| # taz.de -- Drohmail-Affäre „NSU 2.0“: Aus dem Dunkel | |
| > Der Berliner Alexander M. soll als „NSU 2.0“ rassistische Drohschreiben | |
| > verschickt haben. Beim Prozessauftakt kündigt er seine Aussage an. | |
| Bild: Mit dieser Geste betritt der Angeklagte am Mittwoch das Gericht | |
| Frankfurt/Main taz | Als Alexander M. am Mittwoch zur Anklagebank im Saal | |
| 165 des Landgerichts Frankfurt am Main geführt wird, in Funktionsjacke und | |
| rotem Sweater, streckt er noch in Handschellen mit beiden Händen den | |
| Opferanwältinnen und Fotograf:innen beide Mittelfinger entgegen. Seine | |
| Verteidiger schauen weg. Alexander M. macht klar, was er von dieser | |
| Verhandlung hält: nichts. | |
| Ein Wachtmeister nimmt ihm die Handschellen ab, der Angeklagte atmet schwer | |
| unter der Schutzmaske, er scheint aufgeregt. Dann setzt er sich, | |
| verschränkt die Arme: Alexander Horst M., 54 Jahre, aus Berlin, | |
| alleinstehend, seit Jahren erwerbslos, vielfach vorbestraft. | |
| Das also könnte das Gesicht des Hasses sein. Zumindest sieht es die Anklage | |
| gegen ihn so. Laut der ist Alexander M. der Verfasser von 116 wüsten | |
| Drohschreiben, in denen ein selbsternannter „NSU 2.0“ fast drei Jahre lang | |
| zumeist Engagierte gegen Rassismus quer durch die Republik beschimpfte. Die | |
| E-Mails, SMS und Faxe erreichten die NSU-Opfer-Anwält:innen [1][Seda | |
| Başay-Yıldız] und Mehmet Daimagüler, die Comedians İdil Baydar und [2][Jan | |
| Böhmermann], die Politiker:innen Janine Wissler, Martina Renner (beide | |
| Linke), Ricarda Lang (Grüne) und die Autor:innen Hengameh Yaghoobifarah | |
| und Deniz Yücel. | |
| Als „Scheißtürken“, „Volksschädling“ oder „Abfallprodukte“ wurde… | |
| Angeschriebenen von dem Verfasser beschimpft, der sich „SS | |
| Obersturmbannführer“ nannte. Ihnen wurde angedroht, sie würden „mit | |
| barbarischer sadistischer Härte abgeschlachtet“, ihnen würde der „Kopf | |
| abgerissen“. Verschickt wurden auch Bombendrohungen, an Gerichte oder die | |
| Walter-Lübcke-Schule in Hessen. Im Fall von Seda Başay-Yıldız wurde am Ende | |
| auch ein öffentlicher Aufruf zu ihrer Tötung ins Internet gestellt, samt | |
| Nennung ihrer Adresse. Dazu hieß es immer wieder: „Heil Hitler! NSU 2.0 Der | |
| Führer“. | |
| All dies endete erst, als am 3. Mai 2021 Alexander M. in seiner Wohnung im | |
| Berliner Stadtteil Wedding [3][festgenommen wurde] – als Beschuldigter für | |
| die „NSU 2.0“-Drohserie. | |
| ## Vorwürfe zurückgewiesen | |
| Am Mittwoch hat der Prozess gegen Alexander M. begonnen, in dem Frankfurter | |
| Gerichtssaal, in dem auch der Mord an Walter Lübcke verhandelt wurde. | |
| Alexander M. soll schon nach seiner Festnahme die Vorwürfe zurückgewiesen | |
| haben. Später schrieb er an mehrere Gerichte und beschwerte sich über seine | |
| Inhaftierung. Eine Vernehmung aber lehnte er ab. | |
| Im Saal 165 spricht Alexander M. am Morgen zumindest kurz. Von Richterin | |
| Corinna Distler nach seinen Personalien gefragt, gibt er knapp seinen Namen | |
| und Geburtsdatum an, die Adresse verweigert er. „Ich gebe keine privaten | |
| Daten in öffentlicher Sitzung an“, blafft er. Es seien ja auch Journalisten | |
| da. „Steht ja in der Akte drinne.“ | |
| Fast drei Stunden lang verlesen die Staatsanwälte Sinan Akdogan und | |
| Patricia Neudeck die Anklage. Sie zitieren Drohschreiben um Drohschreiben, | |
| Schmähung um Schmähung. Es sind unflätigste rassistische Beschimpfungen, | |
| teils im NS-Jargon, mit expliziten Todesdrohungen. M. habe sich der | |
