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# taz.de -- Rücktritt von Familienministerin Spiegel: Ehemänner und Kinder un…
> Weiterhin ringen Frauen um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Der
> Fall Anne Spiegel wirft ein neues Licht auf ein altes Problem.
Bild: Familienfreie Zone: Gatte krank, Baby schreit? Aber bitte nicht im Bundes…
Der 18. Punkt auf der Tagesordnung des Bundestags am 17. März dieses Jahres
lautet: „Fristenballung bei steuerberatenden Berufen“ und ist für 22:35 Uhr
angesetzt. Katharina Beck, finanzpolitische Sprecherin der Grünen, sitzt im
Plenum. Beck, die kurz vor der Bundestagswahl ihr erstes Kind bekam, ist
seit Herbst nicht nur Mutter, sondern auch Abgeordnete. Ihre Anwesenheit im
Parlament muss immer wieder neu organisiert werden, sagt sie. „Vielleicht
muss man einfach akzeptieren, dass dieser Job nicht familienfreundlich
ist.“
Anne Spiegel hatte sich im Juli 2021 entschieden, nicht vor Ort zu sein.
Wenige Tage nach der Flutkatastrophe im Ahrtal fuhr die damalige Grüne
Umweltministerin von Rheinland-Pfalz für vier Wochen mit ihrer Familie in
den Urlaub. Die Bild am Sonntag enthüllte das vor einer Woche, am
Sonntagabend nahm Spiegel Stellung dazu. Die Mutter von vier Kindern führte
in einer beklemmenden, sehr persönlichen und teils fahrigen Ansprache die
Krankheit ihres Mannes und die durch die Pandemie belasteten
Familienverhältnisse als Begründung für ihre vorübergehende Abwesenheit an.
Der Urlaub sei dennoch ein Fehler gewesen.
Einen Tag nach dieser Erklärung [1][trat sie zurück].
Katharina Beck nahm der Abgang der Familienministerin und einstigen
politischen Hoffnungsträgerin emotional mit. Auf Twitter schrieb sie am
Montagnachmittag: „Ist das bitter und traurig. Für alle, die wie ich
Politik und Familie vereinen möchten. Mir blutet das Herz. Ich vermisse sie
schon jetzt.“ Die Grünen-Spitze hatte kurz zuvor deutlich kühler reagiert:
Spiegel habe [2][mit großer Offenheit Fehler eingestanden,] dafür gebühre
ihr Respekt, so Grünen-Chef Omid Nouripour.
## Das Bild, das zurückbleibt
Führende Grüne hatten Anne Spiegel schon zuvor zum Rücktritt gedrängt. Der
Urlaub war nicht der ausschlaggebende Grund – wohl aber der Umstand, dass
die 41-Jährige diesen lange im Dunkeln gelassen und angegeben hatte, sie
habe an Kabinettssitzungen teilgenommen. Obwohl das nicht stimmte.
Abgesehen davon kreideten die Opposition und Journalist:innen Spiegel
die Auszeit mitten in einer Flutkatastrophe an: Als Ministerin hätte sie
bei den Hinterbliebenen, den Verletzten sein müssen. Auch die Politikerin
selbst war wohl der Meinung, in der Abwägung zweier Katastrophen – der
Naturkatastrophe im Ahrtal und der drohenden in der eigenen Familie –
hätte sie Letztere hintanstellen müssen. So behauptete sie also, wider die
Fakten, im Dienst gewesen zu sein. Zurück bleibt nun aber nicht das Bild
einer abgebrühten Lügnerin, sondern eher das einer von Amt und Familie
belasteten, überforderten Frau.
Sind politische Spitzenämter und Familie überhaupt vereinbar? Für männliche
Politiker stellte sich diese Frage jahrzehntelang nicht. Da stand der Beruf
selbstverständlich an erster Stelle, inklusive Nachtsitzungen und
Dienstreisen, denn der Platz der Ehefrau war genauso selbstverständlich bei
den Kindern zu Hause. Auch heute, da zunehmend Frauen politische
Spitzenpositionen bekleiden, gilt in der Regel diese Aufgabenteilung –
jetzt aber oft anders herum. Bei Außenministerin Annalena Baerbock etwa
übernimmt der Ehegatte die Rolle des Hausmanns, während sie Deutschland in
der Welt vertritt. Auch bei Anne Spiegel funktionierte es so, bis der Mann
schwer krank wurde.
## „Selber schuld“, scheinen manche nun zu denken
Einwände und Vorwürfe sind nun leicht vorzubringen: Dann hätte Spiegel
beruflich eben kürzertreten, nicht Familienministerin, Spitzenkandidatin
und kommissarisch Umweltministerin werden müssen. In ihrem unglücklichen
Fall kamen mehrere Ereignisse zusammen: die Krankheit ihres Ehemannes, die
Pandemie, der Starkregen im Ahrtal. Faktoren, die sich überlagerten und
letztlich in die persönliche und politische Katastrophe führten. Denkt man
dies zu Ende, bedeutet es, dass wichtige politische Ämter am besten nur an
Menschen übertragen werden sollten, die auch in Extremfällen garantiert und
rund um die Uhr funktionieren.
„Es gibt Aufgaben in staatspolitischer Verantwortung, die sich mit einer
familiären Belastungssituation nicht vereinbaren lassen“, meint
beispielsweise Jana Schimke. Das sei weder ein Drama noch ein Skandal: „Da
muss jeder für sich abwägen, ob er imstande ist, diesem Druck
standzuhalten.“ Die 42-Jährige ist Mutter von zwei Kindern und sitzt seit
2013 für die CDU im Bundestag. Auch bei ihr übernimmt der Mann derweil den
Haushalt und die Erziehung der Kinder.
