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# taz.de -- Forscher*innen über soziale Beziehungen: „Das Beiläufige ist wi…
> In der Pandemie ist es ganz schön einsam geworden. Aber was genau ist
> eigentlich Einsamkeit? Ein Gespräch mit zwei
> Einsamkeitsforscher*innen.
Bild: Alleine sein kann schön sein, Einsamkeit zum Problem werden
taz: In den vergangenen zwei Jahren waren die meisten Menschen so sehr mit
Einsamkeit konfrontiert wie noch nie. Hat das den Blick auf dieses Gefühl
verändert?
Johann Hinrich Claussen: Wir haben während der Pandemie eine Erfahrung
gemacht, die manche Menschen seit Langem machen. In den Lockdowns waren auf
einmal alle von Einsamkeit betroffen. Das zeigt, dass sich Menschen diese
Situation nicht aussuchen. Jeder von uns kann einsam werden.
Haben manche die Einsamkeit auch genossen?
Susanne Bücker: Es mag sein, dass Menschen das Alleinsein genießen können,
aber so definieren wir Einsamkeit in der Psychologie nicht. Wir nutzen
folgende Definition: Einsamkeit ist die wahrgenommene Diskrepanz zwischen
den sozialen Beziehungen, die man sich wünscht und den sozialen
Beziehungen, die man hat. Wenn ich das Gefühl habe, ich habe nicht genug
von dem, was ich mir wünsche, fühle ich mich einsam. Das impliziert etwas
Negatives.
Claussen: Es ist außerdem eine Frage der Selbstwirksamkeit. Kann ich etwas
an meiner Situation verändern? Wenn nicht, fügt es dem Einsamkeitsschmerz
noch etwas hinzu: das Gefühl von Unfreiheit.
Wann ist dieser Punkt bei den meisten Menschen erreicht?
Bücker: Menschen unterscheiden sich stark darin, wie viele soziale Kontakte
sie sich wünschen. Manchen Menschen reicht es aus, wenn sie ab und zu mit
jemandem telefonieren oder einen engen Freund oder eine enge Freundin
haben. Anderen reicht das nicht. Sie möchten die ganze Zeit im Kontakt mit
anderen sein und brauchen intensiven Austausch und Intimität.
Erleben Menschen Einsamkeit ähnlich?
Bücker: In der Psychologie unterscheiden wir zwischen drei Facetten der
Einsamkeit. Die erste Form nennen wir intime oder emotionale Einsamkeit.
Man sehnt sich nach einer engen Bezugsperson, oft einem romantischen
Partner oder einer romantischen Partnerin, es kann aber auch eine enge
Freundin oder ein enger Freund sein. Die zweite Form beschreiben wir als
soziale Einsamkeit, es fehlt ein breiteres Netzwerk an sozialen Kontakten.
Zum Beispiel?
Bücker: Lose Freundschaftsbeziehungen, etwa die Gruppe von Kommilitoninnen,
zu denen man sich vor dem Hörsaal dazustellen kann. Die dritte Facette
fällt ein bisschen heraus: die kollektive Einsamkeit. Das Gefühl, dass man
sich nicht zugehörig fühlt zu der Gesellschaft, in der man lebt, dass man
die Werte der Menschen um sich herum nicht teilt.
Können es gute Freundschaften wettmachen, wenn ein Partner oder eine
Partnerin fehlt?
Bücker: Nein. Die drei Formen können sich nicht gegenseitig kompensieren.
Wenn man gerade eine Trennung erlebt hat, helfen einem Freunde und
Freundinnen über den Verlust hinweg, aber sie kompensieren nicht das
Bedürfnis nach einem intimen Partner oder einer intimen Partnerin. Und
umgekehrt: Wenn mir Freundschaftsbeziehungen oder ein breiteres Netzwerk
fehlen, dann hilft ein Partner oder eine Partnerin alleine auch nicht.
Ab wann macht Einsamkeit krank?
Bücker: Wenn sie einen chronischen Zustand erreicht hat und man den
Eindruck hat, dass man nicht mehr aus ihr herauskommt. Chronische
Einsamkeit kann sich dann [1][zu einer Depression] oder einer sozialen
Angststörung entwickeln.
Kann sie auch körperliche Folgen haben?
Bücker: Wenn ein Mensch lange einsam bleibt, wirkt sich das auf das
Herz-Kreislauf-System aus. Forschungen zeigen, dass Menschen, die sich
chronisch einsam fühlen, oftmals erhöhten Blutdruck haben. Sie haben eine
geringere Lebenserwartung und werden bei einer Erkrankung langsamer wieder
gesund. Aber [2][Einsamkeit an sich ist keine Krankheit] und sollte nicht
als eine solche behandelt werden.
Warum wird Einsamkeit dennoch als neue Epidemie bezeichnet?
Claussen: Diese Beschreibung stört mich sehr. Sie bedeutet, dass ich mich
infizieren kann, wenn ich mit einsamen Menschen zu tun habe. Dass man sie
deshalb am besten isolieren und in Quarantäne schicken sollte. Aber das
passiert sowieso. Einsamkeit ist stark mit Scham verbunden, niemand will
zugeben, dass er oder sie einsam ist.
Sind wir einsamer als die Menschen früher?
Bücker: Wenn man sich anschaut, wie sich Einsamkeit bei jungen Erwachsenen
in den letzten vierzig Jahren entwickelt hat, gibt es einen leichten
Anstieg. Heutige Generationen berichten von höheren Einsamkeitsgefühlen als
die Generationen davor. Aber dieser Anstieg ist gering. Die Menschen heute
müssen nicht zwangsläufig einsamer sein als ihre Vorfahren, vielleicht
sprechen sie einfach mehr und offener darüber.
