# taz.de -- Umgang mit Autokrat Putin: Naive Regime-Change-Fans | |
> Auf einen Regimewechsel zu setzen, ist leichtfertig. Nicht mit Putin | |
> verhandeln zu wollen, ist verständlich, aber falsch. Eine Antwort auf | |
> Claus Leggewie. | |
Bild: Viele Menschen wünschen sich Putin hinter Gittern: Demonstrant in Ungarn | |
Putin hat den Westen belogen und führt einen brutalen Angriffskrieg gegen | |
die Ukraine. Es gibt Hinweise, dass noch nicht mal der russische | |
Geheimdienst in die Kriegsplanung eingeweiht war. Die politische Elite in | |
der Putin-Diktatur mag genau so großrussisch chauvinistisch verblendet sein | |
wie der Präsident – doch diesen Krieg würde es ohne Putin nicht geben. | |
Es klingt unterkomplex und nach „Männer machen Geschichte“ – aber es gibt | |
historische Situationen, in denen das Verschwinden einer einzelnen Figur | |
entscheidend sein kann. So hat Jörg Baberowski in „Verbrannte Erde“ | |
anschaulich beschrieben, dass mit Stalins Tod 1953 der barbarische Terror | |
abrupt endete. | |
Putin gestürzt sehen zu wollen, ist ein verständlicher Wunsch. Es erscheint | |
naheliegend, dass der Westen darauf setzen sollte. Genau das hat | |
[1][US-Präsident Joe Biden kürzlich getan]. Doch dies zur politischen | |
Leitlinie zu machen, ist falsch und kurzsichtig. Diese Position ist genauer | |
betrachtet pure Gesinnungsmoral, die sich um die Folgeschäden nicht kümmert | |
und sich bei entscheidenden Fragen einen schlanken Fuß macht. | |
Wenn der Westen nicht mit Putin (und, wenn wir [2][Claus Leggewie folgen], | |
auch nicht mit einem ihm genehmen Nachfolger) verhandelt – was kommt | |
danach? Was wird aus dem [3][Iran-Abkommen], das Trump gekündigt hatte und | |
bei dem Russland bislang eine konstruktive Rolle spielt? Es ist kaum | |
verantwortliche Politik, aus Abscheu vor Putin eine Nuklearmacht Iran zu | |
riskieren. | |
## Es geht um eine aggressive Atommacht | |
Auch dass sich der Westen irgendwann vielleicht möglichen Verhandlungen um | |
einen kalten Frieden in der Ukraine verweigert, weil Putin und seine | |
Nachfolger nicht vor Gericht stehen, ist keine brauchbare Strategie. Und es | |
ist keine kluge Politik, wegen des russischen Angriffskrieges für | |
Jahrzehnte Klimaschutzpolitik ohne das größte Land der Erde zu machen. | |
Aber vielleicht ermutigt das Gerede über Putins Sturz ja die russische | |
Opposition, entschlossen gegen das Regime vorzugehen? Das ist aber vollends | |
naiv. Wann haben Aufrufe, Tyrannen zu stürzen, ausgerechnet von | |
Kriegsgegnern je gefruchtet? Zudem lassen die Fürsprecher des Regime Change | |
nonchalant einen Fakt unter den Tisch fallen, der Beachtung verdient. Es | |
geht nicht um Serbien, sondern um eine aggressive Atommacht. | |
Das Kokettieren mit Regime Change und Boykottfantasien mag moralisch | |
anständig wirken. Aber der Preis, der für diese Geste zu zahlen wäre, ist | |
hoch – politische Handlungsunfähigkeit oder politisches Desperadotum. Man | |
feiert die eigene Moral, meidet aber, sich Rechenschaft über die Folgen | |
abzulegen. Dies zur Leitlinie zu machen folgt dem | |
Pippi-Langstrumpf-Prinzip: „Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt.“ | |
In der Welt, wie sie ist, ist Russland nicht so isoliert, wie es | |
wünschenswert wäre. In der UN-Vollversammlung haben die Regierungen, die | |