| Volksverhetzung, der Störung des öffentlichen Friedens und der öffentlichen | |
| Aufforderung zu Straftaten schuldig gemacht, sagen die Ankläger. Alexander | |
| M. folgt mit verschränkten Armen, es scheint ihn wenig zu interessieren. | |
| Zwischendrin blättert er in einem Gesetzbuch, bittet um eine Pinkelpause. | |
| Die NSU-2.0-Drohserie geht über Alexander M. hinaus. Bis heute ist sie auch | |
| eine Polizeiaffäre. Im Fokus steht dabei auch ein Mann, der nicht angeklagt | |
| ist: [4][Polizist Johannes S]. | |
| ## Polizeibeamte involviert? | |
| Auffällig war früh, dass etliche „NSU 2.0“-Schreiben auch private Daten | |
| der Angeschriebenen enthielten – Adressen, Handynummern, Namen von | |
| Angehörigen. In den Fällen von Seda Başay-Yıldız, İdil Baydar und Janine | |
| Wissler waren die Daten von Polizeicomputern abgerufen worden, auf Revieren | |
| in Frankfurt am Main, Wiesbaden und Berlin. Das machte die Sache zu einem | |
| Politikum. Der ungeheure Verdacht: [5][Steckten Polizeibeamte dahinter]? | |
| Der Fall belastete die hessische Polizei schwer. Ein Sonderermittler wurde | |
| eingesetzt, Polizeipräsident Udo Münch trat zurück. Er beschäftigte den | |
| Bundestag, den hessischen Landtag, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier | |
| reiste an. | |
| Bis Alexander M. verhaftet wurde. Und die Staatsanwaltschaft bekannt gab, | |
| dass dieser als Einzeltäter anzusehen sei: Er habe wohl durch fingierte | |
| Anrufe bei der Polizei, bei denen er sich als Behördenangestellter ausgab, | |
| die Privatdaten erlangt. Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU) erklärte, | |
| die Opfer und Polizei könnten „[6][aufatmen]“, die Gewerkschaft der Polizei | |
| forderte eine Entschuldigung für die „haltlosen“ Vorwürfe gegen die | |
| Polizei. | |
| Aber Seda Başay-Yıldız, die in dem Prozess Nebenklägerin ist, und andere | |
| Betroffene haben weiter Zweifel. Im Gericht ist sie am Mittwoch nicht, sie | |
| schickt eine Anwältin. Sie will dem Angeklagten keine Genugtuung gönnen. | |
| Nach den Drohungen musste Başay-Yıldız umziehen, ihre neue Wohnung | |
| absichern, sie stand unter Polizeischutz. Auch die Politikerin Martina | |
| Renner ist Nebenklägerin und schickte eine Anwältin. | |
| ## Betroffene zweifeln | |
| Schon im Vorfeld aber sagte Başay-Yıldız der taz, für sie sei bis heute | |
| nicht ausgeräumt, dass Polizeibeamte an der Drohserie beteiligt waren. „Ich | |
| glaube, dass Polizisten zumindest an dem ersten Drohfax an mich aktiv | |
| mitgewirkt haben“, sagt Başay-Yıldız. „Dass die Beamten ausgetrickst | |
| wurden, ist eine Behauptung des vom Innenminister eingesetzten | |
| Sonderermittlers. Und die ist in meinem Fall auch noch ziemlich | |
| realitätsfern.“ | |
| Angeklagt aber ist nur Alexander M. Das Bild, dass die Ermittler von ihm | |
| zeichnen, ist das eines querulantischen Einzelgängers. Geboren wurde er in | |
| Ostberlin, wuchs bei seiner Mutter auf, die Schule verlief holprig, er | |
| machte eine Ausbildung zum Informatiker. Zuletzt lebte M. allein und seit | |
| Jahren erwerbslos in einer Einzimmerwohnung im Berliner Wedding, bei seiner | |
| Festnahme notierten Beamte einen vermüllten Zustand. Kontakt soll er fast | |
| nur zu seiner Mutter gehabt haben. Vor Gericht gab er schon vor Jahren an, | |
| er sei ein Einzelgänger, der den ganzen Tag vorm Rechner sitze. | |
| Der 54-Jährige ist vielfach vorbestraft, saß bereits mehrere Jahre in Haft. | |
| Verurteilt wurde er etwa wegen Beleidigung, Bedrohung, Körperverletzung, | |
