# taz.de -- Der Westen und Russland: Regime Change – was sonst? | |
> Die einzige Lösung für Frieden ist ein Regime Change in Russland. Dieser | |
> muss zugleich den Übergang in eine postfossile Weltwirtschaft einleiten. | |
Bild: Biden forderte einen Regierungswechsel. Was es in Russland braucht, ist e… | |
US-Präsident [1][Joe Biden] wird gerade für einen Satz mit Kopfschütteln | |
bedacht, der richtiger und wahrer gar nicht sein könnte: Bleibt Wladimir | |
Putin an der Macht, wird die Welt keine Ruhe haben. Putin darf auch sein | |
eigenes Land nicht länger in den Abgrund führen, er kann niemals der | |
Verhandlungsführer über eine „Friedenslösung“ mit und in der Ukraine sei… | |
er gehört vielmehr vor ein Kriegsverbrechertribunal, und die Milliarden, | |
die er mit seinen Spießgesellen zusammengerafft hat, müssen für | |
Reparationszahlungen reserviert sein. | |
Das sei naiv? Ja sicher, und zwar im Sinne von Immanuel Kants Definition | |
von Naivität als „Ausbruch der der Menschheit ursprünglich natürlichen | |
Aufrichtigkeit wider die zur andern Natur gewordene Verstellungskunst.“ | |
Verstellung war und ist das Kennzeichen aller Verhandlungs- und | |
Kooperationsangebote, die dem Diktator auch nach dem 24. Februar 2022 | |
unterbreitet wurden. Sie entspringen einer sich „realistisch“ nennenden | |
Denkschule der internationalen Politik, die selbst nach Putins Großangriff | |
auf die institutionellen Grundlagen unserer Weltordnung geostrategische | |
„Realitäten“ wie Russlands Großmachtanspruch anzuerkennen bereit ist. | |
Regime Change ist diesem Denken der Gottseibeiuns. Was Biden reklamiert | |
hat, ist übrigens nicht einmal das. Er hat lediglich die Auswechslung der | |
Spitzenposition im Kreml beschworen, also einen Regierungswechsel. | |
Regimewechsel wäre allein die tiefgreifende Demokratisierung der Russischen | |
Föderation, die neben freien und fairen Wahlen die Unabhängigkeit der | |
Justiz und der Medien, der Wissenschaft und Kunst beinhaltete – Elemente, | |
die nach der oberflächlichen Demokratisierung Russlands nach 1991 allesamt | |
wieder unterdrückt worden sind. Eine per Wahlentscheid ermittelte Mehrheit | |
erschien ausreichend, und darauf berufen sich alle anderen Autokraten, die | |
es Putin nachgetan haben, um ihren Demokraturen den Anschein von | |
Legitimität zu geben. „Kompetitiver Autoritarismus“ ist der Fachterminus | |
für diesen Taschenspielertrick lupenreiner Demokraten. | |
Regimewechsel waren in der Geschichte an der Tagesordnung und sie hatten | |
stets zwei Seiten: den Druck von außen und den Wandel von innen. Ein | |
Regimewechsel, dem wir Heutigen übrigens unsere ganze physische und | |
politische Existenz verdanken, war 1945 Resultat einer kriegerischen | |
Intervention der Antihitlerkoalition, die völlig konträre Weltanschauungen | |
vereinte. Regime endeten auch infolge kontinuierlicher Sanktionen, wie das | |
Apartheid-Regime in Südafrika, welche wiederum die innere Opposition | |
stärkten. Häufig wechselte ein Regime unter dem Druck der Straße, wie | |
zuletzt und allzu rasch konterkariert im „Arabischen Frühling“. Schon der | |
Zusammenbruch der Sowjetunion, der bedeutendste Regimewechsel nach 1945, | |
war Folge eines breiten zivilen Ungehorsams – und zwar in der ČSSR und in | |
Polen. Die folgenden Majdan-Aufstände und bunten Blumen-Revolutionen sind | |
das eigentliche Motiv von Putins vermeintlich irrationalem Handeln. Eher | |
