| # taz.de -- Zwei Jahre nach Terroranschlag in Hanau: Was bleibt | |
| > In Hanau kämpfen Bekannte und Angehörige der Opfer gegen das Vergessen | |
| > und die eigene Angst. Der Schmerz sitzt tief. | |
| Hanau taz | Dieser Ort in Kesselstadt war einmal nur ein Parkplatz. Bis er | |
| zu einem Parkplatz wurde, an dem Menschen erschossen wurden. Heute hält er | |
| die Toten und Lebenden zusammen. Betritt man den Kurt-Schuhmacher-Platz und | |
| geht circa fünf große Schritte nach links, öffnen sich die automatischen | |
| Schiebetüren vom Lidl, piepende Kassenscanner und dunkel tönendes Surren | |
| der Kühlabteilung setzen an. Wenn man kehrtmacht, steht drei Schritte | |
| weiter ein marmornes Gedenkkreuz, mit Gravur auf der Sichtseite. Dieses | |
| Kreuz wurde errichtet im Namen von Jesus Christus für den Helden | |
| VILI-VIOREL PĂUN. | |
| Zwischen Blumen und Kerzen wurde ein kleines Weihrauchfass niedergelegt, | |
| ein aromatischer Geruch hängt in der Luft. Anwohner:innen laufen quer | |
| über den Parkplatz zu den allseitig umliegenden Hochhäusern. Ein Mann zieht | |
| an der Leine seines Hundes. Hinter ihm ein Kiosk, auf dem in blauer | |
| Schrift steht: ARENA BAR & CAFE. In diesem Kiosk und dem nebenan liegenden | |
| Raum und auf dem Parkplatz draußen erschoss ein rechtsextremer Schütze am | |
| 19. Februar 2020 sechs Menschen mit Migrationshintergrund. | |
| Kurz zuvor tötete er wenige Kilometer entfernt drei weitere. Insgesamt neun | |
| Menschen mit Einwanderungsgeschichte. Zwei Jahre sind seitdem vergangen, | |
| die Schüsse längst verhallt, die Spuren gesichert. Wenn der Name der Stadt | |
| Hanau fällt, folgen ihm seit zwei Jahren neun weitere. | |
| Gökhan Gültekin. Ferhat Unvar. Sedat Gürbüz. Said Nesar Hashemi. Mercedes | |
| Kierpacz. Hamza Kurtović. Vili Viorel Păun. Fatih Saraçoğlu. Kaloyan | |
| Velkov. | |
| Das Leben hier geht augenscheinlich weiter. Plattenbauten umstehen den | |
| Stadtteil Kesselstadt, grenzen von umliegenden Einfamilienhäusern ab. Wenig | |
| Grünfläche, keine Geschäfte weit und breit, höchstens Supermärkte, ein paar | |
| Kioske, einer davon ist der am Kurt-Schuhmacher-Platz und hat seit zwei | |
| Jahren geschlossen. „Ja, schau, da hinten direkt. Siehst du schon, wenn du | |
| rübergehst.“ | |
| ## Alle kennen die Ermordeten | |
| „Juz“ sagen alle in Kesselstadt und meinen das Jugendzentrum in der | |
| Nachbarschaft. In diesem haben sich drei der Opfer, [1][Ferhat], Hamza und | |
| Said, bis zu ihrem Tod regelmäßig, teilweise täglich aufgehalten. Aus dem | |
| Innenhof des Jugendzentrums kommen gedämpfte Stimmen, das Tor steht halb | |
| offen, das Gelächter wird lauter. Zwischen den bunten Restbasteleien und | |
| Informationspapieren am Fenster hängt ein Foto, das heraussticht. Darauf | |
| sind alle neun Opfer abgebildet, die durch den rassistischen Mord im | |
| Februar 2020 in Hanau ums Leben kamen. | |
| Vor den Eingangstüren stehen vier junge Männer und unterhalten sich, feixen | |
| herum. Sie stehen in weiten Abständen voneinander entfernt, bewegen sich | |
| hin und her, sind ruhelos und wechseln dauernd ihren Steh- und Sitzort, als | |
| würden sie jeden Moment aufbrechen wollen. Dabei rufen sie sich über den | |
| Platz hinweg Neckereien zu, die mit lauten Lachern quittiert werden. Zwei | |
| von ihnen sind an eine Wand gelehnt und alle vier tragen dicke Jacken, | |
