| # taz.de -- Thomas Kutschaty über NRW-Wahlen: „Die 1.000 Meter müssen weg“ | |
| > In Nordrhein-Westfalen ist man auf fossile Rohstoffe aus Russland | |
| > besonders angewiesen. Thomas Kutschaty, Spitzenkandidat der SPD will das | |
| > ändern. | |
| Bild: Will was für die Unabhängigkeit von Russland tun: Thomas Kutschaty | |
| Schlosstheater-Café in Münster, Donnerstagabend. Eine ältere Dame kommt auf | |
| Thomas Kutschaty, früher Justizminister, zu und möchte ein Autogramm. | |
| „Hoffentlich werden Sie Ministerpräsident“, sagt sie. Dass jemand von ihm | |
| in Münster ein Autogramm will, sei ihm noch nie passiert, sagt der SPD-Mann | |
| später nach dem Interview mit der taz. Münster ist für die Sozialdemokratie | |
| eher Diaspora: wohlhabend, katholisch und schwarz-grün dominiert. | |
| Für Kutschaty und die Bundes-SPD geht es bei der Wahl am 15. Mai in NRW um | |
| viel. Die Wahl im Saarland lief gut. In NRW wird sich zeigen, ob sich der | |
| Sieg bei den Bundestagswahlen 2021 eher der Schwäche der Konkurrenz | |
| verdankte – oder ob das schon oft totgesagte Modell der Volkspartei der | |
| linken Mitte wieder dauerhaft mehrheitsfähig wird. | |
| taz am wochenende: Herr Kutschaty, Sie wollen im Mai neuer | |
| SPD-Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen werden. Hilft Ihnen der Sieg | |
| von [1][Anke Rehlinger] an der Saar? | |
| Thomas Kutschaty: Das ist Rückenwind für uns. Junge amtierende | |
| CDU-Ministerpräsidenten, die dauernd mit dem Finger auf Berlin zeigen, | |
| können abgewählt werden. Das wollen wir in NRW wiederholen. | |
| An der Saar war der Amtsbonus eher bei Rehlinger, die zehn Jahre Ministerin | |
| war, als bei Seiteneinsteiger Hans. Sie haben keinen Amtsbonus. | |
| Nein, aber ich war sieben Jahre Justizminister in NRW. Und es geht vor | |
| allem um den besseren Plan für die Zukunft. Wir müssen für den | |
| klimaneutralen Umbau in den nächsten Jahren so viel ändern wie selten | |
| zuvor. Schwarz-Gelb hat in den letzten fünf Jahren mit der Abstandsregel | |
| von einem Kilometer den Ausbau der Windkraft blockiert. Allein 2017 wurden | |
| unter Rot-Grün mehr Windräder in NRW gebaut als in den drei Jahren danach. | |
| Unter der CDU wurde den Erneuerbaren der Wind aus den Segeln genommen. | |
| Welche Abstandsregel rund um Windräder will die SPD? | |
| Die 1.000 Meter müssen weg. Wir werden uns an die baurechtlichen Gesetze | |
| halten, die überall gelten. Nur in NRW und Bayern nicht. | |
| Und der Widerstand gegen die Windenergie vor Ort? | |
| Die Akzeptanz ist derzeit größer als je zuvor. Wir brauchen mehr | |
| Bürgerbeteiligungen bei Windparks. Wenn der Gewinn den Kommunen oder den | |
| Bürgern zugutekommt, steigt die Akzeptanz noch mal. Windkraft ist nicht | |
| teuer. Es gibt genug Firmen, die dringend Flächen suchen und sofort bauen | |
| würden. Die wollen keine Zuschüsse, sondern schnellere Planungsverfahren. | |
| Ist seit dem [2][Ukrainekrieg] nicht alles anders? Braucht die Industrie in | |
| NRW nicht Atomstrom und Braunkohle, um einem möglichen Kollaps zu entgehen? | |
| Wir müssen schnell raus aus der Abhängigkeit vom russischen Gas. Und so | |
| schnell wie möglich weg von fossilen Energien. Wenn wir jetzt Gas aus Katar | |
| bekommen, ist das nur das kleinere Übel. Um autark zu werden, müssen wir | |
| effizienter werden und die Erneuerbaren ausbauen. | |
| An Deutschlands [3][Energieabhängigkeit von Russland] ist auch die | |
