwort, viele kämen, um einfach dabei zu sein, | |
aus Interesse oder Neugierde (15 Prozent). Andere Antworten auf die Frage, | |
was die Menschen veranlasst habe, an den Protesten teilzunehmen, lauteten | |
wie folgt: Personen unter 35 Jahren wählten am häufigsten einen Grund wie | |
„Empörung über die Militäroperation in der Ukraine. Als die 18- bis | |
24-Jährigen nach ihrer eigenen Reaktion auf die Spezialoperation gefragt | |
wurden, nannten 7 Prozent „Empörung“. 42 Prozent gaben dieses Gefühl als | |
Motivation der Protestierenden an, mit denen sie sich verbunden fühlen. | |
## Empörung ist weit verbreitet | |
In der Gruppe der 24 bis 34-Jährigen waren die entsprechenden Werte 10 und | |
36 Prozent. Empörung über die Operation in der Ukraine als Protestgrund ist | |
auch für ältere Menschen nachvollziehbar. Bei den Befragten ab 35 Jahren | |
taucht dieses Motiv an zweiter Stelle auf (von fünf). Kurz gesagt: In allen | |
Gruppen wird „Empörung“ zwei- bis viermal häufiger genannt als bei den | |
[3][Antworten über die eigenen Gefühle]. Selbst bei Personen, die Putins | |
Operation in der Ukraine gutheißen, wird Empörung als Protestmotiv am | |
zweithäufigsten genannt. | |
Wir ziehen folgendes Fazit: Das Verständnis dafür, dass das, was passiert, | |
grundsätzlich Empörung hervorrufen sollte, ist weit verbreitet. Aber die | |
Bereitschaft, sich zu empören und das auch noch zu zeigen, ist viel | |
geringer. Es scheint, dass sich hier zwei ziemlich weit verbreitete | |
Merkmale der russischen Gesellschaft manifestieren. | |
Eines lässt sich wie folgt zusammenfassen: Wir verstehen alles. Wenn eine | |
Person mit einem leeren Blatt Papier in der Hand auf die Straße geht, | |
verstehen die Strafverfolgungsbeamten die Botschaft dieser Person genauso | |
gut wie die Bürger*innen. Das zweite Merkmal: „Das ist nicht mein Ding.“ | |
Dahinter steht der Wunsch, die eigenen Bürgerrechte und Befugnisse an | |
andere zu delegieren: Politiker sollen Politik machen, Verwaltungsbeamte | |
verwalten und Demonstrant*innen protestieren. | |
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass uns eine Frage im März 2022, wie | |
auch schon im März 2014, immer häufiger gestellt wird: Kann man solchen | |
Daten in Zeiten wie diesen vertrauen? Viele geben selbst die Antwort: Nein. | |
Unsere Analyse hat jedoch eins gezeigt: Die Ereignisse spiegeln sich | |
derzeit noch nicht in den formalen Merkmalen der Umfrage wider. | |
Das Bewusstsein der Massen befindet sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt in | |
einem ungewöhnlichen Zustand: Die Oberfläche ist das eine, das, was in der | |
Tiefe liegt, ist etwas anderes. Das haben wir versucht zu zeigen. | |
8 May 2022 | |
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## AUTOREN | |
Alexei Lewinson | |
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