# taz.de -- Zweiter Jahrestag des Terrors in Hanau: Neun Tote, tausend offene F… | |
> Zwei Jahre nach dem Attentat von Hanau ringen die Angehörigen der Opfer | |
> mit ihrer Trauer – und mit ihrer Enttäuschung über Politik und Polizei. | |
> Drei Protokolle der Wut und Verzweiflung. | |
Bild: #SayTheirNames: Fatih Saraçoğlu, Vili Viorel Păun, Kaloyan Velko, Ferh… | |
## Emiş Gürbüz, 52, Mutter von Sedat Gürbüz | |
Heute ist der 667. Tag ohne Sedat. Ihr zählt die Monate, aber ich die Tage. | |
Mein Kind Sedat ist in Langen geboren und in Dietzenbach aufgewachsen. | |
Sedat kann man nicht erzählen oder erklären. Man muss ihn erlebt haben. Er | |
hat viel Gutes getan, aber nie darüber geredet. | |
Sedat hatte Träume gehabt, Pläne gehabt. Er wollte heiraten, eine Familie | |
gründen, Kinder bekommen. Sedat hat Kinder sehr geliebt. Der Mörder hat das | |
nicht zugelassen. In Sedats Leben gab es seine Mama, seine Freundin und | |
seine Oma. Sedat ist mein erstgeborenes Kind. Er war ein intelligentes | |
Kind. Er wusste, was ich denke, bevor ich es gesagt habe. | |
Ich gehe jeden Tag zum Friedhof. Ich rede mit Sedat: Wach auf! Ich vermisse | |
dich – dein Gesicht, dein Lachen, deinen Schatten, deine Stimme, alles. | |
Wach doch nur kurz auf und komm zu mir! Heute scheint die Sonne. Heute | |
schneit es, Sedat. Du liebst den Schnee. Wo bist du, Sedat? Der Friedhof | |
ist unsere Wohnung geworden. | |
Sedat war ein Sonnenschein, unsere Lebensfreude. Wenn der Mörder Sedat | |
gekannt hätte, hätte er den Sedat niemals ermorden können. Mittwoch, 19. | |
Februar 2020. Ich hasse dieses Datum. | |
Der Mörder hat nicht nur mein Kind kaltblütig ermordet. Er hat auch uns | |
ermordet. Mein Mann kann nicht mehr arbeiten. Nach 31 Jahren in der | |
gleichen Arbeitsstelle war er zum ersten Mal in seinem Leben so lange | |
krankgeschrieben. Früher waren die Krankmeldungen gelbe Zettel. Mein Mann | |
wusste nicht, dass diese Zettel jetzt rosa sind. Jetzt kann er nicht mehr | |
arbeiten. Er kann sich nicht konzentrieren. | |
Am Montag haben wir den Sedat, die Leiche, dann nach so vielen Tagen | |
gesehen. Sein Gesicht war sehr schön, mit roten Backen. Es war nur kurz, | |
weil er lange in der Rechtsmedizin war. Wir wurden nicht wie trauernde | |
Eltern behandelt. Es ist furchtbar schmerzhaft, dass wir nicht die Chance | |
hatten, uns von ihm zu verabschieden. | |
Dass er gefühllos obduziert wurde, habe ich erst viel, viel später | |
erfahren. Als ich das gehört habe, konnte ich es nicht glauben. Ich wurde | |
bewusstlos. Die ganze Welt wusste, wie diese Kinder ermordet wurden. Sedat | |
hat einen Kopfschuss bekommen. Sie haben unsere ermordeten Kinder obduziert | |
– zerschnitten. Warum? Niemand hat uns um Erlaubnis gefragt. Mein Kind | |
sollte nicht zerschnitten werden. | |
Psychologische Unterstützung habe ich vom Türkischen Konsulat angeboten | |
bekommen. Sie haben einen Termin gemacht. Ich frage mich, ob ich in der | |
Türkei oder in Deutschland bin. Denn vom deutschen Staat wurde das nicht | |
für mich gemacht. Der deutsche Opferbeauftragte und diese Politiker, die | |
kamen später. | |
Wichtig war mir, dass mein Kind nicht vergessen wird. Ich musste lange, | |
lange für ein Andenken an mein Kind kämpfen. Die Stadt Hanau hat mir nicht | |
geholfen. Sie haben Gedenktafeln an den Tatorten angebracht und auf dem | |
Friedhof bei den Gräbern für die drei in Hanau Beigesetzten. Aber das | |
Denkmal wollen sie nicht auf dem Marktplatz, obwohl der Bürgermeister uns | |
versprochen hat, dass wir, die Familien, das entscheiden. Mit der Stadt | |
Dietzenbach musste ich lange um ein Ehrengrab für mein Kind und eine | |
Gedenkstele kämpfen. Viele Dietzenbacher haben mich unterstützt. Es musste | |
erst ein Bürgermeister abgewählt werden, damit wir es endlich bekommen | |