| Sneaker und eine jugendliche Unbeschwertheit, die sich in verschmitzt | |
| grinsenden Gesichtern ausdrückt. | |
| Sie alle sind seit Kindheitstagen mit den Ermordeten Ferhat und Hamza | |
| befreundet gewesen. Auch Said Nesar war oft da, hier, wo die Opfer sich von | |
| leblosen Fotos lösen und Gestalt annehmen, Menschen mit einer Geschichte, | |
| vielen Eigenarten und unterschiedlichen Charakterzügen, keine fremden | |
| Toten. Spricht man auch in anderen Stadtteilen Hanaus irgendwen mit | |
| Migrationshintergrund an, dann sind die Ermordeten alte Schulfreund:innen, | |
| verbliebene Namen aus der Kindheit, langjährige Nachbar:innen. Ihr | |
| Schicksal und alles, was dahintersteht, überschneidet sich zwangsläufig mit | |
| ihren Leben. So auch bei Eray, Isa, Hüseyin und Sinan. | |
| Wie alle Jugendzentren verströmt auch das Juz, in dem die vier Freunde sehr | |
| oft sind, ein Gefühl von Schulschluss und Heimeligkeit. Ab dem frühen | |
| Nachmittag laufen junge Leute ein und aus, oft steht ein:e | |
| Sozialarbeiter:in vor der Tür, raucht eine, unterhält sich dabei mit | |
| den Jugendlichen draußen über Schulnoten und Corona. Dann gehen die | |
| Teenager zusammen rein, erzählen sich Dinge sehr schnell und laut. | |
| Aber im Juz sind auch Tod und Verlust präsent, daran erinnert ein Graffiti | |
| – FIGHT RACISM – und eine Plane an der roten Klinkerfassade des Gebäudes. | |
| Auf der steht: #SayTheirNames. Darunter die neun Gesichter der Ermordeten, | |
| auf Kunststoff gedruckt und in die Mittagssonne gespannt. | |
| ## „Die haben den ja als verrückt betitelt“ | |
| „Wir zeigen hier Präsenz. Wir gehen hier nicht weg“, sagt Eray, löst seine | |
| Arme aus der verschränkten Haltung, seine Hände steckt er in die | |
| Jackentaschen. „Wir lassen uns nicht verscheuchen von hier.“ Er hat viel zu | |
| sagen, seine Freunde geben ihm den Vorrang, hören nur zu, ergänzen und | |
| bekräftigen ab und zu, „ja Mann“. Sobald er von der Tat und seinen Folgen | |
| spricht, wird er ernst, die weichen Gesichtszüge verhärten sich. Das löst | |
| sich, wenn Ferhats und Hamzas Namen fallen. Dann runzelt er wieder die | |
| Stirn, weil er von den trauernden Familien spricht. Wenn er wiederholt, | |
| dass sie keine Angst haben, bleibt es still, keine Bejahungen der anderen. | |
| Na ja, setzt Isa plötzlich in die kurze Stille hinein an. Angst sei ja | |
| trotzdem da, sagt er. Er hat sich zwischenzeitlich auf eine Erhebung am | |
| Boden gehockt, auf seinem Gesicht ließ sich die ganze Zeit ein sich | |
| anbahnendes Lächeln erkennen, das weicht jetzt zum ersten Mal ganz. Er | |
| gestikuliert vor sich hin, während er nach dem passenden Wort sucht, nennt | |
| es dann „Komplexe“, also der zweite Blick auf ein anfahrendes Auto. Immer | |
| im Blick haben, wer da aussteigt. | |
| Wie erinnert man hier? Man will auch vergessen, antwortet Eray. „Natürlich | |
| wollen wir nicht, dass die Namen vergessen werden.“ Sie würden ja kämpfen, | |
| damit das eben nicht passiert. Und trotzdem: „Irgendwie will man’s auch | |
| vergessen, die Tat selbst jedenfalls, um mit dem Leben weitermachen zu | |
| können.“ | |
| Von ihren Freunden sprechen sie, als wären sie weg, aber nicht tot. Wenn | |
| Eray sagt, „das waren sehr gute Jungs“, dann klingt er wie jemand, der | |
| gerade Bilder im Kopf hat. Er lächelt, die anderen nicken. In der Clique, | |