| Bundes-SPD schuld. Ist da nicht Selbstkritik fällig? | |
| Alle im Kanzleramt, im Außen- oder Wirtschaftsministerium sind in den | |
| letzten Jahren von Putin getäuscht worden. Auch ich habe lange an den | |
| Grundsatz geglaubt: Wer miteinander Handel treibt, führt keine Kriege | |
| gegeneinander. Doch da haben wir uns über Parteigrenzen hinweg leider | |
| getäuscht. So abhängig von einem einzelnen Lieferstaat zu sein, ist ein | |
| klarer Fehler. | |
| Eine spezielle Verantwortung der SPD sehen Sie nicht? | |
| Alle, die in den letzten Jahren regiert haben, tragen eine | |
| Mitverantwortung. | |
| Manche sagen: Wegen des Ukrainekrieges müssen jetzt alle Energiereserven | |
| mobilisiert werden – auch Atomstrom. Einverstanden? | |
| Nein, Atomkraft ist keine Alternative. Sie lohnt sich nicht, und auch | |
| Kernbrennstoffe müssen importiert werden. Unsere Abhängigkeit von Russland | |
| hat deutlich gemacht, dass die Energiewende nicht nur fürs Klima, sondern | |
| auch für unsere Sicherheit unverzichtbar ist. Jede Windkraftanlage ist ein | |
| Stück Sicherheit, jede Photovoltaikanlage ein Stück Unabhängigkeit. | |
| Und heimisches Gas? Im Norden NRWs gibt es Vorkommen, die mit Fracking | |
| erschlossen werden könnten … | |
| Das unkonventionelle Fracking gefährdet das Grundwasser. Es gibt genug | |
| Beispiele aus den USA und Kanada, wo braunes Wasser aus dem Wasserhahn kam, | |
| weil die Grundwasserschichten komplett durcheinandergewirbelt wurden. Die | |
| Gefahr, mit Chemie die Umwelt zu verseuchen, ist riesig. Beim Fracking | |
| steht das Risiko in keinem Verhältnis zum Nutzen. Deswegen ein klares Nein. | |
| 15 Prozent des russischen Gases werden zur Stromproduktion gebraucht. Soll | |
| das durch Braunkohle ersetzt werden? | |
| Nein. Wer glaubt, Atomkraft, Braunkohle oder Gas seien billige Energien, | |
| irrt sich. Wir werden idealerweise 2030 aus der Kohle aussteigen, | |
| allerspätestens 2038. Wir verhandeln mit den Energieunternehmen, wie der | |
| Ausstieg schneller gelingen kann. Auch die Gewerkschaft IGBCE hat | |
| akzeptiert, dass ein frühzeitiger Ausstieg sinnvoll ist. Das Wichtige ist, | |
| dass wir Energiesicherheit gewährleisten. Dafür haben die erneuerbaren | |
| Energien oberste Priorität. | |
| 30 Prozent des Öls, 45 Prozent der Steinkohle, mehr als 50 Prozent des | |
| Gases kommen aus Russland. Machen Sie sich keine Sorgen um die | |
| energieintensiven Chemie- und Stahlunternehmen in NRW? | |
| Doch. Ich war kürzlich bei ThyssenKrupp, in Chemiebetrieben und | |
| Aluminiumhütten und habe mit Unternehmen, Gewerkschaften und Betriebsräten | |
| geredet. Ja, das macht mir Sorgen. Deswegen wäre es fahrlässig, von heute | |
| auf morgen ein Embargo gegen Russland zu verhängen. Das ist zwar moralisch | |
| hochanständig, würde aber bei uns Hunderttausende Arbeitsplätze gefährden. | |
| Wir müssen uns schnell, aber mit Augenmaß unabhängig von russischen | |
| Energielieferungen machen. | |
| Also kein Embargo. Wie steht es mit autofreien Sonntagen oder einem | |
| Tempolimit? | |
| Das Tempolimit steht im SPD-Bundeswahlprogramm. Wir sind damit leider an | |
| der FDP gescheitert. Die gestiegenen Spritpreise sorgen schon jetzt dafür, | |
| dass manche aus meiner Nachbarschaft sagen: Ich nehm jetzt mal das Fahrrad. | |
| Werden die hohen Energiekosten die neue Verteilungsfrage? Wie wollen Sie | |
