# taz.de -- Traumaforscherin über Flüchtlinge: „Das Trauma ist universal“ | |
> Warum tun sich viele Deutsche so schwer damit, Flüchtlinge freundlich zu | |
> empfangen? Das liegt auch an unserer eigenen Geschichte, sagt Sabine | |
> Bode. | |
Bild: Die Menschen, die heute auf der Flucht sind (hier an der deutsch-österre… | |
taz: Frau Bode, warum tun sich viele Deutsche so schwer, Flüchtlinge mit | |
offenen Armen zu empfangen? | |
Sabine Bode: Das hat mit unserer eigenen Geschichte zu tun. Mit den | |
Erfahrungen deutscher Familien im Zweiten Weltkrieg und einem Phänomen, das | |
man schuldhafte Verstrickung nennt. Alle Zeiten von Gewalt bringen es mit | |
sich, dass sich die Menschen mehr als in normalen Zeiten schuldig machen. | |
Inwiefern? | |
Nehmen wir das aktuelle Beispiel Syrien: Da hat sich vielleicht jemand auf | |
Kosten seines Bruders durchgesetzt, um auf die Flucht zu gehen. Oder | |
vielleicht hat man jemanden bestohlen, um sich die Flucht leisten zu | |
können. Oder man war in Kriegshandlungen oder Kriegsverbrechen verwickelt. | |
Wenn man sich dieser Schuld nicht stellt, führt das oft dazu, dass man die | |
ganze Zeit, in der das alles geschehen ist, abwehrt und nicht daran | |
erinnert werden will. | |
Was hat das mit den Deutschen zu tun? | |
Genau das war bei vielen Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg der Fall. | |
Auch damals wurden viele Millionen Menschen vertrieben. Vielleicht hat man | |
in der Familie ausführlich über Flucht und Vertreibung gesprochen, aber | |
nicht darüber, was der Opa in Russland getan hat oder wovon er Zeuge war. | |
Ich glaube, dass gerade ältere Menschen in Deutschland die Flüchtlinge | |
deshalb nicht mit offenen Armen willkommen heißen, weil sie nicht wollen, | |
dass die Themen Krieg und Flucht noch einmal in ihrem Leben auftauchen. | |
Gucken Sie sich doch mal die Pegida-Bewegung an. | |
Sie sagen, Pegidisten seien die Spätfolgen nicht aufgearbeiteter | |
Kriegstraumata? | |
Ich denke, schon. Diese Menschen wollen keine Veränderung. Und was gerade | |
in Deutschland läuft, treibt sie fast in den Wahnsinn. Das ist ein tolles | |
Beispiel für vagabundierende Ängste, also unbestimmte Ängste, die man nicht | |
zuordnen kann. Da greift man sich dann irgendetwas heraus. Bei Pegida sind | |
es die Islamisten, die in deren Rhetorik zu Millionen durch Sachsen | |
stiefeln. Soweit ich weiß, ist der Anteil an ehemaligen Heimatvertriebenen | |
im Zweiten Weltkrieg in Dresden und Umgebung sehr hoch. | |
Sind die Deutschen eine traumatisierte Nation? | |
In Teilen. Man geht davon aus, dass etwa ein Drittel der Menschen, die im | |
Zweiten Weltkrieg Kinder waren, Traumata, die sie damals erlitten haben, | |
nie verarbeitet haben. Die Folgen dieser Traumata setzten sich in den | |
Folgegenerationen fort. Wie stark vagabundierende Ängste noch heute in der | |
deutschen Bevölkerung wirksam sind, zeigt sich auch darin, mit wie viel | |
Besonnenheit oder wie viel Panik und Ressentiments heute über die Pariser | |
Attentäter und aktuelle Terrorismusdrohungen umgegangen wird. Mein Eindruck | |
ist, dass in den sozialen Netzwerken zurzeit Angst, Angst, Angst dominiert, | |
während die Medien doch weitgehend gelassen reagieren. | |
Wie machen sich die Traumata bemerkbar? | |
Für die Kriegskinder, also diejenigen, die zwischen 1930 und 1945 geboren | |
wurden, kann das lebenslange Folgen haben. Ich pauschalisiere jetzt | |
bewusst. Aber die drei wichtigsten Auswirkungen sind ein sehr starkes | |
materielles Sicherheitsbedürfnis der Kriegskindergeneration, also der | |
heutigen Rentnergeneration. Zweitens ein stark ausgeprägtes | |
Schwarzweißdenken. Und drittens eine doch beachtliche Stressanfälligkeit. | |
Am schwersten auszuhalten ist es für diese Generation, wenn sich die | |
Lebensumstände ändern. Zum Beispiel durch Krankheit oder den Tod des | |
Lebenspartners oder durch plötzliche Verarmung. Aber zum Beispiel auch | |
durch die Wende in der DDR. Der Halt, der für diese Menschen so | |
existenziell wichtig ist, geht verloren. Die Menschen in Dresden sind unter | |
Umständen also zweimal belastet: erst durch nicht verarbeitete Traumata, | |
dann durch die Wende. Und nun arbeiten sie sich an den vermeintlichen | |
Islamisten ab. | |
Sie sprechen davon, dass nicht verarbeitete Traumata innerhalb der Familie | |
weitergegeben werden. Wie funktioniert das? | |
Das ist reine Biologie. Babys nehmen alles, was um sie herum geschieht, auf | |
wie ein Schwamm. Sie spüren, wenn die Mutter nicht stabil ist. Gleichzeitig | |