die Ausnahme sind schließlich Regimewechsel durch friedliche Wahlen, deren | |
Ergebnisse von den Herrschenden hingenommen werden – das hofft man jetzt in | |
Ungarn, bald in der Türkei und demnächst in Brasilien zu erleben. | |
In der etablierten Diplomatie und Politikwissenschaft sind Regimewechsel | |
verpönt, weil sie eine Einmischung in „innere Angelegenheiten“ eines | |
anderen Staates darstellen und gegen das im Völkerrecht geheiligte Prinzip | |
der nationalen Souveränität verstoßen. Verpönt sind sie auch, weil sie | |
allzu oft ein schieres imperialistisches Machtstreben verbrämten; die vom | |
CIA unterstützten Staatsstreiche in Lateinamerika sind Legion, ebenso die | |
von der Sowjetunion und dem postsowjetischen Russland inszenierten | |
Machtwechsel und der von der VR China erzwungene Regimewechsel in Hongkong. | |
Unter solchen Vorzeichen ist Regimewechsel selbstredend verwerflich, denn | |
es ging – idealtypisch in dem von Moskau veranlassten Februarumsturz 1948 | |
in der Tschechoslowakei und in dem von den USA und Großbritannien 1953 | |
orchestrierten Putsch gegen die progressive Regierung Mohammed Mossadeghs | |
im Iran – allein darum, frei gewählte Regierungen durch Diktatoren wie den | |
Schah und die stalinistische Gottwald-KP in Prag zu ersetzen. Ein Tiefpunkt | |
war der von den USA unterstützte Sturz der frei gewählten Regierung | |
Salvador Allendes in Chile 1973, mit Tausenden von Ermordeten und | |
Zehntausenden von Gefolterten. | |
Man sieht: Regimewechsel sind ein zweischneidiges Schwert. Die realistische | |
Schule der internationalen Beziehungen führt pragmatische Argumente an, | |
wenn sie Interventionen von außen ablehnt. Das aktuelle Standardbeispiel | |
ist Afghanistan: Selbst wenn man den Sturz der Taliban normativ und | |
moralisch für richtig hielt – er hat eben nachweislich nicht funktioniert. | |
Die Taliban sind erneut an der Macht und können ihr als Gottes Auftrag | |
deklariertes Teufelswerk fortsetzen. Das andere Beispiel eines erfolglosen | |
Regime Change war die (übrigens auch von den größten Falken in den USA nie | |
ganz offen geforderte) Absetzung Saddam Husseins im Irak, die den Mittleren | |
Osten in ein riesiges Chaos stürzte. | |
Daraus hat der Mainstream der internationalen Beziehungen ein regelrechtes | |
Axiom gemacht, wie zuletzt der Chicagoer Politologe Alexander Downes in | |
seinem Buch „Catastrophic Success. Why Foreign-Imposed Regime Change Goes | |
Wrong“ von2021. Downes hat darin 120 Fälle von außen bewirkter Ablösungen | |
von Regierungschefs zwischen 1816 und 2011 analysiert, doch dieser | |
Statistik fehlt der normative Rahmen, der die Dynamik, Legitimität und | |
Qualität des jeweiligen Regime Change einfängt. Besonders entkernt und | |
objektivistisch sind solche Analysen, wenn der Übergang von Diktatur in | |
Demokratie (und vice versa) neutral als „Transition“ charakterisiert wird. | |
Denn demnach könnte ausgerechnet ein Paria wie Putin, der sich mit einem | |
Angriffskrieg, mit Kriegsverbrechen und Völkermord in die inneren | |
Angelegenheiten der Ukraine eingemischt hat, weiterhin Autonomie | |
reklamieren, auch wenn er weitere Grenzverletzungen und Okkupationen schon | |
unverhohlen androht. „Realisten“ führen zu seinen Gunsten wieder ein | |
pragmatisches Argument an: Mit wem sonst sollte man einen (faulen) Frieden | |
schließen, wenn nicht mit der bestehenden russischen Regierung? Dass Biden | |