Die Verantwortung liege vor allem bei jedem Menschen selbst: So erklärt
Schimke es auch, wenn sie mit Schüler:innen spricht. „Die Aufteilung von
Aufgaben bleibt unausgewogen. Frauen fühlen sich verantwortlicher, machen
mehr. Deswegen versuche ich, jungen Frauen deutlich zu machen, dass sie
sich entscheiden müssen, was für sie das Richtige ist.“ Um sich als
Abgeordnete mit Kindern vor Überforderung zu schützen, sei es zum einen
notwendig, gut strukturiert zu arbeiten, erklärt Schimke. „Aber wir kriegen
auch ein überdurchschnittliches Gehalt. Davon kann man sich auch
Unterstützung kaufen“, so die Christdemokratin.
Auch die Grüne Katharina Beck und ihr Mann stimmen sich ab und haben
private Unterstützung organisiert. Sie frage sich dennoch, ob es richtig
sei, das Vereinbarkeitsproblem auf diese Weise zu individualisieren, sagt
Beck.
Ihre Parteikollegin Nina Stahr, ebenfalls Bundestagsabgeordnete, außerdem
Mutter von drei Kindern im Alter von zwei bis sieben Jahren, kritisiert
deutlich die Arbeitskultur des Bundestages: „Obwohl wir durch Corona
dazugelernt haben sollten, haben wir diese Präsenzkultur. Wir haben immer
noch nicht verinnerlicht, dass es nicht darum geht, bei allem vor Ort zu
sein.“ Stahr findet: „Es ist durchaus okay, dass man sich auch mal
vertreten lässt.“ Etwa so wie Jacinda Ardern, die neuseeländische
Premierministerin, die 2018, knapp ein Jahr nach Amtsübernahme, Mutter
wurde und sich nach der Geburt für sechs Wochen als Regierungschefin
vertreten ließ. Danach übernahm ihr Mann die Kinderbetreuung, Ardern
arbeitet seither wieder in Vollzeit.
Wäre es auch für Anne Spiegel vertretbar gewesen, sich zehn Tage nach einer
Flutkatastrophe vertreten zu lassen? Immerhin hatte sie ja einen
Krisenstab eingesetzt, und für das Management der Katastrophe war nicht
allein das Umweltministerium verantwortlich, sondern das gesamte Kabinett.
Nein, meinen einige. Als vor 25 Jahren die Oder über ihre Ufer trat, sei
[3][der damalige brandenburgische Umweltminister Matthias Platzeck]
schließlich auch vor Ort gewesen und habe „gefühlt“ jeden einzelnen
Sandsack persönlich abgenommen.
Katharina Beck findet, auch aus der Ferne könne gemanagt, notfalls
delegiert werden. „Physische Präsenz ist doch nicht die einzige
Voraussetzung für verantwortungsvolles Handeln.“ Sie wünsche sich mehr
Verständnis dafür, wie arbeiten im 21. Jahrhundert funktioniert.
## Die Grünen wollen „unfassbar familienfreundlich“ sein
Es ist bemerkenswert, dass nun kurz nacheinander zwei Grüne
Spitzenpolitiker:innen, die auch Mütter sind, in den Fokus politischer
Kritik geraten und sich für verschiedene Dinge rechtfertigen müssen. Erst
Annalena Baerbock wegen eines unpräzisen Lebenslaufes und eines
zusammengeschusterten Buches, jetzt Anne Spiegel. Zufall? Keine Partei hat
mit 60 Prozent einen so hohen Frauenanteil im Bundestag wie die Grünen,
keine hat so früh und konsequent angefangen, die Geschlechterverteilung in
der Gesellschaft über Quotierung in die politischen Institutionen zu
übersetzen.
Als „unfassbar familienfreundlich“ nimmt Katharina Beck ihre Partei wahr.
Sie selbst wurde als Hochschwangere zur Spitzenkandidatin gewählt und habe
seither nur Unterstützung und Verständnis von ihren politischen
Mitstreiter:innen bekommen. Erfolgreich hätten die Grünen einen neuen
Politiker:innentypus nach vorn gestellt, meint sie. Aber dieser neue
Typus stünde eben auch unter schärferer Beobachtung, da zähle „die B-Note�…
mitunter stärker als Inhalte. „Auf solche Angriffe müssen wir besser
vorbereitet sein.“
Das klingt wie eine sehr vorsichtig und fein verpackte Kritik am
Krisenmanagement der Grünen, das letztlich auch bei Annalena Baerbock nur
mäßig funktionierte. Im Fall von Anne Spiegel schien auch die Grüne
Führungsriege vorübergehend im Urlaub gewesen zu sein – niemand sprang der
einstigen Hoffnungsträgerin zur Unterstützung bei. Dagegen konnten
Unionsminister in der Vergangenheit trotz versenkter Mautmillionen oder
Maskenskandale locker im Amt bleiben – auch deshalb, weil ihre Parteien
sich breitbeinig zum Schutz vor sie stellten.
Katharina Beck hofft, dass der Fall Spiegel die Chance eröffnet, künftig
ehrlicher über die Möglichkeiten und Schwierigkeiten der Vereinbarkeit von
Beruf und Familie zu sprechen. Eine solche Diskussion wäre durchaus ein
Fortschritt – aber auch eine Herausforderung für die Leistungsgesellschaft,
die Erfolg noch immer vorrangig in beruflichen Faktoren misst.
17 Apr 2022
## LINKS
[1] /Ruecktritt-von-Ministerin-Anne-Spiegel/!5845195
[2] /Ostern-und-die-positive-Fehlerkultur/!5846139
[3] /Nachwirkungen-der-Flutkatastrophe/!5848256
## AUTOREN
Shoko Bethke
Anna Lehmann
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