| so wie sie hier steht und lacht und sich erinnert, ist das Trauern noch da, | |
| aber auch die Ausgelassenheit des alltäglichen Lebens hat sie eingeholt. | |
| Es wirkt wie ein Zwischenzustand, den sie sich nur gegenseitig begreiflich | |
| machen können. Abschließen geht nicht, sagen sie, „wir haben noch viele | |
| offene Fragen“. Wie es sein kann, [2][dass die Polizei angerufen wird und | |
| nicht rechtzeitig da ist], wollen sie wissen. Eray sagt: „Die haben den ja | |
| als verrückt betitelt“ und deutet auf die Hochhäuser hinter ihm, dort hat | |
| der Täter gewohnt und bis heute sein Vater. Dann, nach der Fragerei, sagt | |
| einer von ihnen: „Der deutsche Staat hat uns im Stich gelassen.“ | |
| Mehrere Jugendliche laufen derweil ins Juz rein. Im großen Innenraum, dem | |
| „offenen Treff“, läuft HipHop, einige stehen in der Mitte am Billardtisch, | |
| andere kickern nebenan, rufen sich den Punktestand zu und kurbeln hörbar | |
| kräftig. Auch viele Schülerinnen sind da, einige von ihnen sind zum | |
| Boxtraining für Mädchen gekommen. Aber bis dahin sind es noch zwei Stunden. | |
| Knapp vier Kilometer vom Juz entfernt, im angrenzenden Stadtteil Steinheim. | |
| Dort fahren die ersten Autos in einer zugeparkten Straße vor der | |
| rumänisch-orthodoxen Kirchengemeinde „Hl. Johannes der Täufer“ raus. Gera… | |
| endete die Liturgie, an denen vor allem die Hanauer:innen in der | |
| Umgebung teilnehmen. Im großen Gemeinderaum drinnen stehen einzelne | |
| Personen am Rand, essen aus Pappbechern: Colivă, ein rumänisches Gericht | |
| aus Roggen, dass zum Gedenken für Verstorbene zubereitet und in der | |
| Gemeinde verteilt wird, erklärt eine Frau. Klar sei das auch für Vili, sagt | |
| sie, sein Schicksal habe alle hier getroffen. | |
| Ektenie für die Entschlafenen. Bis dahin blättert ein Mann, der auf einer | |
| der Sitzbänke vor dem Gemeinderaum Platz genommen hat. Sein Zeigefinger | |
| streicht über ein paar Zeilen, die sich in seinem Gebetsheft befinden. Wir | |
| bitten Dich auch für die Seelenruhe der entschlafenen Knechte und Mägde | |
| Gottes [N] – „hier fiel auch oft Vilis Name“, sagt er. Für die Seelenruhe | |
| der entschlafenen Knechte und Mägde Gottes Vili Viorel Păun. | |
| Auf der Einschlagklappe des Heftchens klebt ein Foto von Iulia und | |
| Niculescu Păun, die Eltern von Vili Viorel. Beide stehen mit einem Lächeln | |
| in der Mitte des Raumes Pose, in dem soeben der heutige Gottesdienst | |
| stattfand. Die Mutter hält mit beiden Armen einen großen Strauß Blumen | |
| umklammert, der Vater trägt einen hellblauen Anzug, zwischen ihnen Pfarrer | |
| Rafael. Nach dem Tod ihres Sohnes ließ sich das bislang nur standesamtlich | |
| verheiratete Paar in dieser Gemeinde kirchlich trauen. | |
| Sonnenstrahlen durchfluten den Raum, Schattenspiele über Bilder von | |
| Heiligen der orthodoxen Kirche. Nach dem Gottesdienst hat Pfarrer Rafael | |
| Zeit. „Auch nach zwei Jahren haben die Leute aus meiner Gemeinde nicht | |
| vergessen. Nur langsam kehrt Normalität ein.“ Normalität, das heißt, dass | |
| man keine Angst mehr hat, bei Dunkelheit das Haus zu verlassen. Wie das im | |
| Jahr des Anschlags ausgesehen habe? Der Pfarrer schnaubt zur Antwort auf, | |
| seine Augen geweitet. Aber mittlerweile hätten die Leute keine Angst mehr. | |
| Die deutsche Behörden, sagt er, müssten auch die religiösen Gemeinden | |