| Hehlerei oder Amtsanmaßung. Ein psychiatrisches Gutachten von 2005 | |
| bescheinigte ihm eine Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen, | |
| dissozialen Zügen. Und M. kennt sich laut Ermittlern gut mit der NS-Zeit | |
| aus, aus familiärer Erfahrung: Sein Vater soll Mitglied des | |
| SS-Totenkopfverbandes Thüringen gewesen sein, damals am KZ Buchenwald | |
| stationiert. Die Anklage sieht auch das als Indiz dafür, dass Alexander M. | |
| der selbsternannte „SS Obersturmbannführer“ der NSU-2.0-Schreiben ist. | |
| Die große Lücke in der Anklage aber bleibt: Wie soll Alexander M. an die | |
| Polizeidaten gelangt sein? Gleich das erste Drohschreiben an Seda | |
| Başay-Yıldız wirft Fragen auf. Dieses ging am 2. August 2018 um 15.41 Uhr | |
| als Onlinefax bei der Kanzlei von Başay-Yıldız ein, verschlüsselt versendet | |
| über einen Server des Tor-Netzwerks. Die Frankfurterin war damals nicht nur | |
| als NSU-Opfer-Anwältin bekannt, sondern auch für die Vertretung eines | |
| Islamisten. „Miese Türkensau“, beschimpfte sie der Absender, der sich „U… | |
| Böhnhardt“ nannte, nach dem NSU-Terroristen. „Du machst Deutschland nicht | |
| fertig. Verpiss dich lieber, solange du hier noch lebend rauskommst, du | |
| Schwein.“ Es folgte die Nennung von Başay-Yıldız’ Privatadresse und der | |
| Name ihrer damals zweijährigen Tochter, beide öffentlich nicht bekannt. Und | |
| die Drohung, ihre Tochter zu „schlachten“. Am Ende das Kürzel: „NSU 2.0�… | |
| Am gleichen Abend erschien auf dem linken Indymedia-Onlineportal ein | |
| Kommentar zu Başay-Yıldız, auch dort mit ihrer Adresse und dem Aufruf, ihr | |
| „jede Menge Ärger“ zu machen. | |
| ## Neue Qualität | |
| Başay-Yıldız war Beleidigungen gewohnt. Das aber war neu – sie informierte | |
| das hessische Landeskriminalamt. Was sie da noch nicht wusste: Ihre | |
| Privatdaten waren, rund anderthalb Stunden bevor sie das Drohfax erhielt, | |
| auf einem Dienstrechner im 1. Polizeirevier Frankfurt am Main abgerufen | |
| worden. Und das wesentlich akribischer als bisher bekannt, wie die taz | |
| zuletzt offenlegte: Mit insgesamt 17 Abfragen wurde nach Başay-Yıldız in | |
| drei Datenbanken gesucht – nach ihrer Adresse, den dort gemeldeten Personen | |
| und deren Geburtsdaten oder dem Auftauchen der 46-Jährigen als Beschuldigte | |
| oder Geschädigte von Straftaten. Sechs Minuten lang. | |
| Başay-Yıldız ist überzeugt: „Eine solch detaillierte Abfrage ist auf | |
| telefonischen Zuruf sowohl faktisch als auch zeitlich ausgeschlossen. Das | |
| wirkt vielmehr, als hätten die Beamten all ihre Daten durchsucht, um | |
| gezielt etwas über mich herauszufinden.“ | |
| Tatsächlich fiel der Verdacht der Ermittler, nachdem diese auf die | |
| Datenabfrage im 1. Revier in Frankfurt stießen, zuerst auf Polizeibeamte. | |
| An dem Rechner, an dem die Abfrage stattfand, war eine junge Beamtin | |
| eingeloggt, Miriam D. Sie soll später angegeben haben, sich an die Abfrage | |
| nicht zu erinnern – sie aber auch nicht ausschließen zu können. Das | |
| Problem: Der Dienstrechner war über Stunden entsperrt, mehrere Beamte | |
| konnten ihn benutzen, ein Zettel mit Passwort lag daneben. Wer letztlich | |
| die Abfrage zu Başay-Yıldız tätigte, konnten die Ermittler bis heute nicht | |
| herausfinden. Auch die fünf weiteren Polizisten, die damals im Revier im | |
| Dienst waren, sollen alle behauptet haben, sich an den Tagesverlauf und die | |
| Abfrage nicht erinnern zu können. | |
| Was die Ermittler aber entdeckten, war eine Whatsapp-Gruppe namens | |