konnten. | |
Die hessische Landesregierung hat unseren Schmerz eher größer gemacht. Sie | |
hätten so vieles machen können, vor allem unsere Fragen beantworten. Ich | |
habe viele Fragen. Warum ist das passiert? Weshalb sind diese Kinder | |
ermordet worden? Das war ein sinnloser Mord. Wegen was? Weil wir Ausländer | |
sind. | |
Der Mörder unserer Kinder hat seine Todesdrohungen öffentlich im Internet | |
ausgestoßen. Dort kursieren sehr viele böse Drohungen. Aber der Mörder | |
hatte einen Waffenschein und durfte in aller Ruhe im Schützenverein für | |
seine grässliche Tat üben. Ja, man hat noch nicht einmal nachgeforscht, als | |
er seinen Waffenschein verlängern wollte. Er hatte vorher öffentlich im | |
Internet Hasstiraden und Todesdrohungen gegenüber Menschen ausgestoßen, die | |
er pauschal Ausländer genannt hat. | |
Die Polizei, die Staatsanwaltschaft, die Waffenbehörde: Es haben so viele | |
Fehler gemacht. Wieso hat keiner den Mörder gestoppt? Es übernimmt keiner | |
Verantwortung. Jetzt sagt die Waffenbehörde: Aus Fehlern lernt man. Ich | |
glaube nicht daran. Schaffen Sie endlich eine Stelle, wo solche Fälle | |
zuverlässig geprüft werden. | |
Wann wollt ihr endlich lernen? Ihr habt schon so lange gewartet, bis mein | |
Kind ermordet wurde. | |
Diese Nacht ist aufgrund eurer Nachlässigkeit geschehen. Wenn ihr | |
Verantwortung übernommen hättet, wäre mein Kind noch am Leben. Seit den | |
Achtziger-/Neunzigerjahren sind so viele rassistische Morde in Deutschland | |
passiert. Ich bin sicher: Die Morde in Hanau wären nicht geschehen, wenn | |
daraus gelernt worden wäre. Wir brauchen einfach ein Ende der rassistischen | |
Gewalt. | |
## Saida Hashemi, 26, Schwester von Said Nesar Hashemi | |
Ich bin 1995 in Hanau als ältestes Kind auf die Welt gekommen. Nach mir | |
folgen vier Brüder. Mein Bruder Said Nesar Hashemi ist im Jahre 1998 auf | |
die Welt gekommen. Er ist das jüngste Opfer der schrecklichen Tat, er wurde | |
nur 21 Jahre alt. Heute wäre er 23 Jahre alt. | |
Nesar hat in Hanau seinen Realschlussabschluss gemacht, danach eine | |
Ausbildung zum Maschinen- und Anlagenführer. Er wollte Ausbilder werden. Er | |
war ein sehr ruhiger und bescheidener Mensch, hat immer viel gelacht. Er | |
hatte immer ein offenes Ohr für alle. Diese Person fehlt heute. | |
Am 19. Februar 2020 kamen meine Brüder Nesar und Etris nach einem langen | |
Tag nach Hause. Sie haben gegessen und wollten für eine Stunde raus und mit | |
Freunden plaudern und den Abend ausklingen lassen. Draußen war es sehr | |
kalt, weshalb sie sich entschieden, in die Arena Bar zu gehen. | |
Ich war an dem Tag arbeiten und war müde. Gegen 22 Uhr wurde ich von meiner | |
Mutter geweckt. Sie war total panisch und meinte zu mir: Draußen wurde | |
geschossen, und deine Brüder sind nicht zu Hause. Dann ist sie aus der | |
Wohnung gerannt. Wir wohnen keine hundert Meter vom Tatort entfernt. Ich | |
bin ihr hinterhergelaufen. | |
Aus der Ferne konnte ich schon erkennen, dass etwas nicht stimmt – überall | |
Blaulicht. Als ich dem Kurt-Schumacher-Platz näherkam, war die Polizei | |
gerade dabei, den Platz abzusperren. Ich habe meine Mutter gesehen, und in | |
diesem Moment ist sie umgekippt. Denn auf dem Lidl-Parkplatz stand ein | |
silbernes Auto. In diesem Auto war die Leiche von Vili Viorel Păun. | |
Wir haben einen jungen Polizisten gefragt, wo meine Brüder sind. Als ich | |
den Namen von Etris erwähnt habe, hat er gesagt: Er hätte mit ihm | |
gesprochen, mein Bruder wurde angeschossen. Er meinte nur, er wurde in ein | |
Krankenhaus gefahren. In welches, konnte er nicht sagen. Als ich ihn nach | |
Nesar gefragt habe, konnte er mir keine Antwort geben. In dem Moment ist | |
meine Mutter wieder umgekippt. | |