| schützen. Viele seiner Gemeindemitglieder seien aus Rumänien, aber eben | |
| auch Hanauer:innen. „Ihre Sicherheit ist die Aufgabe der deutschen | |
| Behörden.“ Auf seinem Smartphone zeigt er mir ein Foto von Claus Kaminsky, | |
| dem Oberbürgermeister aus Hanau, wie er neben Rafael hier in der Gemeinde | |
| steht. Das war sechs Wochen nach dem Anschlag. „Viel Papperlapapp“ sei das | |
| gewesen. | |
| Sechs Minuten Autofahrt, einen Stadtteil weiter: Lamboy. Ein Mann mit einem | |
| runden Serviertablett voller bis zum Rand gefüllter Teegläser steigt die | |
| Treppen hoch, öffnet die Bürotür von Servet Uçar, dem Vorsitzenden des | |
| Vereins AYDD e. V, übersetzt Verein der Solidarität und Gemeinschaft Agirî. | |
| In Hanau leben viele Menschen aus Agirî, einer Stadt in der kurdischen | |
| Region der Türkei. So wie Gökhan Gültekin, der beim Anschlag vor zwei | |
| Jahren ermordet wurde. Nur einen Monat später erlag Behçet Gültekin seiner | |
| Krebserkrankung, ihn kennen hier alle. Sieben Tage über saß der trauernde | |
| Vater in den Vereinsräumen, nahm Beileidsbekundungen entgegen, erzählt | |
| Servet Uçar. | |
| „Onkel Behçet war langjähriges Vereinsmitglied. Aber vor allem ein sehr | |
| geschätzter Freund.“ Viele Politiker:innen seien hier zu Besuch | |
| gewesen, sagt er. Nebenher organisierte der Verein Demonstrationen und | |
| Kundgebungen mit. Diese Tat gelte nun zwar als vergangen und der Fall vor | |
| Gericht als abgeschlossen, aber ihr Verein mit rund 600 Mitgliedern würde | |
| sich auf dem Laufenden halten, Neuigkeiten zum Themenkomplex #Hanau sind in | |
| ihren Whatsapp-Gruppen abrufbereit. „Für uns ist das Thema nicht | |
| abgeschlossen. Für unseren Verein erst recht nicht.“ | |
| Es werde noch immer viel über den rechten Terroranschlag gesprochen, | |
| Versammlungen zum Umgang damit finden in regelmäßigen Abständen hier statt. | |
| „Wir sind in ständigem Kontakt mit den Angehörigen der Opfer. Und auch mit | |
| Politikern.“ Erst wenige Tage zuvor ist Heike Hofmann hier gewesen. Die | |
| SPD-Abgeordnete des hessischen Landtags besuche den Verein oft. „Das machen | |
| wir alles nur, um nicht zu vergessen“, sagt Uçar und sinkt in den Bürostuhl | |
| zurück: „Ja, die Zeit nach dem Anschlag ist immer noch eine schwere Zeit.“ | |
| In einem Nebenzimmer des Vereins sitzt eine Frau mit ihrer Tochter. Die | |
| Frau stellt sich als Nazik vor, sie kommt aus Kesselstadt. Nach dem | |
| Anschlag ist sie umgezogen. Zu groß war die Angst, zu präsent die | |
| Erinnerungen an die Tatnacht. „Ich war sehr gut mit der Mutter von Mercedes | |
| Kierpacz befreundet. Wir sahen uns ständig, waren Nachbarinnen.“ Eine sehr | |
| zuvorkommende Frohnatur, genauso wie ihre heute tote Tochter. Wie es ihr | |
| nach dem Anschlag ergeht? Eine lebende Tote, antwortet Nazik lapidar. Sie | |
| weint leise und sagt: „Die Schreie der Mutter. Es war schlimm.“ | |
| Und nach der Tat? „Meine Kinder konnten wochenlang nicht in die Schule. Sie | |
| sagten: Nein, da kommt wieder jemand mit einer Waffe.“ Sie haben Gökhan | |
| Gültekin gekannt, erzählt Nazik. Gökhan ist im Kiosk unter ihrer Wohnung | |
| ermordet worden, auch er war ein Nachbar. Nazik erzählt lächelnd, wie sehr | |
| ihre Kinder ihn geliebt haben: „Sie sind immer zu ihm ins Kiosk gegangen, | |
| haben sich Süßigkeiten gekauft, Kaugummis. Natürlich sind sie | |
| traumatisiert, sie denken ja bis heute daran.“ | |
