# taz.de -- Krieg in der Ukraine: Gedenken umdenken | |
> In der Ukraine wird über den Umgang mit Denkmälern aus der Sowjetzeit | |
> gestritten. In Luzk haben Aktivisten die Stadt zum Handeln gezwungen. | |
Bild: Mit Russland brechen: Arbeiter erneuern die Gedenkstätte in Luzk | |
LUZK taz | Wann hat der Zweite Weltkrieg begonnen? Wie bitte? Diese Fragen | |
stellt eins der populärsten Memes, das seit 2014 im ukrainischen Internet | |
herumgeistert. Damals konnte der Journalist Roman Skripin dem | |
pro-russischen Politiker Oleg Zarew nicht den September 1939 entlocken, als | |
die Sowjetunion Ostpolen besetzte – und damit Regionen, die in der heutigen | |
Ukraine liegen. Sein Gegenüber bestand auf dem 22. Juni 1941: Hitlers | |
Angriff auf die Sowjetunion. | |
„Wann hat der Zweite Weltkrieg begonnen, Herr Bürgermeister?“ Diese Frage | |
stellten Journalist*innen im April Igor Polischuk, Stadtoberhaupt von | |
Luzk, einer Kommune mit 220.000 Einwohnern im Westen der Ukraine an der | |
Grenze zu Polen. Die Medienmacher*innen hatten eine gewisse Trägheit | |
der Einwohner*innen von Luzk im Umgang mit der eigenen Geschichte | |
registriert und waren deshalb selbst aktiv geworden. Sie gründeten eine | |
Initiative, um sich für Veränderungen im öffentlichen Raum der Stadt | |
einzusetzen: die Entfernung sowjetischer Symbole an einem Denkmal und die | |
Umbenennung von Straßen. | |
In Luzk gab es, wie in der Mehrheit der Städte der Sowjetunion, ein Denkmal | |
für die Toten des Zweiten Weltkrieges. 1977 wurden im Zentrum der Stadt die | |
sterblichen Überreste hunderter sowjetischer Soldaten bestattet. | |
Bemerkenswert daran ist, dass das Denkmal in Luzk auf dem Gelände eines | |
alten polnischen Friedhofs errichtet wurde, wo Tote zu Beginn des 20. | |
Jahrhunderts begraben worden waren. Diese alten Knochen wurden | |
weggeschafft, der Friedhof betoniert und asphaltiert. Darauf wurden Stelen | |
errichtet, ein ewiges Feuer, ein Denkmal für die „Mutter Heimat“ sowie den | |
Unbekannten Soldaten. | |
Dieses sowjetische Ensemble steht dort bis heute: Kopien von Orden mit | |
Stalin, Lenin und den russischen Kommandeuren Michail Kutusow (1745–1813) | |
und Fjodor Uschakow (1745–1817), Hammer und Sichel und das Datum des | |
Kriegsbeginns – 1941. An dem 20 Meter hohen Obelisken in der Mitte hängt | |
eine vergoldete Kopie des Ehrenordens mit den Umrissen des Kremls. | |
## „Schlag ins Gesicht“ | |
„Herr Bürgermeister, auch jetzt blickt der Kreml auf Luzk, wo täglich | |
Soldaten bestattet werden, die im russisch-ukrainischen Krieg gefallen | |
sind. Sollten wir uns nicht schämen?“, fragten die Journalisten Polischuk, | |
der sich den Veränderungen nicht zu widersetzen schien, aber offensichtlich | |
andere Sorgen hat. Luzk hat mehrere tausend Flüchtlinge aus der Ost- und | |
Südukraine aufgenommen. Außerdem stand ein Teil der Wähler*innen, die bei | |
den Kommunalwahlen für Polischuk und seine Partei gestimmt haben, | |
sowjetischen Symbolen und dem Gedenken an die Sowjetunion bisher positiv | |
oder neutral gegenüber. | |
Aber es gab immer auch lautstarke Kritiker, etwa Lesja Bondaruk vom | |
Institut für Nationales Gedenken: „Für eine Stadt in der Westukraine von | |
1941 als Datum für den Beginn des Zweiten Weltkrieges zu reden, das ist für | |
die Luzker*innen wie ein Schlag ins Gesicht. Denn die Region wurde im | |