Gegen Mitternacht wurde uns gesagt, dass wir zu der Polizeistation nach | |
Lamboy fahren sollen. Ich habe meine Mutter mit einer Freundin nach Hause | |
geschickt. In Lamboy wurde ich in die Polizeisporthalle gebracht. Es gab | |
Kaffee, Schokolade und Kekse. In dem Moment konnte ich nichts essen und | |
trinken. Ich war alleine, ich kannte niemanden in diesem Raum. | |
Im Laufe der Nacht habe ich eine Nachricht von meiner Mutter bekommen, in | |
der sie erzählt hat, dass sie Etris gefunden haben. Er liegt im Klinikum | |
Hanau. Er lag bewusstlos, an ganz viele Schläuche angeschlossen, in einem | |
Bett. Im CT hat sich schon gezeigt, dass er eine Kugel im Hals stecken hat. | |
Von Nesar haben wir nichts gehört. | |
Dann kam auch mein Vater von einem Rehaaufenthalt bei Kassel mit dem Taxi. | |
Er war erst bei meiner Mutter und Etris im Krankenhaus, dann kam er zu mir. | |
Er ist zu einem Polizisten hin und hat ihn nach meinen Geschwistern | |
gefragt. Der Polizist meinte, dass beide noch als vermisst gemeldet sind. | |
Meine Eltern wussten, wo Etris liegt, und die Polizei wusste es nicht! | |
Online kamen da schon die ersten Artikel raus. Es wurde von Toten | |
berichtet, während uns in der Halle nichts gesagt wurde. Zwischen 6 und 7 | |
Uhr morgens war es dann so weit. Die Namen wurden verlesen. Nach jedem | |
Namen haben immer mehr Menschen in der Halle angefangen aufzuschreien, | |
haben geweint, sind umgekippt. Uns wurde gesagt, dass wir um 8 Uhr eine | |
Nummer anrufen sollen, die an die Wand gehängt wurde. Wir haben uns | |
alleingelassen gefühlt. Unsere einzige Anlaufstelle war diese mysteriöse | |
Nummer an der Wand. | |
Ich habe mir immer wieder die Fragen gestellt: Wo ist die Leiche meines | |
kleinen Bruders? Liegt die Leiche noch auf dem Boden der Arena Bar? Ich | |
habe mir gar keine Gedanken darum gemacht, wer der Täter sein könnte, war | |
voller Sorge um Etris. Wird er überleben? Wird er Folgeschäden davontragen? | |
Hat er gesehen, wie sein kleiner Bruder ermordet wurde? | |
Ich habe die Leiche meines Bruders erst eine ganze Woche später am | |
Donnerstag auf dem Hauptfriedhof in Hanau gesehen. An dem Tag hat es | |
geschneit. Nachdem mein Bruder beerdigt wurde, war es uns wichtig, seine | |
persönlichen Gegenstände wiederzubekommen. Nesars Handy haben wir erst mal | |
nicht zurückerhalten. Uns wurde gesagt, dass es noch ausgewertet werden | |
muss. Für was sollte das Handy eines Mordopfers ausgewertet werden? Als wir | |
das Handy, nach mehreren Nachfragen von uns, endlich bekamen, war der erste | |
Schock vorprogrammiert. Das Handy wurde zurückgesetzt. Es waren keine Daten | |
mehr drauf. Was ist mit dem Handy passiert? Das wissen wir bis heute nicht. | |
Aufklären hat für mich einen sehr hohen Stellenwert. Genau das wünsche ich | |
mir: Aufklärung darüber, was passiert ist, Aufklärung darüber, warum einem | |
psychisch Kranken der Waffenschein nicht entzogen wurde, Aufklärung | |
darüber, wie es sein kann, dass so ein Mensch überhaupt Waffen besitzen | |
darf. Denn er und auch sein Vater waren den Behörden nicht unbekannt. | |
## Niculescu Păun, 46, Vater von Vili Viorel Păun | |
Wir sind eine Familie, die aus Rumänien kommt. Wir kamen 2016 hierher. 2017 | |
sind wir in Hanau eingezogen, hundert Meter von der Stelle des ersten | |
Anschlags. Mein Sohn war ein Mustersohn, ein fantastisches Kind. Am 19. | |
Februar 2020 sind wir früh schlafen gegangen, weil wir am nächsten Tag zur | |
Arbeit gemusst hätten. Als ich um 6 Uhr aufstand, bemerkte ich, dass Vilis | |
Bett leer war. Ich hatte gar keine Vorahnung, nur dass er noch nie so was | |
gemacht hatte. Ich rief meinen Sohn immer wieder an, sprach mit Vilis | |
Freundin. Sie wusste auch nichts. | |
Wir suchten, und um 12 Uhr gingen wir zur Polizei, das war schon 14 Stunden | |