| Sobald etwas zu Hanau im Radio oder Fernsehen läuft, schaltet Nazik aus. | |
| Ausschalten, vergessen, das gehe aber nie wieder. „Diese Nacht verschwindet | |
| nicht vor meinem inneren Auge. Ich hatte monatelang Angst, aus meinem | |
| Balkon nach unten zu schauen. Dort, wo ich Mercedes Mutter auf dem Boden | |
| knien sah.“ Auch Mercedes ist im Kiosk am Kurt-Schuhmacher-Platz erschossen | |
| worden. Als ihre Mutter von ihrem Tod erfuhr, fiel sie auf die Knie und | |
| schrie, vor dem abgesperrten Kiosk, in dem sich die Leiche ihrer Tochter | |
| noch befand, sagt Nazik. | |
| In der Klasse ihrer Kinder sei das damals wie heute kein Thema gewesen. Das | |
| macht sie wütend. Es sei unfassbar, dass die Lehrkräfte das Thema gar nicht | |
| besprochen haben. „Als wäre das normal, was passiert ist. Es ist passiert. | |
| Und das war’s jetzt. Oder wie?“ Ihr Blick wird starr vor Entsetzen, als | |
| hätte sie all das zum ersten Mal gedacht und gesagt. Sie schnalzt mit der | |
| Zunge, mehrmals, dabei deutet sie auf das Tuch, das sie über ihrem | |
| Hinterkopf zu einen festen Knoten gedreht hat: „Deswegen, oder was?“ Sie | |
| sagt: Die Menschen waren tot, die Polizisten hatten alles abgesperrt, | |
| unterhielten sich und sie lachten. Dann wiederholt sie: „Wir waren auch | |
| unten und weinten. Und die Polizisten unterhielten sich und lachten.“ Ihre | |
| Augen sind nass. „Sie lachten.“ | |
| Im Friseurgeschäft gleich um die Ecke herrscht reger Betrieb. Einige hier | |
| kennen sich aus dem Verein der Solidarität und Gemeinschaft Agirî. Alle | |
| Stühle sind besetzt, die Kunden warten. Der Inhaber Zekeriya bietet mir | |
| einen Platz neben sich an. Zu hören ist türkische Popmusik und das | |
| geschäftig tönende Vibrieren der Rasierapparate, die über den Köpfen der | |
| Kunden schweben. „Ich bin seit 1991 in Hanau. Mein Geschäft habe ich 2004 | |
| eröffnet.“ Oberbürgermeister Claus Kaminsky sei oft vorbeigekommen, auch | |
| ihn habe er frisiert und rasiert. „Kaminsky ist ein guter Mann. Aber die | |
| Feindlichkeit uns Ausländern gegenüber spüren wir ja trotzdem. Daran ändert | |
| sich nichts.“ Er sehnt sich nach einem Staat, der Sicherheit gibt. Seit | |
| Februar 2020 wird Zekeriya besonders unruhig, wenn die erwachsenen Kinder | |
| sich nicht melden, während sie abends noch unterwegs sind. „Wir schreiben | |
| ihnen dann: Wo bleibt ihr? Und wir denken an das Schlimmste.“ | |
| Auch einige der Opfer seien seine Kunden gewesen, etwa Gökhan Gültekin. | |
| „Ein sehr anständiger, junger Mann“, er wendet den Blick ab. „Er ist weg. | |
| Die Unschuldigen gehen eben“, sein Blick wandert zur gläsernen Eingangstür, | |
| er schweigt und sagt dann: „Jemand könnte jetzt hier reinkommen, uns alle | |
| abknallen. Dabei sitzen wir hier nur, arbeiten, gehen unserem Tagesgeschäft | |
| nach.“ Während er das sagt, fahren ein paar Autos Richtung Innenstadt | |
| vorbei. Eine Stille setzt ein, nur die Musik und die Rasur füllen den Raum. | |
| [3][Die Angst vergessen]. Laut Sozialarbeiter:innen des Juz macht | |
| auch das die wöchentlichen Trainingstage für die Jugendlichen so wichtig. | |
| Unten im sogenannten BoxGym quietschen schnelle Schritte auf dem | |
| Linoleumboden, in der Mitte ein Boxring. „Komm, komm, komm!“, die | |
| Sozialarbeiterin feuert die Mädchen an, eine von ihnen hält ihre | |
| Schutzmaske fest, schnappt nach Luft, „Kann ich kurz – 5 Sekunden?“ | |
