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# taz.de -- Rassismus im öffentlichen Raum: Deutschlands Zivilcourageproblem
> Vor zwei Jahren war Hanau, seit vielen Jahren ist „Nie wieder“. Trotzdem
> werden rassistische Übergriffe in der Öffentlichkeit hingenommen.
Bild: An einer Tramstation in Berlin wurde eine 17-Jährige rassistisch angegri…
Morgens fahren meine Finger durch verknotete Strähnen und finden fünf neue
weiße Haare. Angeblich kommen die vom Alter, aber vielleicht wäre es
präziser, ihre Ursache in Lebensumständen zu suchen. Drei über der linken
Schläfe, zwei am Hinterkopf. Wie jeden Morgen nehme ich mir vor, mich nie
in eine Zynikerin zu verwandeln. Dann starre ich auf einen Smartphonescreen
und in das Gesicht einer 17-Jährigen – 17 ist so jung –, die fragt, warum
ihr niemand geholfen hat. Ich habe fünf neue weiße Haare, ich müsste die
Antwort kennen.
Warum dir niemand geholfen hat. Die Sache ist: Deutschland hat ein
Zivilcourageproblem, also das öffentliche Eintreten für soziale Werte oder
Werte der Allgemeinheit, das Einschreiten, also wenn jemand bedroht wird
zum Beispiel. Also das Nicht-Wegsehen, das
Nicht-nur-Hinsehen-und-sonst-nichts-Tun, dieses
Passivität-nicht-als-neutral-Begreifen, also auch dieses
Dir-helfen-wenn-dir-Gewalt-angetan-wird. Deutschland hat ein
Verantwortungsgefühlproblem, Werteumsetzungsproblem, Rassismusproblem.
Darum hat dir niemand geholfen. Redet so eine Zynikerin? Eine Erwachsene
mit fünf neuen weißen Haaren, die glaubt, sie könnte die Welt erklären.
Ich bin eine, die sagt: Strukturelle Probleme lassen sich nicht individuell
lösen. Oft stimmt das. Aber es birgt auch die Gefahr, alle Verantwortung
von sich abzukratzen – jemand anders soll für mich einkaufen, muss
nachhaltiger leben, soll Erste Hilfe leisten. Was kann ich schon tun? Viel
zu wenig. Vor elf Tagen wurde eine [1][17-Jährige an einer
Straßenbahnhaltestelle von sechs Erwachsenen rassistisch beschimpft] und
krankenhausreif geschlagen. Leute haben zugesehen, weggesehen oder beides.
Niemand hat ihr geholfen. Die Sache ist, dass solche Gewalt in dir bleibt,
und viel später lachst du zynisch, wenn jemand sagt, wir seien doch alle
gleich, obwohl du eigentlich mal daran glauben wolltest.
Vor 20 Jahren wurden Hinterbliebene der NSU-Opfer eher für Täter*innen
als für Opfer gehalten. [2][Vor elf Tagen gab eine 17-Jährige an],
rassistisch beleidigt und angegriffen worden zu sein. Stattdessen hielt die
Polizei fest, sie habe keine Maske getragen und das hätte den Konflikt
ausgelöst, Zeitungen nannten sie eine Maskenverweigerin. Wem wird geglaubt
und warum. Ich stelle hinter diesen Satz kein Fragezeichen mehr. Die Sache
ist, dass solche Erfahrungen in dir bleiben, egal wie sicher du bist, hier
und in dir selbst richtig zu sein. Dass sie jede Chance auf ein größeres
„Wir“ zersetzen, wenn man sie lässt. Wer von Spaltung spricht, muss auch in
diesen Abgrund schauen.
Vor zwei Jahren war [3][Hanau], seit vielen Jahren ist [4][„Nie wieder“].
Ich möchte jemanden mit mehr weißen Haaren fragen, was in zwei Jahren sein
wird. Abends starre ich auf meinen Smartphonescreen und sehe eine
17-Jährige sagen, dass wir weiter kämpfen sollen. Und ich nehme mir fest
vor, mich nie in eine Zynikerin zu verwandeln.
16 Feb 2022
## LINKS
[1] /Rassistischer-Angriff-auf-17-Jaehrige/!5834606
[2] /Angriff-auf-junge-Berlinerin/!5834436
[3] /Rechtsextremismus-und-Hufeisen/!5831120
[4] /Antisemitismus-in-Deutschland/!5812743
## AUTOREN
Lin Hierse
## TAGS
Schwerpunkt Rassismus
Zivilcourage
Kolumne Poetical Correctness
Alltagsrassismus
Kolumne Die Nafrichten
Schwerpunkt Rechter Anschlag in Hanau
Kolumne Red Flag
Polizei Berlin
Schwerpunkt Rassismus
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