| „Itiotentreff“ auf dem Handy von Miriam D. Sechs Beamte tauschten sich dort | |
| aus, inklusive rechtsextremer Sprüche und Hitlerbilder. Die | |
| Staatsanwaltschaft bewertete Dutzende Beiträge als strafrechtlich relevant. | |
| Und auch einer der Teilnehmer der Chatgruppe rückte nun in den Verdacht: | |
| Polizist Johannes S. Er fiel im Chat mit derben Beiträgen auf. Er war am | |
| Tag des ersten Drohfax an Başay-Yıldız im Dienst auf dem Frankfurter | |
| Revier. Er soll sich mit Tor-Verschlüsselung auskennen, einen Vortrag | |
| darüber bei der Polizei gehalten haben. Und er soll im Internet nach | |
| „Yildiz“ gesucht haben. | |
| ## Verdächtiger entlastet | |
| Johannes S. wurde daraufhin überwacht – und vermeintlich entlastet. Weil | |
| festgestellt wurde, dass er beim Versand eines späteren „NSU | |
| 2.0“-Schreibens anderweitig beschäftigt war. Offen aber bleibt, ob das | |
| Schreiben nicht auch zeitversetzt verschickt worden sein könnte. Sein | |
| Alibi, wonach er zum Zeitpunkt des ersten Drohfax an Başay-Yıldız auswärts | |
| auf einem Einsatz war, stimmt wohl nicht: Ermittler rekonstruierten, dass | |
| der Einsatz erst später begann. | |
| Die „NSU 2.0“-Serie ging, nach einer Pause, ab Dezember 2018 erst richtig | |
| los. In einem weiteren Schreiben an Başay-Yıldız wurden auch ihre Eltern | |
| namentlich bedroht, auch sie öffentlich nicht bekannt. In einem anderen | |
| stand Başay-Yıldız’ neue Adresse – obwohl diese mit einem Sperrvermerk a… | |
| geheim eingestuft war. Und auch weitere Personen erhielten nun die | |
| Schreiben, meist nachdem Medien über sie berichtet hatten. Wie „getriggert“ | |
| habe der Verfasser auf die Berichte reagiert, notierten Ermittler. | |
| Und nun kamen die Schreiben alle von derselben E-Mail-Adresse des | |
| russischen Anbieters Yandex, verschickt nach Tor-verschlüsselten Logins. Zu | |
| den privaten Daten stellten die Ermittler fest, dass sich einige zwar mit | |
| längeren Suchen im Internet finden ließen – in zehn Fällen aber nicht. Und | |
| in drei davon – Başay-Yıldız, Baydar, Wissler – gab es eben zuvor die | |
| Abfragen auf Polizeirevieren. Einen dienstlichen Grund dafür fanden die | |
| Ermittler nicht. | |
| Aber der Drohschreiber blieb ungefasst. Auch eine eigens von den Ermittlern | |
| aufgesetzte, fingierte Internetseite, die einen Tor-Zugriff entschlüsselte | |
| hätte, blieb fruchtlos. Ebenso wie ein Rechtshilfeersuchen an Yandex, das | |
| erst nach Monaten beantwortet wurde. Bis ein Schach-Onlineportal den | |
| Durchbruch brachte. | |
| ## Die Festnahme | |
| Zuvor schon hatten die Ermittler auf dem rechtsextremen Onlineportal | |
| PI-News zwei Nutzer namens „Obersimulant“ und „Sudel-Ede“ entdeckt, die | |
| ähnliche Formulierungen wie der „NSU 2.0“-Schreiber verwendeten – | |
| Sprachgutachten bestätigten das. Nun fanden sie im Frühjahr 2021 die | |
| gleichen Usernamen auch auf einem Schachportal wieder, die dort teils | |
| rassistisch ausfällig wurden. Von einem dieser Accounts führten eine | |
| IP-Adresse und Bestandsdaten schließlich zu Alexander M. – er hatte die | |
| Schachseite nicht Tor-verschlüsselt genutzt. | |
| Ab Mitte April 2021 wurde Alexander M. observiert, am 3. Mai schließlich | |
| festgenommen – bewusst abends, als der 54-Jährige an seinem eingeschalteten | |
| PC saß und diesen nicht mehr sperren konnte. M. soll noch mit einer | |
| Schreckschusswaffe die Beamten bedroht haben. Auch für die Bedrohung muss | |
| er sich nun verantworten. Und für zwei verbotene Würgehölzer und | |