| Nach dem zweistündigen Boxtraining essen sich die Mädchen im oberen | |
| Stockwerk des Juz an einer Pizza satt. In den Geruch von gerade verzehrtem | |
| Essen mischt sich das Muffige alter Polstermöbel, die künstliche | |
| Umgebungshelligkeit wirkt beruhigend. Draußen ist es schon dunkel, das | |
| Ambiente hier drinnen vor allem gemütlich. | |
| An der Theke im Raum sitzen drei der Sozialarbeiter:innen, laute | |
| HipHop-Musik übertönt das Lachen der Jugendlichen, die in einem anliegenden | |
| großen Raum auf abgenutzten Sesseln sitzen, auf den speckig glänzenden | |
| Fliesentischen stehen ein paar Trinkflaschen. Im Juz erinnert viel an die | |
| Ermordeten, ihre Namen auf Plakaten an der Wand, ihre eingerahmten | |
| Gesichter blicken den eintretenden Jugendlichen entgegen. Aber es ist | |
| besonders die hier gemeinsam verbrachte Zeit mit Ferhat oder Hamza, die den | |
| Anschlag nicht vergessen lässt. | |
| „Am Tag der Tat saß Ferhat in der Küche drüben und hat seinen Milchshake | |
| getrunken“, erzählt Esmanur Sarıkaya. Die Unmittelbarkeit, die reale Gefahr | |
| machen ihm und den anderen Angst. „Wir könnten jetzt hier rausgehen und es | |
| könnte auch uns treffen“, sagt Nouha Eljazouli. Für die beiden 15-jährigen | |
| Freundinnen ist das Juz wie ein zweites Zuhause. Hier fühlen sie sich wohl. | |
| Trotzdem scheint sie das Trauma auch bis in diese Räume zu begleiten. | |
| „Anfangs hatte ich Angst, das Haus zu verlassen. Ich hatte sogar Angst, auf | |
| den Balkon zu gehen. Das ging fast einen Monat so. Aber danach habe ich | |
| mich noch getraut, hierher zu kommen.“ | |
| Esmanur erzählt, dass die Gesichter auf der Plane draußen vor dem Juz ihr | |
| abends besonders Angst einjagen. „Es ist dunkel, ich sehe die Gesichter an | |
| der Wand, die ja eigentlich hier lebten. Das fühlt sich dann so an, als | |
| würden sie vor mir stehen.“ Sie lacht beschämt: „Das macht mir Angst. Und | |
| ich habe Angst, dass mir das auch passieren wird.“ Was denkt sie in solchen | |
| Momenten? „Dass jemand kommt und mich erschießt, genauso wie die anderen | |
| vor zwei Jahren.“ | |
| Nouha hielt im selben Jahr des Attentats ein Referat in ihrer Klasse über | |
| den 19. Februar. Viele ihrer Klassenkamerad:innen haben keinen | |
| Migrationshintergrund, sagt sie. Und, dass sie sich nicht wirklich damit | |
| beschäftigten, während es für sie anfangs ihren Alltag bestimmte. Die | |
| Lehrer:innen konnten sich die Namen der Opfer nicht merken, sagt Nouha, | |
| „sie merken sich doch auch die Namen von so vielen Schüler:innen“. Nach | |
| ihrem Referat kam das Feedback: „Die Lehrer sagten, es ist schön, dass du | |
| dich damit befasst“, sie wird etwas lauter, streckt ungläubig ihre Hände | |
| aus, „Ich befasse mich nicht damit, ich bin betroffen!“ | |
| Denn: An jedem 19. eines Monats komme alles wieder hoch. „Die Einstellung | |
| ist zwar, das Leben geht weiter, aber auf meinem Schulweg muss ich am | |
| Heumarkt vorbei, am ersten Tatort. Wenn ich jeden Tag ins Juz komme, zum | |
| Lidl gehe, laufe ich an der Arena Bar vorbei, am zweiten Tatort.“ Das | |
| Attentat vor zwei Jahren ist hier allgegenwärtig, manchmal ganz | |
| unweigerlich. Für viele geht das Leben halt weiter. Für andere wie Nouha | |
| und Esmanur geht es trotzdem weiter. | |
| 18 Feb 2022 | |
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