# taz.de -- Therapeut über die aktuellen Ereignisse: „Aufmerksam sein und na… | |
> Nicht alle reagieren gleich auf Nachrichten von Krise und Krieg. Manche | |
> Menschen geraten in Stress und kapseln sich ab. Austausch kann hier | |
> helfen. | |
Bild: Besser nicht alleine bleiben! Kundgebung für Solidarität mit der Ukrain… | |
taz: Herr Dr. Wedekind, die aktuellen Ereignisse rund um den Ukrainekrieg | |
lösen bei vielen Unsicherheit, Hilflosigkeit und manchmal sogar Angst aus. | |
Wie können Menschen damit umgehen? | |
Dirk Wedekind: Es gibt in so einer Situation [1][ganz realistische Ängste], | |
die jeder Mensch mehr oder weniger ausgeprägt hat. Krieg hat schließlich | |
immer etwas Überwältigendes und Unvorhersehbares. Wichtig ist in so einer | |
Situation, dass man versucht, möglichst viele Informationen zu bekommen, um | |
die Situation möglichst realistisch einschätzen zu können. | |
Diese Informationsflut kann aber auch belastend sein … | |
Solche Gewaltausbrüche, wie wir sie gerade in Bildern und Nachrichten | |
mitbekommen, können Dimensionen annehmen, die für den Einzelnen oder auch | |
Teile einer Gesellschaft schwer zu verarbeiten sind. Da stößt man schnell | |
an seine individuellen Grenzen. Insgesamt, denke ich, muss man ein wenig | |
differenzieren. | |
In welcher Hinsicht? | |
Es gibt Menschen, die ängstlicher sind oder die sogar eine manifeste | |
Angststörung oder eine Traumafolgestörung haben. Es macht einen | |
Unterschied, ob solche belastenden Eindrücke auf jemanden einströmen, der | |
bereits eine gewisse Vorgeschichte mit einer psychischen Erkrankung hat. | |
Können Sie das erläutern? | |
Wenn Stress dieses unkontrollierbare Element bekommt und man das Gefühl | |
hat, selbst gar nichts tun zu können, was einem in dieser Situation helfen | |
würde, kann es zu einer überschießenden Stressreaktion kommen. Ob diese | |
krankheitswertig wird, hängt von der Vorgeschichte und der individuellen | |
Sensibilität ab. | |
Was können Menschen, deren Sensibilität erhöht ist, tun? | |
Leute, die dazu neigen, sich vermehrt Sorgen zu machen, sind gut beraten, | |
sich mit Menschen auszutauschen, die idealerweise nicht diese ausgeprägte | |
übermäßige Sensibilität haben. Durch das Zwischenmenschliche ist auf eine | |
gewisse Weise eine Regulation von Emotionen möglich. Ähnlich wie bei einem | |
gestressten Kind, das Trost durch die Eltern erfährt, können Menschen mit | |
einem stärkeren Angstniveau Unterstützung durch das Interagieren mit | |
anderen erfahren. | |
Wie begegnet man Menschen, die zu übermäßigen Sorgen neigen, denn am | |
besten? | |
Versuchen Sie zu erkennen, wann und bei was jemand sehr emotional reagiert | |
und wo sich das Stressniveau verselbstständigt. Dem sollte man, wenn | |
möglich, mit Zuversicht und vor allem Zuneigung begegnen. Solche Menschen | |
neigen dazu, viel zu viel mit sich selbst auszumachen und weniger Hilfe in | |
Anspruch zu nehmen. Da sind Familie, Freunde und Bekannte gefordert, | |
aufmerksam zu sein und konkret nachzufragen, wie es der betroffenen Person | |
mit der aktuellen Situation geht. Mit anderen zusammen sein, ist für viele | |
schon eine Entlastung, um mit den Sorgen besser klarzukommen. | |
Nun leben besonders in Großstädten viele Menschen allein. Auch die Pandemie | |
hat vermutlich zu einer gewissen sozialen Isolation beigetragen. Was raten | |
Sie denen, die sich gerade viel sorgen und auch noch viel allein sind? | |
Es gibt Möglichkeiten, die dafür sorgen, dass wir unser Stresssystem etwas | |
regulieren können. Dazu zählt ein gewisses Maß an Bewegung und | |
ausgleichenden Tätigkeiten. Man sollte sich mit Sachen beschäftigen, die | |
einen von diesem Gedankenkreisen, die besonders Menschen mit psychischen | |
Erkrankungen ereilen, ablenken. | |
Besonders sensibel scheinen momentan vor allem Menschen zu reagieren, | |
[2][die bereits auf die ein oder andere Art Erfahrungen mit Krieg gemacht | |
haben]. Meine Großmutter beispielsweise hat plötzlich Angst vor | |
Bombenangriffen. Wie kann man dem begegnen? | |
Diese Erfahrung, wenn wir jetzt vom Zweiten Weltkrieg sprechen, ist bei | |
vielen derjenigen, die ihn noch erlebt haben, ganz tief vergraben. Viele | |
davon waren damals noch sehr jung und konnten nicht so recht verstehen, was | |
passiert. Sie haben als Heranwachsende in zerbombten Städten gelebt, waren | |