| Wähler:innen mit niedrigeren Einkommen schützen? | |
| Wir werden nicht jede Preiserhöhung staatlich abfedern können. Deshalb | |
| müssen die geringen und mittleren Einkommen steigen. Der Mindestlohn von 12 | |
| Euro ist richtig. In Nordrhein-Westfalen profitieren davon 1,6 Millionen | |
| Menschen. Dazu brauchen wir die im Koalitionsvertrag auf Bundesebene | |
| vereinbarte Kindergrundsicherung. Völlig ungerecht ist, dass ich mit meinem | |
| hohen Einkommen als Politiker ebenso viel Kindergeld bekomme wie | |
| Hartz-IV-Empfänger:innen, nämlich 219 Euro. Und denen werden diese 219 Euro | |
| sogar noch wieder von ihrer Grundsicherung abgezogen. | |
| Im [4][Wahlprogramm fordert die SPD] Milliarden für die Schulsanierung, die | |
| Abschaffung von Kita-Gebühren, den Bau von 100.000 neuen Wohnungen, eine | |
| neue landeseigene Wohnungsbaugesellschaft. Wie wollen Sie das finanzieren? | |
| Die Wohnungsbaugesellschaft kostet mit 20 bis 30 Millionen Euro | |
| Investitionskosten relativ wenig. Ansonsten finanziert sie den Wohnungsbau | |
| wie jeder andere Häuslebauer auch: über Kredite, die mit den Mieteinnahmen | |
| zurückgezahlt werden. In Zeiten günstiger Zinsen ist das eine geniale Idee. | |
| Ohne größeren Einsatz von Steuergeld wird ein Landesvermögen aufgebaut – | |
| und bezahlbarer Wohnraum geschaffen. | |
| Eine landeseigene Wohnungsgesellschaft gab es schon mal in NRW. | |
| Der damalige CDU-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers hat sie 2008 | |
| privatisiert, also an Großinvestoren verkauft. Das war ein katastrophaler | |
| Fehler. Heute liegt der Wert der mehr als 100.000 Wohnungen um ein | |
| Vielfaches höher. | |
| Wie teuer wird die von der SPD geplante Sanierung der Schulen? | |
| Die werden wir über Kredite finanzieren, die aktuell günstig wie nie sind. | |
| Das kostet etwa 2 Milliarden Euro. | |
| Die wegen der Schuldenbremse nicht im regulären Landeshaushalt auftauchen? | |
| Das Geld soll über einen Zeitraum von 20 Jahren von der NRW-Bank | |
| bereitgestellt werden. Der Landeshaushalt wird damit jährlich nur mit etwa | |
| 100 Millionen plus Zinsen belastet. Noch einmal: Wir reden hier über | |
| allerwichtigste Zukunftsinvestitionen. Unabhängig von der Herkunft müssen | |
| wir Kindern die besten Chancen auf einen guten Schulabschluss bieten. | |
| Aktuell ist NRW das Land mit den niedrigsten Bildungsausgaben pro Schülerin | |
| und Schüler. Das müssen wir ändern. | |
| Also mehr Chancengerechtigkeit? | |
| Nein, Chancengleichheit. Denn was ungleich ist, muss auch ungleich | |
| behandelt werden. Deshalb wollen wir Talentschulen besonders fördern, mit | |
| mehr Lehrerinnen und Lehrern. Ich kann an der Postleitzahl vorhersagen, wie | |
| groß die Chancen für den Bildungserfolg sind. Das macht mich echt wütend. | |
| Das muss anders werden. | |
| Sie werben mit Ihrer persönlichen Biografie um klassische SPD-Klientel. | |
| Ihre Eltern haben in einem Zwei-Zimmer-Dachgeschoss mit Kohleofen gelebt. | |
| Ist das nicht zu dick aufgetragen? | |
| Als ich sechs war, sind wir umgezogen. Den Ofen gab es in der größeren | |
| Wohnung immer noch. Was uns prägt, motiviert uns für das, was kommt. Daher | |
| ist mir das wichtig. Ich kenne die Situation von Leuten, die nicht auf | |
| Rosen gebettet sind und für Dinge kämpfen müssen, die für andere | |
| selbstverständlich sind. | |
| 2 Apr 2022 | |
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