September 1939 von der Sowjetunion besetzt, als Stalin begann, seinen Teil | |
des Molotow-Ribbentrop-Paktes zu erfüllen und Truppen in das Gebiet Polens | |
zu schicken.“ | |
In den Monaten Februar und März 2022 wurden innerhalb von zwei Wochen drei | |
Raketen von Belarus aus auf Luzk abgeschossen. Die Journalist*innen | |
wandten sich erneut an das Stadtoberhaupt: „Herr Bürgermeister, wann hat | |
der Zweite Weltkrieg angefangen?“ Nach einer wochenlangen Medienkampagne | |
erhielten sie immer mehr Unterstützung in der Stadt, bearbeiteten die | |
Kommunalpolitiker*innen und trugen ihre Forderungen immer mutiger | |
vor. Polischuk blieb letztendlich nichts anderes übrig, als den | |
Medienleuten zu sagen, er habe angeordnet, die Orden der Sowjetunion am | |
Denkmal entfernen zu lassen. | |
Ideen, an dem Denkmal etwas zu verändern, gibt es seit Langem. Doch sie | |
gingen bisher stets in den Ausflüchten der Behörden unter. Für besagtes | |
Objekt ist das Kulturministerium zuständig, und dort hieß es immer: Wir | |
können nichts verändern, nicht einmal das Datum. Als die Raketen | |
einschlugen, war es mit den Ausreden vorbei, eine Anordnung des | |
Bürgermeisters genügte plötzlich. | |
Und den Journalist*innen gelang es, die Frage der Änderungen in einer | |
Sitzung des Stadtrats von Luzk zum Thema zu machen. Sie verlangen nicht nur | |
die Demontage des alten, sondern eine umfassende Umgestaltung der Anlage, | |
denn in den 30 Jahren der Unabhängigkeit sind hier viele Denkmäler für die | |
Helden der Ukraine entstanden – etwa das Grab von Wasili Moisei, der im | |
Februar 2014 sein Leben auf dem Maidan verloren hat. | |
„Dies sollte keine Erinnerung an einen russischen Sieg sein, sondern an all | |
diejenigen, die in den Kämpfen für die Stadt Luzk und das Land gestorben | |
sind – sowohl während des Zweiten Weltkrieges als auch an den Fronten des | |
russisch-ukrainisches Krieges“, sagt die Journalistin Elena Livizkaja. | |
Unter den Abgeordneten gab es keine Gegenstimmen mehr und das sowjetische | |
Ensemble musste weichen. | |
Im 31. Jahr nach der Unabhängigkeit der Ukraine wurden die sowjetischen | |
Orden von der Gedenkstätte entfernt sowie das Anfangsdatum des Krieges | |
verändert. Nur der Orden des Ruhms behielt seinen Platz auf der Turmspitze. | |
Bürgermeister Polischuk hatte gesagt, dass es schwierig sein würde, auch | |
diesen Orden zu entfernen, da er auf der Turmspitze genauso befestigt sei | |
wie ein echter Orden am Revers einer Jacke. Während die Behörden noch nach | |
geeigneten technischen Gerätschaften suchen, hat die Umbenennung von | |
Straßen in der Stadt bereits begonnen. | |
„In Luzk müssen die Namen von 105 Straßen geändert werden. Das dürfte noch | |
schwieriger werden, als die Gedenkanlage in Ordnung zu bringen“, sagt die | |
Historikerin Bondaruk. Der Prozess der Umbenennung sowjetischer | |
Bezeichnungen in der Ukraine läuft bereits seit 1991, aber immer wieder | |
fanden Gegner*innen irgendwelche neuen Argumente oder nutzten die | |
politische Stimmung, um die Änderungen zu stoppen. In Luzk behielten die | |
Straßen, die nach dem sowjetischen Partisanen Alexei Fjodorow sowie den | |
sowjetischen Rotgardisten Michail Nikischew und Stepan Boschenko benannt | |
waren, bis 2022 ihre Namen. | |
Mit der Fjodorow-Straße war aber etwas Kurioses passiert. In den 2010er | |