nach dem Anschlag. Dort wurden wir zu einer zweiten Polizeidienststelle | |
geschickt. Ein Beamter reichte uns zwei Gläser Wasser und teilte uns mit, | |
unser Sohn sei am Kurt-Schumacher-Platz erschossen worden. Wir waren | |
schockiert. Wir sind zu Boden gegangen. 30 bis 40 Minuten nach der Tat | |
waren schon Bilder in den Medien zu sehen, von meinem toten Sohn im Auto. | |
Aber keiner wollte uns darüber informieren. | |
Während dieser ganzen Sache waren wir ganz allein, ohne psychologische | |
Unterstützung und ohne Information, was wir als Nächstes tun sollten. Wir | |
waren im Schockzustand. Nach dem 20. Februar 2020 sind wir nie mehr in | |
unsere Wohnung zurückgekehrt, die wir uns mit unserem Sohn geteilt hatten. | |
Drei Tage nach dem Anschlag kamen zwei Polizisten, um uns DNA-Proben | |
abzunehmen. Die waren ungefähr fünf bis zehn Minuten da. Und wieder keine | |
Information, keine Erklärungen. Später wurden uns die Kleidungsstücke | |
meines Sohnes zurückgegeben. Es waren die Kleidungsstücke von jemand | |
anderem, eines anderen Opfers. | |
Bezüglich der Obduktion wurden wir nicht gefragt. Wir konnten unseren toten | |
Sohn nicht mehr sehen. Im November 2020 kam die Akte zu meiner Anwältin, | |
mit dem Obduktionsbericht. Dort stand, dass ich tot sei. Da stand, man | |
hätte an mir die Obduktion vorgenommen. Hat diese Person nicht gemerkt, | |
dass da auf dem Tisch ein junger Mann liegt? | |
Im Mai bekam meine Anwältin dann Vilis Handy zurück. Wir entsperrten es. | |
Dann ploppte es auf. Dreimal hatte er 110 angerufen. Ohne Erfolg. Einen Tag | |
später zeigte ich im Landtag zum ersten Mal der Presse das Handy mit den | |
drei Anrufversuchen. Im Juni stellte ich eine Strafanzeige wegen Totschlags | |
gegen Angehörige der Hanauer Polizei. Die Ermittlungen wurden abgelehnt. | |
Mein Sohn hatte das Auto des Täters verfolgt und versucht, es zu | |
blockieren. Er hat damit wahrscheinlich Menschenleben gerettet. Hätte mein | |
Sohn hier den Polizeinotruf auf der nicht besetzten zweiten Leitung | |
erreicht, wäre er mit Sicherheit vor der Verfolgung des Täters gewarnt oder | |
sogar zum Abbruch gemahnt worden. Er hätte damit sein eigenes Leben retten | |
können. Ab dem ersten Anrufversuch von Vili dauerte es zweieinhalb Minuten, | |
bis der Täter den zweiten Tatort betrat. | |
Dass die technische Ausrüstung und die personelle Ausstattung des Hanauer | |
Polizeinotrufs seit vielen Jahren in der polizeiinternen Kritik standen, | |
war bereits in früheren Presseveröffentlichungen zur Sprache gekommen. | |
Warum hat der Einsatzleiter der Polizei Hanau dagegen nichts unternommen? | |
Warum hat der hessische Polizeipräsident nichts unternommen? Warum nicht | |
der Innenminister Peter Beuth? Bis heute übernimmt keiner die | |
Verantwortung. | |
Und was besonders bitter bleibt: Die Staatsanwaltschaft will keine | |
Ermittlungen aufnehmen. Weil ja nicht sicher sei, dass mein Sohn den | |
telefonischen Anweisungen der Polizei Folge geleistet hätte. Diese | |
Unterstellungen empfinde ich als skandalös. Mein Sohn hatte bis zur letzten | |
Minute an die Polizei geglaubt. | |
Wir fühlen einen tiefen Schmerz. Wir wollen nur die Wahrheit und | |
Gerechtigkeit. Wir sind nicht interessiert an Sündenböcken, so wie es uns | |
der Polizeichef von Südosthessen unterstellt. Ich habe, wie mein Sohn, dem | |
Staat vertraut. Im Namen der neun jungen Menschen: Wir wollen die Wahrheit | |
und Konsequenzen. | |
Die hier zitierten Aussagen von Angehörigen und Hinterbliebenen stammen aus | |
Protokollen des hessischen Untersuchungsausschusses zum Anschlag in Hanau. | |
Sie wurden redaktionell gekürzt von taz-Redakteur Konrad Litschko. | |
19 Feb 2022 | |
## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
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