# taz.de -- Weniger Hilfe trotz mehr Bedarf: Das Trauma der Flucht | |
> Der Bedarf an therapeutischer Versorgung für traumatisierte Flüchtlinge | |
> steigt, die Betroffenen fahren oft weite Strecken für eine Behandlung. | |
> Trotzdem werden in Schleswig-Holstein Angebote reduziert. | |
Bild: Die Menschen, die heute auf der Flucht sind (hier an der deutsch-österre… | |
KIEL taz | Die Nacht unter der Brücke kann Karim nicht vergessen – jene | |
Nacht, als er im kalten Wasser kauerte, während über seinem Kopf die | |
Grenzposten zweier Staaten auf die Flüchtlinge schossen. In jener Nacht | |
wurde Karim, der anders heißt, von seiner Familie getrennt, er hat seine | |
Eltern seither nicht wieder gesehen. | |
Es fällt ihm schwer, davon zu berichten, obwohl er zum Reden in das Büro | |
von Hajo Engbers nach Kiel gekommen ist. Für die Stunde im Büro des | |
Psychologen nimmt der 22-Jährige lange Wege aus einer anderen Stadt auf | |
sich – im Flächenland Schleswig-Holstein fehlt es an Hilfen für | |
traumatisierte Flüchtlinge. | |
Obwohl die Zahl der Betroffenen ständig steigt, werden die Angebote | |
reduziert. So lief ein vom Europäischen Flüchtlingsfonds gefördertes | |
Projekt zur Versorgung von Trauma-Patienten im Spätherbst 2014 aus. Zwar | |
geht die Arbeit weiter, aber nur mit einer „Basisversion“, sagt Krystyna | |
Michalski vom Paritätischen Schleswig-Holstein: „Wir können garantieren, | |
dass wir die Menschen versorgen, die auf der Warteliste stehen.“ Fachleute | |
gehen allerdings davon aus, dass 40 Prozent der Flüchtlinge aus Krisen- und | |
Kriegsgebieten Hilfe bräuchten – das sind einige Tausend Menschen anstelle | |
der 190, die bisher pro Jahr in den Spezialberatungsstellen behandelt | |
wurden. | |
Bisher boten der Wohlfahrtsverband und das Zentrum für Integrative | |
Psychiatrie (ZIP), das zum Universitätsklinikum Schleswig-Holstein gehört, | |
jeweils eine Anlaufstelle für Flüchtlinge an. Dafür standen rund 200.000 | |
Euro zur Verfügung. Nach dem Auslaufen der EU-Mittel verhandelte der | |
Verband mit der Politik, die das Thema fraktionsübergreifend wichtig fand. | |
Die CDU forderte 180.000 Euro, die Regierungsfraktionen SPD, Grüne und SSW | |
stellten angesichts leerer Landeskassen 100.000 Euro pro Jahr in Aussicht. | |
Damit kann der Wohlfahrtsverband weiterarbeiten, hofft aber auf Spenden, um | |
die Arbeit noch ausbauen zu können. Das ZIP stellt die Sonder-Sprechstunde | |
ein, Flüchtlinge erhalten künftig Termine während der regulären | |
Öffnungszeiten. Doch viele Kliniken oder niedergelassene Praxen tun sich | |
mit den Flüchtlingen als Patienten schwer – in Schleswig-Holstein lief | |
sogar ein Projekt zur „interkulturellen Öffnung“, um das Gesundheitssystem | |
zugänglicher für Zuwanderer zu machen. Wirklich erfolgreich war es nicht. | |
Die erste Hürde zwischen Arzt und Flüchtlingen ist die Kostenfrage: Es | |
dauert, bis geklärt wird, ob das Flüchtlings-Amt die Behandlung zahlt. Aber | |
auch die Behandlung selbst sei aufwändig, sagt Natalya Barishnikova: „Wenn | |
eine Familie kommt, möchte jeder etwas über seine Erlebnisse berichten. Und | |
draußen im Wartezimmer werden die anderen Patienten ungeduldig.“ | |
Die Allgemeinärztin arbeitet in der Kieler Hausarzt-Praxis von Karl-Herbert | |
Gruber. Flüchtlinge betreut sie ehrenamtlich über das Medibüro, das | |
Menschen ohne Krankenschein hilft. Daher spielt die Kostenerstattung für | |
sie keine Rolle, und sie hat einen weiteren Vorteil: „Ich spreche | |
Russisch“, sagt die Medizinerin, die aus Usbekistan stammt. | |
Damit umgeht sie die dritte Hürde, die Sprachbarriere, die oft „Therapie zu | |
dritt“, also mit Dolmetscher, erforderlich macht. Engbers nennt einen | |
Vorteil: Einer Dolmetscherin wagten Patientinnen eher, von sexuellen | |
Übergriffen zu erzählen. Aber er weiß auch, dass eine intensive | |
Psychotherapie schwierig ist. Vor allem die Unsicherheit, ob die | |
Flüchtlinge bleiben dürfen, mindert den Erfolg der Behandlung. | |
Dennoch sei es wichtig, mehr Ärzte zu finden, die sich um Flüchtlinge | |
kümmern, sagt Engbers. „Es geht vor allem darum, sie zu stabilisieren“, | |
sagt er. So erinnert er auch den jungen Afghanen Karim an seine Erfolge: | |
Schulabschluss, die bevorstehende Ausbildung als Pfleger, eine eigene | |
Wohnung, den telefonischen Kontakt zu seiner Familie. | |
Karim weiß, dass er in Deutschland bleiben will: „Ich will lernen und | |
arbeiten.“ Davon hat er in den Jahren der Flucht geträumt. | |
31 Dec 2014 | |
## AUTOREN | |
Esther Geisslinger | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Flucht | |
Mittelmeer | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Traumaforscherin über Flüchtlinge: „Das Trauma ist universal“ | |
Warum tun sich viele Deutsche so schwer damit, Flüchtlinge freundlich zu | |
empfangen? Das liegt auch an unserer eigenen Geschichte, sagt Sabine Bode. | |
Flüchtlingsschiffe auf dem Mittelmeer: Ein äußerst lukratives Geschäft | |
Erneut wird ein Schiff mit Flüchtlingen auf hoher See von Schleusern | |
zurückgelassen. Ihnen bringt das vier bis fünf Millionen Euro. |