Jahren ersannen Gegner*innen einer Umbenennung einen Ausweg – sie | |
hängten selbst Schilder mit dem Straßennamen an die Häuser: Iwan Fjodorow, | |
ein Buchdrucker aus dem Mittelalter mit einer historischen Verbindung zur | |
Region. Der Trick war erfolgreich – viele Anwohner*innen der Straße | |
waren inzwischen ohnehin schon überzeugt, dass sie in der Straße des ersten | |
Druckers Fjodorow leben. | |
## „Es wird einen Kampf geben“ | |
Im April wurden die ersten fünf Straßen umbenannt – darunter auch die | |
Fjodorow-Straße. Die Journalist*innen erhöhten den Druck auf die | |
Stadtverwaltung und erstellten eine Liste mit 20 weiteren umzubenennenden | |
Straßen. | |
In der neuen Liste gibt es unter anderem Straßen, die nach dem russischen | |
Dichter Alexander Puschkin, dem Märchenautor Pawel Baschenow, dem | |
Architekten des Lenins-Mausoleums Alexei Schtschussew sowie dem russischen | |
Schriftsteller Wladimir Korolenko, der in Schitomir geboren wurde, benannt | |
sind. „Wir sind nicht gegen den Dichter Alexander Puschkin oder Fjodor | |
Dostojewski. Aber jetzt verstehen wir gut, warum das Sowjetregime die | |
Straßen nach ihnen benannt und keine neutralen oder ukrainischen Symbole | |
verwendet hat“, erklärt Lesja Bondaruk. | |
Sie erinnert sich an das Jahr 1957. Da wurde in Luzk die Straße für den auf | |
dem Gebiet der heutigen Ukraine geborenen Piloten aus dem Zweiten | |
Weltkrieg, Iwan Koschedub, in Kutuzow-Straße umbenannt – ein russischer | |
Feldmarschall während der Napoleonischen Kriege. „Was ist das anderes, wenn | |
nicht die Verdrängung des Ukrainischen aus der Stadt?“, fragt sie. | |
„Es wird einen Kampf geben“, glaubt Michail Schelep, ebenfalls Mitglied der | |
Initiativgruppe der Journalist*innen. Dabei gehe es nicht nur um die | |
Prozedur, die schon komplex sei und den Gang der Dinge bremse. „Wir müssen | |
erklären, warum die alte Bezeichnung nicht den historischen Gegebenheiten | |
entspricht. Wir müssen neue Namen vorschlagen und darüber eine | |
gesellschaftliche Debatte führen. Dann muss das Ergebnis der Entscheidung | |
einer Kommission zur Umbenennung vorgelegt, mit allen politischen Kräften | |
abgestimmt, der Bürgermeister überzeugt werden. Schließlich muss im | |
Stadtrat abgestimmt werden“, sagt Schelep. | |
## Gegner*innen sind still geworden | |
In Luzk sind die Gegner*innen der Umbenennungen still geworden. Weil die | |
ganze Ukraine von Bombenexplosionen erschüttert wird und russische Truppen, | |
die weitere Gebiete erobern, dort ihre eigenen Symbole aufstellen – oft | |
genau die gleichen, die in Luzk noch nicht entfernt wurden. | |
Die kühnsten Gegner fordern zögernd, erst „nach dem Sieg“ mit den | |
Veränderungen zu beginnen. In sozialen Netzwerken argumentieren sie, dass | |
es dringendere Aufgaben gebe. Zudem beklagen sie, dass Umbenennungen von | |
Straßen teuer seien und derzeit Geld für andere Zwecke benötigt werde, zum | |
Beispiel für Schutzwesten und Helme. | |
Russlands Präsident Wladimir Putin jedoch ist dabei, den Kampf um die Köpfe | |
der Ukrainer*innen zu verlieren. Luzk und die umliegende Region | |
Wolhynien, die häufig noch als „rot“ bezeichnet wird, sind im Begriff, sich | |
alles Russischen zu entledigen. | |
Aus dem Russischen; Barbara Oertel | |
10 May 2022 | |
## AUTOREN | |
Juri Konkewitsch | |
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