auf der Flucht oder haben gar Gewalt durch Soldaten erlebt. Die aktuellen | |
Bilder und Nachrichten können diese Erinnerungen wieder aktivieren, auch | |
wenn keine unmittelbare Gefahr herrscht. Wenn die damaligen Erlebnisse | |
traumatisierenden Charakter hatten, können Gefühle hochkommen, die durchaus | |
vergleichbar sind mit dem Erleben der reellen Situation. Das ist für | |
Betroffene eine extreme Belastung, wenn tatsächlich wieder Angstzustände | |
oder sogar richtige Filme von damals wachgerufen werden. Das ist bei | |
Menschen, die vor mehr als 75 Jahren diese Erfahrung gemacht haben, ebenso | |
relevant wie bei Menschen, die in jüngerer Zeit Kriegserlebnisse hatten und | |
bei denen diese Erinnerungen noch viel frischer sind. | |
Haben Sie nach 2015 einen Zuwachs an Patient*innen mit Kriegstraumata | |
in ihrer Klinik erlebt? | |
Ja, wir haben seitdem vermehrt Menschen aus dem Nahen Osten, aus | |
afrikanischen, aber auch aus osteuropäischen Ländern stationär aufgenommen. | |
Das waren teilweise stark traumatisierte Menschen, die da zu uns kamen und | |
für die die Situation in den Geflüchtetenunterkünften, wo es wenig | |
regulierende Strukturen von außen gab, extrem belastend war. Die hatten | |
bereits mit Kriegs- und Gewalterlebnissen zu kämpfen und sind dann durch | |
tagesaktuelle Ereignisse in den Unterkünften weiter hineingerutscht in | |
diese Krankheitswelt, bis sie ihren Alltag nicht mehr bewältigen konnten. | |
Wie geht man mit Menschen um, deren Traumata durch die aktuelle Lage | |
getriggert werden? | |
Bei leichteren Ausprägungen kann zuhören und die Sorgen ernst nehmen | |
ausreichen. Vielleicht auch im Gespräch herausfinden, wie realistisch | |
gewisse Angstszenarien sind, und versuchen, durch vernünftige Argumente | |
dagegen anzusteuern. | |
Und wenn das nicht reicht? | |
Es kann natürlich sein, dass in der aktuellen Situation ernsthafte Symptome | |
einer alten Erkrankung wiederbelebt werden. Im Akutfall sollte man zum Arzt | |
– ein Hausarzt reicht zunächst – gehen und sich mit diesem bezüglich | |
psychologischer oder psychiatrischer Hilfe besprechen. Ich bin eher | |
dagegen, zu sehr zu pathologisieren. Aber manchmal erreichen die Sorgen | |
eine Qualität, wo die Leute wieder krank werden oder Symptome haben, die | |
den Alltag auf den Kopf stellen. | |
Klimakrise, Coronapandemie, jetzt die Kriegssituation in der Ukraine: | |
Irgendwie ist der Alltag aller zunehmend auf den Kopf gestellt, scheint es. | |
Können wir uns dagegen mental wappnen? | |
Kein leichtes Unterfangen. Natürlich ist es gut, ein Bewusstsein dafür zu | |
haben, dass das Leben ein ständiger Veränderungsprozess ist. Das fällt aber | |
vielen nicht so leicht; sie brauchen Sicherheit und wünschen sich gerade | |
nach so einer langen Zeit der Verunsicherung wie durch die Pandemie | |
Kontinuität. Aber so funktioniert die Welt leider nicht. Man befindet sich | |
in einem ständigen Adaptionsprozess, was nicht heißt, dass das nicht auch | |
enorm auf die Kräfte gehen kann. Und irgendwann ist ein Organismus | |
vielleicht auch mal erschöpft. | |
Und dann? | |
Wenn der Mensch nicht mehr kompensieren kann, besteht die Gefahr, in | |
Krankheitsphasen zu rutschen. Da sehe ich durch die Pandemie und eine | |
mögliche andauernde Kriegskrise schon ein Risiko, besonders für Menschen | |
mit einer Prädisposition für stressassoziierte Erkrankungen – wie | |
Angsterkrankungen, Depressionen und Traumafolgestörungen. | |
Wie, würden Sie sagen, könnte man dem begegnen? | |
Nicht jeder braucht gleich eine psychotherapeutische oder gar | |
psychiatrische Behandlung. Das Angebot von psychologischer Beratung bis hin | |
zur Seelsorge ist reichhaltig. Zwischen einem unscheinbaren gesunden | |
Zustand und einem bereits auffällig kranken gibt es viele Facetten, was | |
wiederum nach einer Vielfalt von Möglichkeiten verlangt. Ich denke, da | |
können wir uns als Gesellschaft auch noch einiges einfallen lassen, wie man | |
auch Menschen unterstützen kann, die nicht gleich in eine Klinik oder zum | |
Psychiater müssen. Menschen, denen es trotzdem einfach nicht gut geht mit | |
der Situation, wie wir sie momentan haben. | |
9 Mar 2022 | |
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## AUTOREN | |
Sophia Zessnik | |
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