aus seinem Herzen keine Mördergrube machte, wird in der Weltpresse als | |
Provokation eingestuft – als hätte Putin je äußere Anreize für seine | |
Verbrechen benötigt und solche nicht vielmehr erfunden. | |
Man kennt den Trick: Was er anderen vorwirft, hier also Regimewechsel, hat | |
der Kremlchef selbst höchst aktiv betrieben, indem russische Cyberagenten | |
und Trolle Donald Trump gegen Hillary Clinton aufrüsteten, indem Moskau | |
Rechtsradikale von Marine Le Pen über Alexander Gauland bis Matteo Salvini | |
und Viktor Orbán zur Spaltung der [2][Europäischen Union] animierte und | |
Brexiteers wie Nigel Farage zum Erfolg verhalf. Umgekehrt verhinderte Putin | |
überfällige, von Demokratiebewegungen reklamierte Regimewechsel wie in | |
Syrien und Belarus zur Unterstützung von Seinesgleichen. | |
Zu erwarten, mit dem angeschlagenen Putin (oder einem gleichgesinnten | |
Ersatzmann) einen echten, dauerhaften Frieden aushandeln zu können – das | |
ist im schlechtesten Sinne naiv. Und das gegen Regimewechsel gern angeführt | |
prinzipielle Argument, Demokratieexport verbiete sich per se, weil andere | |
Völker „unsere“ Demokratie überhaupt nicht wollten oder nicht reif dafür | |
wären (oder gar kulturell anders gepolt seien), ist eine Verhöhnung aller, | |
die dort unter Einsatz ihres Lebens für Demokratie, Freiheit und | |
Menschenrechte streiten. | |
Nur in einem hat der russische Präsident recht: Nicht die Vereinigten | |
Staaten entscheiden über das Regime in der Russischen Föderation, sondern | |
das russische Volk. Bidens Worte richteten sich deshalb in erster Linie an | |
jene Teile der russischen Bevölkerung, die von Putin die Nase voll haben | |
und nicht länger als Geisel für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die | |
Menschlichkeit herhalten wollen. Diese Adressierung gibt den Modus des | |
unabweislichen Regimewechsels in Moskau vor, nämlich das Zusammenwirken | |
weiter verschärfter Sanktionen mit der Formierung einer inneren | |
Eliten-Opposition und der Politisierung der in Russland seit mehr als einem | |
Jahrzehnt gärenden lokalen Proteste. Sie richteten sich gegen | |
Umweltkatastrophen, Verarmung und Alltagsbeschwerden, hatten aber aufgrund | |
der Unterdrückung der [3][politischen Opposition] keine Bündelung und | |
Führung gefunden. | |
Die wichtigste Aufgabe der Klima- und Friedensdiplomatie besteht nicht in | |
der Anbahnung des Verrats an der Ukraine, sondern in der geduldigen | |
Zerlegung des Blocks, den Russland und China mit dem BRICS-Bündnis im | |
„globalen Süden“ aufgebaut haben. Denn bei dem anderen überfälligen | |
„Regimewechsel“, nämlich der Transformation in eine postfossile | |
Weltwirtschaft, ist auf Regime, die Rohstoffe aus dem Boden holen und die | |
Bodenrenten oligarchisch verteilen, kein Verlass. Im Übergang in eine | |
menschen- und naturfreundliche Welt ist Blockfreiheit keine Option mehr, | |
denn zwischen Rohstoffexport und Autokratie besteht ein enger Zusammenhang. | |
Die Chance, die Putins Aggression zynischerweise auf Kosten des | |
ukrainischen Volkes bietet, besteht darin, mit einem viel weiter reichenden | |
Regimewechsel eine globale Klimapolitik zu ermöglichen, die repressionsfrei | |
nur unter demokratischen Verhältnissen gelingen kann. | |
2 Apr 2022 | |
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Claus Leggewie | |
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