Einsamkeit hat in verschiedenen Kontexten aber auch einen kulturellen
Stellenwert.
Claussen: In manchen Religionen gibt es eine hohe Wertschätzung von
Einsamkeit. Von Heiligen, Mönchen und Nonnen, die sich in einem heroischen
Akt dazu entscheiden. Der heilige Antonius musste zum Beispiel in die Wüste
gehen, um einsam sein zu können. Mit zunehmendem Wohlstand ab dem 19.
Jahrhundert kamen außerdem viele Freizeitspiele wie Solitär oder Patience
in Mode, die man alleine spielt. Heute ist soziale Attraktivität allerdings
so wichtig geworden, um erfolgreich zu sein, dass wir es uns nicht
eingestehen, einsam zu sein. Das sorgt für viel Druck.
Was kann das Stigma von Einsamkeit auflösen?
Bücker: Ein wichtiger Punkt ist, dass mehr darüber gesprochen wird. Dass
Menschen, die Einfluss und Reichweite haben, offen darüber sprechen, dass
sie sich manchmal einsam fühlen. Es hilft, wenn man Einsamkeit nicht als
einen Zustand betrachtet, der da ist oder nicht, sondern als Kontinuum: von
überhaupt nicht einsam bis zu ziemlich stark einsam. Auf diesem Kontinuum
bewegen wir uns im täglichen Leben hin und her. Das sollten wir von klein
auf lernen.
Welche Menschen sind besonders einsam?
Bücker: Es gibt Risikofaktoren, die aber nicht bedeuten, dass jeder oder
jede, auf die eine Gruppenbeschreibung zutrifft, zwangsläufig einsam sein
muss. Ein geringer sozioökonomischer Status, also geringes Einkommen, aber
auch geringere Bildung oder Arbeitslosigkeit scheinen massiv das
Einsamkeitsrisiko zu erhöhen. Auch Menschen, die nicht in einer stabilen
Paarbeziehung leben oder denen es gesundheitlich nicht gut geht, fühlen
sich tendenziell einsamer.
Das heißt, Einsamkeit betrifft eher ältere Menschen?
Bücker: Es gibt zwei Lebensphasen, die besonders von Einsamkeitsgefühlen
geprägt sind. Das junge Erwachsenenalter, von 18 bis 30 Jahren, [3][weil
viele Umbrüche passieren]: Man zieht aus dem Elternhaus aus, beginnt eine
Ausbildung oder ein Studium, versucht sich beruflich zu etablieren, denkt
über Familienplanung nach. Die zweite vulnerable Phase ist das hohe
Lebensalter. Hier sind die Ursachen Lebensereignisse wie der Tod des
Partners oder der Partnerin, von Freunden und Freundinnen, aber natürlich
auch Erkrankungen.
Claussen: Ein großes Problem ist dabei, dass unsere Städte, Stadtteile und
Dörfer immer weniger so gebaut sind, dass es alltägliche Begegnungen beim
Bäcker oder Zeitungshandel gibt. Neben Freundschaften und
gesellschaftlicher Zugehörigkeit ist das Beiläufige wichtig.
Bücker: Beiläufige Kontakte können tatsächlich einen nicht zu
unterschätzenden Einfluss auf unser Wohlbefinden haben. Eine Anbindung an
Stadtzentren, kleinere Quartiere innerhalb von Städten, ein öffentlicher
Raum, an dem man bedingungslos teilhaben kann, selbst wenn man wenig
finanzielle Möglichkeiten hat oder keine besonderen Talente mitbringt, sind
wichtige Faktoren. Einsamkeit ist politisch relevant.
England und Japan haben inzwischen ein Ministerium für Einsamkeit. Kann
Politik helfen?
Bücker: Sowohl auf Landesebene als auf Bundesebene und sogar auf Ebene der
EU gibt es immer mehr Bestrebungen, Einsamkeit politisch zu adressieren.
Endlich wurde erkannt, dass Einsamkeit nicht ausschließlich ein
individuelles Problem ist, sondern unsere Gesellschaft als Ganzes betrifft
und als solches angegangen werden muss. Der Weg ist aber noch weit.
Was hilft in einer akuten Einsamkeitssituation?
Bücker: Es gibt nicht den einen Weg für alle. Aber wenn man in einer akuten
Situation ist, in der man den Eindruck hat, dass man es nicht mehr alleine
schafft, sind professionelle Beratungsstellen oder psychotherapeutische
Ambulanzen gute Anlaufstellen. Sie bieten Unterstützung von entlastenden
Gesprächen bis zur Umstrukturierung des Alltags. Wer das nicht möchte, kann
durchs Telefonbuch scrollen und überlegen, welche Leute er oder sie aus den
Augen verloren hat. Häufig fällt es leichter, bestehende Kontakte zu
reaktivieren, als neue zu knüpfen.
Warum ist es trotzdem wichtig, ab und zu einsam zu sein?
Claussen: Wir brauchen Momente der Stille, in denen wir all das
verarbeiten, was wir am Tag erleben. Das tun wir im Schlaf, beim
Spazierengehen, Sporttreiben, Musikhören oder Lesen. Es gehört zu einer
bewussten Lebensführung dazu. Wir sind soziale Wesen, müssen uns aber immer
wieder mal auf uns besinnen, um erneut in einer Gruppe sein zu können. In
der Pandemie haben wir erlebt, wie schön das sein kann.
Bücker: Ich würde nicht sagen, dass es wichtig ist, einsam zu sein. Aber es
ist wichtig, auch mal alleine sein zu können. Das ist eine Kompetenz, die
man lernen muss, auch, wenn es keinen Spaß macht. Das könnten wir durchaus
mehr tun.
31 Jan 2022
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## AUTOREN
Stella Schalamon
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