| Kinderpornografie, die in seiner Wohnung gefunden wurden. | |
| Dass Alexander M. die Vorwürfe bestreitet, beunruhigt die Ankläger nicht. | |
| Seine Beschwerden gegen seine Inhaftierungen wiesen Gerichte bisher ab. Und | |
| die Ankläger haben tatsächlich einiges gegen Alexander M. in der Hand. | |
| Da sind seine einschlägigen Vorstrafen. In einem Berliner Sozialamt soll er | |
| schon vor Jahren einem Mann mit einer Gaspistole ins Gesicht geschossen, in | |
| einem Arbeitsamt einen Mitarbeiter mit Reizgas besprüht haben. Zudem soll | |
| er andere mit Drohanrufen überzogen haben. So etwa den Leiter der JVA | |
| Moabit, den er laut eines Gerichtsurteils als „perverses Schwein“ | |
| beschimpfte und drohte, ihn umzubringen. | |
| ## Schwerwiegende Indizien | |
| Schwerwiegender aber: Auf M.s Rechner fanden sich mehrere | |
| NSU-2.0-Drohschreiben oder Fragmente dazu. Dazu konnten die Ermittler | |
| nachweisen, dass Alexander M. Zugang zum Yandex-Postfach hatte, von dem aus | |
| die Schreiben verschickt wurden. Auf seinem PC fanden sich auch Log-ins zu | |
| PI-News und dem Schachportal – und Suchanfragen zu den Bedrohten, vor | |
| allem Başay-Yıldız. | |
| Die Anklage verweist darauf, dass sich M. bereits in der Vergangenheit bei | |
| einer Bank als Polizist ausgegeben und die Daten eines Kunden angefordert | |
| habe. Dem Berliner Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten | |
| schrieb er 2019, wie leicht es sei, sich als Mitarbeiter auszugeben und so | |
| bei Ämtern an Daten zu kommen. Auf seinem PC fand sich ein Hinweis zu einem | |
| Anruf bei einer Polizeistation, bei dem er sich als Staatsanwalt ausgegeben | |
| haben soll. | |
| Auch die taz erhielt im August 2018 – kurz nach dem ersten Drohschreiben an | |
| Başay-Yıldız – zwei Anrufe, die nun in Ermittlungspapieren auftauchen. Der | |
| Anrufer gab sich als Polizist aus dem Wedding aus, der vom | |
| taz-Geschäftsführer und der Chefredakteurin die Handynummer der | |
| Kolumnist*in Hengameh Yaghoobifarah verlangte – was abgelehnt wurde. | |
| Darauf drohte der Anrufer: „Ihrer Kollegin blüht noch einiges.“ Schon kurz | |
| zuvor war auch Yaghoobifarahs Vater von einem Unbekannten angerufen worden, | |
| der nach der Handynummer und Adresse fragte. | |
| Für die Ermittler sind dies Indizien genug, dass Alexander M. so auch bei | |
| den Polizeiwachen vorging. „Der anfängliche Verdacht, Polizeibeamte könnten | |
| in strafrechtlich relevanter Weise an der Datenabfrage beteiligt gewesen | |
| sein, hat sich nicht bestätigt“, erklärt die Frankfurter | |
| Staatsanwaltschaft. | |
| ## Viele Fragen offen | |
| Für Seda Başay-Yıldız ist das keineswegs so klar. Sie verweist darauf, dass | |
| auch im Nachhinein keiner der befragten Frankfurter Polizeibeamten von | |
| solch fingierten Anrufen berichtet hat. Das Vorgehen passe auch nicht zu | |
| der sehr ausführlichen Suche zu ihrem Namen mit gleich 17 Abfragen in drei | |
| Datenbanken. „So reagiert man doch nicht auf einen telefonischen Zuruf. | |
| Noch dazu von einer Person, die man nicht kennt“, sagt Başay-Yıldız. | |
| Für sie bleibt auch ungeklärt, wer am Abend des ersten Datenabrufs den | |
| Indymedia-Kommentar zu ihr veröffentlichte – in der Anklage gegen Alexander | |
| M. taucht er nicht auf. Wer war es dann? Unerklärlich ist für Başay-Yıldız | |
| auch, wie der Drohschreiber an ihre neue, geheime Adresse kam. Auch diese | |
| soll am Telefon weitergegeben worden sein – trotz des damaligen | |
| Sperrvermerks und längst bundesweiten Wirbels um den Fall? „Das passt alles | |
