# taz.de -- Rücktritt von Ministerin Anne Spiegel: Zwischen den Krisen | |
> Die zurückgetretene Familienministerin Spiegel erklärte ihren Urlaub mit | |
> persönlichen Gründen. Muss während privater Krisen eine Auszeit möglich | |
> sein? | |
Bild: Familienministerin Spiegel am 10. April vor der Presse. Am Tag darauf tri… | |
Abgekämpft sieht Anne Spiegel aus, als sie am Sonntagabend um 21 Uhr vor | |
die Kameras tritt, [1][um ihr Verhalten nach der Flutkatastrophe im Ahrtal | |
vergangenes Jahr zu erklären]. Sie spricht langsam und sucht nach Worten, | |
im Lauf des siebenminütigen Statements bricht ihr mehrfach die Stimme. | |
2019, beginnt sie, habe ihr Mann einen Schlaganfall erlitten. Dazu kam die | |
„wahnsinnige Herausforderung“ der Pandemie, die die vier kleinen Kinder | |
„ganz klar mit Spuren versehen“ habe. Da habe sie einen Fehler gemacht: | |
Neben ihrem Amt als Familienministerin in Rheinland-Pfalz und der | |
Spitzenkandidatur für die Grünen ab 2021 übernahm sie auch noch das Amt als | |
geschäftsführende Umweltministerin. | |
„Das hat uns als Familie über die Grenze gebracht“, sagt Spiegel, „es war | |
zu viel“. Zum ersten Mal hätten sie die gemeinsame Zeit dringend gebraucht. | |
Die Abwägung zwischen ihrer Verantwortung als Ministerin und Mutter von | |
vier kleinen Kindern habe sie sich nicht leicht gemacht. [2][Und doch: „Es | |
war ein Fehler, dass wir in Urlaub gefahren sind.“] | |
Spiegels Auftritt wird in Erinnerung bleiben. Als ein in der | |
bundesdeutschen Politik singuläres und hochemotionales Statement, das bis | |
weit ins Private die Gründe für ihr berufliches Verhalten offenlegt. Sofort | |
wird es hitzig, zum Teil hämisch debattiert. Authentisch, sagen die einen – | |
überfordert, nennen es die anderen. So oder so wirft es Fragen auf: Längst | |
nicht nur die nach der Notwendigkeit [3][von Spiegels am Montag erfolgtem | |
Rücktritt], um die es in diesem Text auch nicht gehen soll. Sondern auch | |
und vor allem größere: die nach Vereinbarkeit von Politik und Familie. | |
Drei Jobs, das lässt sich wohl festhalten, sind so gut wie immer zwei Jobs | |
zu viel. Doch die Gnadenlosigkeit des politischen Geschäfts, in dem es vor | |
allem Frauen noch immer schwer gemacht wird, an die Spitze zu kommen, | |
potenziert den Druck enorm. Viele erfolgreiche Frauen in der Politik haben | |
keine Kinder, Angela Merkel zum Beispiel oder Claudia Roth. Nur gut ein | |
Drittel aller Bundestagsabgeordneten sind überhaupt Frauen. Weibliche | |
Bundestagsabgeordnete bekommen weniger Kinder als andere Frauen, so eine | |
Studie der Hanns-Seidel-Stiftung. Die Gründe: hohe zeitliche Belastung und | |
Rechtfertigungsdruck nach allen Seiten. | |
## Leben in klaren Rollen | |
Die, die mit oder trotz Kindern oben ankommen, leben häufig in klaren | |
Rollen: Der Mann übernimmt das Private. Anne Spiegel organisiert ihr Leben | |
so, Annalena Baerbock ebenfalls. Aber muss während privater Krisen nicht | |
auch für Spitzenpolitikerinnen eine Auszeit möglich sein? Warum ist es so | |
schwer vorstellbar, dass eine vierfache Mutter – oder ein Vater – in einer | |
Extremsituation Zeit braucht für die Familie? Ein Ministerium, eine Partei, | |
eine funktionierende Organisation muss in der Lage sein, das aufzufangen. | |
Sonst kann sie im 21. Jahrhundert nicht als funktionierende Organisation | |
gelten. | |
Die Art und Weise wie Medien funktionieren, wie sie auf Skandalisierung aus | |
sind, macht die Sache nicht einfacher. Wäre Baerbock aus privaten Gründen | |
derzeit nicht in Sachen Ukraine präsent, wäre sie längst verhöhnt und | |
verrissen. Dasselbe hätte wohl für Anne Spiegel gegolten, hätte sie direkt | |
nach der Flut erklärt, aus privaten Gründen eine Auszeit zu brauchen. Das | |
jedoch sagt mehr über bestehende Strukturen als über Spiegel selbst. Ist | |
Symbolpolitik, ist Repräsentanz in der Ausnahmesituation so wichtig, dass | |
nicht auch die Staatssekretär:in übernehmen kann? Denken wir Führung so | |
autoritär, dass nur die starke Frau, der starke Mann uns in Sicherheit | |
wiegt? | |
Man darf und muss einer sich als aufgeklärt verstehenden Gesellschaft | |
zumuten, auch mal mit Stellvertreter:innen klarzukommen. Unser | |
Verständnis von Politik, von Arbeit und Care steht in Frage, wenn es keinen | |
Raum dafür gibt, andere, belastbare Modelle zu diskutieren. Den aber muss | |
es geben, damit Entscheidungen zwischen zwei Krisen wie bei Anne Spiegel | |
nicht an der einzelnen Person hängenbleiben. | |
## Belastung und Schwäche | |
Erst jetzt, nach der Kampagne von Bild und CDU, entschied sich Anne | |
Spiegel, einen Einblick zu geben in das Dilemma, in dem sie sich befand und | |
mit privaten Details zu ihrem Mann, Krankheit und Kindern an die | |
Öffentlichkeit zu gehen. Auch das wiederum erregt Missfallen: Muss das | |
sein, das Private so ins Licht zu zerren? Und liegt nicht auch eine | |
Instrumentalisierung, ein Hauch von Inszenierung sogar noch in diesem | |
Statement? | |
Gewohnt sind wir solche Statements als Gesellschaft bisher jedenfalls | |
nicht. Der politische Diskurs ist weitgehend frei von Privatem, von | |
Authentizität sowieso. Um aber miteinander ins Gespräch zu kommen, braucht | |
es wohl manchmal Einblicke in Sphären, die auch Berührungsängste auslösen. | |
Um herauszufinden und offenzulegen, welches die Bruchstellen sind in der | |
Welt, wie wir sie organisieren, braucht es Einsichten in das, was selten an | |
die Oberfläche dringt. | |
Frei von Privatem, von Belastung und Schwäche – so kaltschnäuzig und | |
unverfroren etwa wie Scheuer, Amthor und Co – ist Politik ohnehin absolut | |
nicht wünschenswert. Politik genau sowie Gesellschaft sollten das aushalten | |
und eine Debattenkultur mitprägen, die nach Wegen sucht, existenzielle | |
Krisen wie die Anne Spiegels in Zukunft abfedern zu können. | |
11 Apr 2022 | |
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## AUTOREN | |
Patricia Hecht | |
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