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# taz.de -- Harald Welzers Auftritt bei „Anne Will“: Ganz präsente Arroganz
> Es ist in einem demokratischen Diskurs wichtig, den Russlandkurs der Nato
> zu kritisieren. Doch Haralds Welzers Versuch ging voll nach hinten los.
Bild: Hat es geschafft, dass der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk sympathi…
Es war sicher nicht so geplant. Aber mit seinem Auftritt bei „Anne Will“ am
Sonntagabend hat der Soziologe Harald Welzer dem Wunsch der Ukraine nach
immer noch mehr deutschen Waffen einen großen Dienst erwiesen. Nicht, weil
er mit seinem Plädoyer für Vorsicht einen der heftigsten Shitstorms seit
Kriegsbeginn entfachte. Auf wütende Empörung stoßen zurzeit viele, die den
[1][Nato-Kurs gegen Russland kritisch hinterfragen]. Es ist in einem
demokratischen Diskurs richtig und wichtig, dass es einige Prominente
trotzdem wagen. Doch Welzers Versuch ging leider voll nach hinten los.
Diesmal waren es keineswegs nur die üblichen FürsprecherInnen einer
unbegrenzten Aufrüstung der Ukraine und radikalen Schwächung Russlands, die
widersprachen und Welzer teilweise unfair niedermachten. Auch viele, die in
der Waffendebatte hin- und hergerissen sind, rieben sich die Augen, weil
der sonst so kluge Analytiker vollkommen einseitig, deutschzentriert und
wenig empathisch gegenüber dem Aggressionsopfer Ukraine wirkte. Wie in dem
offenen Brief, den er [2][vor einer Woche mit Alice Schwarzer] und anderen
versandte, redete Welzer nur sehr wenig über die Toten in dem angegriffenen
Land, aber sehr viel über die Gefühle der Deutschen und die möglichen
Gefahren einer weiteren Eskalation für Deutschland.
Wegen dieser eingeschränkten Perspektive kam es zu einer Premiere im
deutschen Fernsehen: Zum ersten Mal in all den Kriegsdebatten wirkte der
ebenfalls anwesende ukrainische Botschafter Andrij Melnyk geradezu
sympathisch höflich und dezent im Vergleich zu einem Kontrahenten. Das muss
man erst mal schaffen.
Welzer gelang dieses Kunststück vor allem deshalb, weil er im Streit mit
Melnyk zur Begründung für seine Vorsichtsmahnung im aktuellen Konflikt mit
Russland vor allem auf die angebliche Expertise der historisch bewanderten
Deutschen verwies. „Wir sprechen als Mitglieder dieser Gesellschaft vor dem
Hintergrund einer Kriegserfahrung, die sich durch die Generationen
durchgezogen hat“, erklärte Welzer dem ukrainischen Botschafter und
mutmaßte über die Motive von 45 Prozent der Deutschen, die eine Lieferung
von schweren Waffen an die Ukraine ablehnen, bei vielen von ihnen gebe es
„eine ganz präsente Kriegserfahrung in den Familien selber“. Dass Welzer
kein Patentrezept für eine friedliche Lösung des Ukrainekriegs vorlegte,
sollte man ihm nicht vorwerfen. [3][Das haben die BefürworterInnen der
Waffenlieferungen auch nicht].
## Er macht sich angreifbar
Aber ganz präsente Kriegserfahrung? Als Argument eines Deutschen im
Gespräch mit einem Ukrainer? Es kann nur zynisch klingen, wenn ein
Nachfahre der Aggressoren im Zweiten Weltkrieg ausgerechnet gegenüber dem
Vertreter des aktuellen Angriffsopfers besseres Wissen über die Lehren aus
der Geschichte reklamiert. Sicher ohne es zu wollen und ohne es zu selbst
zu merken, verschaffte Welzer Melnyk damit eine eindeutig überlegene
Sprecherposition. Denn wer im Moment über eine ganz präsente
Kriegserfahrung verfügt und wer nicht, ist sonnenklar. Deshalb fiel auch
die Replik auf Melnyk, „das ist doch borniert“, auf Welzer selbst zurück.
Mag sein, dass der unbestreitbar kundige Soziologe und Herausgeber des
Magazins taz futurzwei das Mitgefühl mit der bedrohten Ukraine und den
Respekt für ihr Selbstbestimmungsrecht für so selbstverständlich hält, dass
er es in einem rhetorischen Wettstreit nicht angemessen oft erwähnt. Doch
wer sich vor einem Millionenpublikum derart auf sich selbst und seine
eigenen Sorgen konzentriert, macht sich angreifbar und schadet dem eigenen
Anliegen. Das ist schade.
Es gibt ja durchaus gute Argumente für Vorsicht im Konflikt mit einer
unberechenbaren Atommacht. Für Streit über den Kriegskurs muss in einer
Demokratie immer Raum sein, genau das unterscheidet Deutschland ja von
einer Diktatur wie Russland. Hoffentlich bleiben Welzer und die anderen
Briefschreiber deshalb auch künftig laut und kritisch. Aber bitte mit mehr
Respekt für die ganz präsente Kriegserfahrung der Ukraine.
9 May 2022
## LINKS
[1] /Warnung-vor-weiterer-Kriegseskalation/!5851654
[2] /Harald-Welzer-zum-Offenen-Emma-Brief/!5847657
[3] /Offener-Brief-gegen-Waffenlieferungen/!5847494
## AUTOREN
Lukas Wallraff
## TAGS
Anne Will
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Waffenlieferung
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