| nicht zusammen.“ | |
| Die Anwältin ist mit ihren Zweifeln nicht allein. In einer Erklärung kurz | |
| vor Prozessbeginn nennen es auch die ebenfalls bedrohten İdil Baydar, | |
| Hengameh Yaghoobifarah und die Linken-Politikerinnen Wissler, Renner und | |
| Anne Helm einen „Skandal“, dass sich die Ermittlungen zuletzt auf einen | |
| Einzeltäter konzentrierten. „Der NSU-2.0-Komplex ist mit der Festnahme des | |
| Angeklagten nicht aufgeklärt.“ Vielmehr gebe es Hinweise auf eine | |
| „mindestens gezielte Datenweitergabe aus Polizeikreisen“, zu denen | |
| „nachdrücklich“ ermittelt werde müsse. | |
| Tatsächlich scheint sich auch die Staatsanwaltschaft Frankfurt mit ihrer | |
| Einzeltäterthese nicht sicher zu sein. Sie bestätigt der taz, dass | |
| zumindest gegen Johannes S. und Miriam D. weiterhin Verfahren wegen | |
| Geheimnisverrats laufen, zu der Datenweitergabe zu Başay-Yıldız. Bislang | |
| hätten die Ermittlungen aber keinen hinreichenden Tatverdacht ergeben, sagt | |
| eine Sprecherin. Man wolle noch abwarten, ob der Prozess gegen Alexander M. | |
| neue Erkenntnisse bringe. | |
| ## Ermittlungen laufen weiter | |
| Gegen Johannes S. und Miriam D. laufen auch immer noch Ermittlungen wegen | |
| der „Itiotentreff“-Chatgruppe, ebenso gegen die vier weiteren beteiligten | |
| Polizisten. Einer verließ inzwischen freiwillig den Polizeidienst. Die | |
| anderen fünf sind bis heute – seit dreieinhalb Jahren – suspendiert. | |
| Başay-Yıldız will darauf drängen, dass die Frage, ob und wie die Polizisten | |
| an den Drohungen gegen sie beteiligt waren, im Prozess aufgeklärt wird. | |
| „Die Drohungen des Angeklagten sind ein Problem. Das größere Problem aber | |
| bleibt, dass er oder andere dafür interne Polizeidaten von mir verwenden | |
| konnten, die zielgerichtet abgerufen wurden. Das gibt dem Ganzen eine | |
| völlig andere Dimension“, sagt Başay-Yıldız. | |
| Auch Alexander M. setzt offenbar Hoffnungen auf den Prozess. Nach seiner | |
| Verhaftung soll er angekündigt haben, im Prozess zu beweisen, dass er | |
| unschuldig sei. Nach der Anklageverlesung am Mittwoch legt er sich bereits | |
| eine Erklärung bereit. Ob er denn in diesem Prozess aussagen wolle, fragt | |
| Richterin Distler. „Ja, es kommt eine umfangreiche Einlassung von mir.“ Er | |
| wolle sofort beginnen. Die Anklage könne er „so nicht stehen lassen“. Sein | |
| Verteidiger aber fällt M. ins Wort, dies wolle man erst am zweiten | |
| Prozesstag am Donnerstag tun. Alexander M. widerspricht: „Ich möchte es | |
| gerne jetzt verlesen. Ich bin hochmotiviert.“ Doch auch Richterin Distler | |
| will die Aussage lieber am Folgetag hören. | |
| Der Donnerstag war bereits für eine mögliche Aussage von Alexander M. | |
| reserviert, er wird viel Zeit bekommen. Und offenbar will sich der | |
| 54-Jährige dabei auch nicht von seinen Anwälten aufhalten lassen. | |
| Vielleicht kann er dann beantworten, wie er an die Polizeidaten kam. Und, | |
| warum seit seiner Festnahme keine „NSU 2.0“-Drohschreiben von der | |
| Yandex-Adresse mehr auftauchten. | |
| 16 Feb 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Belohnung-zu-NSU-20-Serie-ausgesetzt/!5731312 | |
| [2] /Ermittlungen-zum-NSU-20/!5714945 | |
| [3] /Verhaftung-nach-NSU-20-Drohserie/!5765449 | |
| [4] /taz-Recherche-zu-Drohmails/!5709468 | |
| [5] /Vor-Prozessstart-zu-NSU-20-Drohserie/!5834911 | |
| [6] /Festnahme-eines-NSU-20-Verdaechtigen/!5769933 | |
| ## AUTOREN | |
| Konrad Litschko | |
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