rührt ein Säugling das Hilfloseste in einem selbst an, einfach weil er | |
selbst so hilflos ist. Eine Mutter, die sich nicht von ihrem | |
Kindheitstrauma erholt hat, hält diese Hilflosigkeit nicht aus und geht | |
emotional auf Distanz. Das ist für ein Baby eine ganz furchtbare Erfahrung. | |
Sie löst Todesängste aus. Das Kind lernt sehr früh, dass es, um versorgt zu | |
sein, dafür sorgen muss, dass die Mutter glücklich und stabil ist. | |
In der Psychologie spricht man von Parentifizierung. Die Kinder fühlen sich | |
zuständig für das Wohl der Eltern und nicht umgekehrt. Das kann ein Leben | |
lang anhalten. So kommt es, dass heute viele Kriegsenkel, also Menschen, | |
die in den 50er, 60er und 70er Jahren geboren sind, in der Mitte des Lebens | |
sich noch sehr stark von den Eltern bestimmen lassen. | |
Wodurch werden Traumata eigentlich ausgelöst? | |
In Kriegssituationen ist das oft der Verlust der vertrauten Umgebung. Oder | |
die Strapazen der Flucht, also Hunger und Kälte, aber auch verstörte | |
Erwachsene. Viele Kriegskinder haben im Krieg erlebt, dass die Mütter oder | |
die Großmütter vergewaltigt wurden. Auch Vergewaltigungen von Kindern gab | |
es. | |
Warum ist der Verlust der Umgebung so schlimm? Kann das nicht auch etwas | |
Hoffnungsvolles sein? | |
Das kommt auf das Alter an. Mit 20 kann es spannend sein, die vertraute | |
Umgebung zu verlassen. Aber wer nicht grundsätzlich in Aufbruchsstimmung | |
ist, verliert das, was sein Leben stabil macht. | |
Was Sie beschreiben, machen gerade viele Flüchtlinge durch, die zu uns | |
kommen. Sind Ihre Analysen übertragbar? | |
Ja natürlich. Trauma ist Trauma. Das ist universal. Die Folgen sind überall | |
dieselben. Meine Bücher wurden deshalb auch ins Chinesische und ins | |
Kroatische übersetzt. In Kroatien geht es um die Folgen die Balkankriege. | |
Und in China beginnt man langsam die Kulturrevolution aufzuarbeiten. | |
Werden die Flüchtlinge aus Syrien und anderen Ländern ihre Erfahrungen von | |
Krieg und Flucht auch verdrängen? | |
Das kommt darauf an. Vor 70 Jahren gab es noch kein Wissen über Trauma und | |
wie man damit umgeht. Zwar gab es Menschen, die sich intuitiv richtig | |
verhalten haben und verstanden haben, traumatisierte Menschen zu beruhigen. | |
Aber es gab kein Behandlungswissen. Das ist heute anders. Daher rührt auch | |
der Gedanke, Flüchtlingskinder sofort in die Schule zu schicken. | |
Was muss man tun? | |
Die Kinder müssen eine Chance bekommen, das Erlebte auszudrücken, und sie | |
müssen dabei verstehen, dass der Krieg vorbei ist. Das kann durchs Malen | |
geschehen oder durch einen Schulaufsatz. So kommt man an die | |
Verlusterfahrungen heran. Und so können Kinder das betrauern, was ihnen | |
wichtig war und was sie verloren haben. Syrische Kinder hatten ja auch | |
Freunde in ihrer Heimat oder vielleicht ein tolles Rennrad, und Oma und Opa | |
sind vielleicht noch da. Das verlangt nur, dass man in der Lage ist, sich | |
einzufühlen in das, was Menschen guttun könnte, die geflüchtet sind. | |
Es gibt ja nicht nur Pegida. Vielen Menschen in Deutschland gelingt es sehr | |
gut, den Flüchtlingen mit Hilfsbereitschaft zu begegnen. Wie passt das ins | |
Bild? | |
Da hat sich tatsächlich kulturell etwas verändert. Ich kann mich noch gut | |
erinnern, wie das vor zwanzig Jahren mit den Balkanflüchtlingen war. Da gab | |
es keine so starke Bürgerbewegung. Die Hilfe ging damals vor allem von | |
Institutionen, Kirchen und deren Mitarbeitern und Ehrenamtlichen aus. Und | |
sie war in erster Linie von einem Gefühl der moralischen Verpflichtung | |
bestimmt. Heute handeln die Menschen mit Empathie. | |
Was ist anders? | |
Mitgefühl für andere setzt voraus, dass man sich selbst (gegenüber) mit | |
Mitgefühl begegnet. Das geht nicht umgekehrt. Wenn man sich selbst | |
gegenüber hart ist, denkt man eher: Ich hab es durchgestanden. Sollen die | |
anderen sich mal nicht so anstellen. In dem Maße aber, in dem die | |
Kriegsenkel ihre Geschichte aufarbeiten und das Gespräch in den Familien | |
ankurbeln, in diesem Maße befreien sich Menschen von unerklärlichen | |
Ängsten, in diesem Maße wächst auch die Empathiefähigkeit. | |
Eine kulturelle Veränderung muss ja nicht von der Mehrheit ausgelöst | |
werden. Da genügt eine Minderheit von 10 bis 15 Prozent. Das haben wir bei | |
der Umweltbewegung gesehen. Klar ist auch: Die Empathie für Fremde setzt | |
voraus, dass man selbst ein gutes und unbedrohtes Leben führt. | |
25 Nov 2015 | |
## AUTOREN | |
Marlene Halser | |
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