die Hälfte der Weltbevölkerung repräsentieren, darunter fünf Atommächte, | |
nicht für die Verurteilung Russland gestimmt. Das ist die neue Weltordnung. | |
Man sollte sie zur Kenntnis nehmen. | |
## Liberaler Imperialismus | |
Misstrauisch macht auch, dass die Aufrufe, Diktatoren zu beseitigen, lange | |
zur Praxis des „liberalen Imperialismus“ (Carlo Masala) gehörten. In | |
Afghanistan, dem Irak und in Libyen hat die Illusion, man müsse nur | |
Taliban, Saddam und Ghaddafi mit genug Feuerkaft bekämpfen, um Frieden und | |
Demokratie zum Durchbruch zu verhelfen, eine blutige Schneise der | |
Verwüstung hinterlassen. | |
Die bellizistische Fraktion, zu der Bernard-Henri Levy, Daniel | |
Cohn-Bendit, Leggewie und andere zählen, hat sich nie einer | |
selbstkritischen Prüfung unterzogen, wohin ihr moralischer Grundimpuls, | |
einzugreifen, geführt hat. Alle Versuche, Systeme mit Gewalt von außen zu | |
stürzen, sind in den letzten 20 Jahren desaströs gescheitert. | |
Zur Fähigkeit von Demokratien gehört bekanntlich, schneller als Diktaturen | |
aus Fehlern zu lernen. Der publizistischen Fraktion, die unbedingt | |
Demokratie mit Gewalt exportieren will, scheint genau dies abzugehen. Sie | |
ist unfähig, Fehleinschätzungen zu korrigieren und die Trümmerberge | |
wahrzunehmen, die sich hinter ihr auftürmen. | |
Schließlich fragt sich auch, wo die Grenze der Moral verläuft. Wäre ein | |
Boykott nicht auch im Fall Xi Jipings geboten, der brutal gegen | |
Minderheiten vorgeht? Was ist mit George W. Bush, der mit Lügen einen | |
völkerrechtswidrigen Angriffskrieg führte, an dessen katastrophalen Folgen | |
die Region 20 Jahre später noch leidet? | |
## Über nukleare Abschreckung neu nachdenken | |
Kein Missverständnis: Wer die Zahl der Toten des „liberalen Imperialismus“ | |
benutzt, um Putins monströses Verbrechen zu verkleinern, ist moralisch | |
bankrott. Wer versucht, der Nato eine Mitschuld am Überfall auf die Ukraine | |
zu geben und sich an einen starr auf die USA fixierten Antiimperialismus | |
klammert, verdient intellektuell und moralisch nur Verachtung. | |
Auch wir, die immer skeptisch auf Militär und humanitäre Interventionen | |
schauten, brauchen seit dem 24. Februar ein selbstkritisches Exerzitium. | |
Wir müssen uns fragen, warum wir so naiv waren, den [4][russischen | |
Imperialismus] nicht klarer erkannt zu haben. Wir müssen begreifen, dass | |
die Bedrohung durch den russischen Imperialismus von Dauer sein wird. | |
Wir müssen über atomare Abschreckung in Europa für den Fall nachdenken, | |
dass jemand wie Trump in den USA wieder an die Macht kommt. Wir müssen den | |
Gedanken fassen können, dass atomarer Schutz und nukleare Teilhabe nötig | |
sind, um, wie es Annalena Baerbock in ihrer Grundsatzrede sagte, danach | |
eine Welt ohne Atomwaffen anzustreben. Aufrüsten, um abzurüsten: In den | |
1980er Jahren haben wir das für einen dialektischen Trick gehalten, der den | |
Irrsinn der Rüstung vernebeln sollte. Nach Putins indirekter Drohung mit | |
Atomwaffen ist dieser Gedanke das Gebot der Stunde. | |
Wir müssen vieles denken und befürworten, das uns ungeheuerlich schien. Das | |
Konzept Regime Change gehört nicht dazu. | |
4 Apr 2022 | |
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## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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