# taz.de -- Parlaments-Debatte übers Impfen: Die Macht des Gewissens | |
> Der Bundestag wird ohne Fraktionszwang über die Impfpflicht entscheiden. | |
> Lagerkämpfe gibt es trotzdem. | |
Bild: Der Bundestag am Mittwoch: Drinnen wird debattiert, draußen ist man auf … | |
Am Dienstag eilt Marie-Agnes Strack-Zimmermann mit Maske durch | |
Berlin-Mitte. Die Zeit ist knapp. Sie hat einen Termin nach dem anderen. | |
Die Verteidigungsexpertin der FDP beschäftigt die Russland-Ukraine-Krise, | |
aber natürlich auch die Impfpflicht. Strack-Zimmermann hat eine | |
Inzidenz-App auf ihrem Handy installiert. Diese zeigt die Zahl für | |
Berlin-Mitte an: über 3.000. Das Zentrum der Hauptstadt ist ein | |
Corona-Hotspot. | |
Impfpflicht – ja oder nein. Und wenn ja, wie genau und für wen? Diese | |
Fragen wühlen derzeit die Gesellschaft und die Politik auf. | |
Strack-Zimmermann sagt: „Im März gehen wir in das dritte Jahr der Pandemie. | |
Es muss einfach etwas passieren.“ Die Lage ist vertrackt. Die Fraktionen | |
von SPD und Grünen wollen eher eine allgemeine Impfpflicht. Doch die Ampel | |
hat dafür im Bundestag keine eigene Mehrheit. Denn in der FDP-Fraktion, die | |
lange die Coronapolitik der Großen Koalition bekämpfte, sind viele, | |
nicht nur Wolfgang Kubicki, gegen eine Impfpflicht. Kanzler Scholz hat | |
deshalb im November in weiser Voraussicht die Losung ausgegeben, dass das | |
Parlament ohne Fraktionszwang entscheiden soll. Die Impfpflicht sei eine | |
Gewissensentscheidung. | |
Seitdem ist die Lage unübersichtlich, eine schwer durchschaubare Mixtur aus | |
Gewissensnot und Machtkalkül. Einige Grüne und Liberale etwa plädieren für | |
eine Impfpflicht für Ältere, wie in Italien. Die Union hat angekündigt, | |
sich keinem der drei Gruppenanträge – Impfpflicht für alle, nur für Ältere | |
und ein generelles Nein – anzuschließen und will einen eigenen Antrag | |
vorlegen, Inhalt jedoch: unbekannt. Das Motto scheint zu sein: Wir wissen | |
nicht, wofür wir sind, aber wir sind auf jeden Fall dagegen. Fast kurios | |
ist, dass die Union schon einmal einen eigenen Fraktionsantrag ankündigte | |
und prompt wieder zurück zog. Jetzt nimmt sie also erneut Anlauf, um die | |
Schwäche der Ampel auszunutzen. | |
## „Es geht nicht mehr so weiter“, findet die FDP-Frau | |
Die Debatte ist machtpolitisch überwölbt. Strack-Zimmermann sieht vor | |
allem, dass es so nicht mehr weitergehe, sagt sie am Donnerstag am Telefon. | |
Freunde von ihr, erst 50 Jahre alt, sind an Corona gestorben. Sie kennt, | |
wie so viele, Kinder, die nicht zur Schule konnten, Eltern, die | |
Homeschooling und Arbeit parallel meistern mussten, Menschen, die Panik | |
hatten, ihre Arbeit zu verlieren. Auch deshalb ist sie für die allgemeine | |
Impfpflicht ab 18 Jahren – und sie wird gemeinsam mit Abgeordneten von SPD | |
und Grünen einen entsprechenden Gruppenantrag vorlegen. | |
Wobei das genaue Prozedere für eine solche Pflicht noch unklar ist. Etwa, | |
wie der Staat die Einhaltung kontrollieren kann. Ein zentrales Impfregister | |
zu schaffen, dauert zu lange. Fest steht bislang allein, dass der Antrag | |
eine zeitliche Begrenzung enthalten soll, wohl auf drei Jahre. „Ich bin | |
keine Juristin. Die Details will ich Experten überlassen“, sagt die | |
FDP-Politikerin. Alle Ungeimpfte würden angeschrieben und im Gesundheitsamt | |
beraten. Niemand, der den Piks verweigere, werde im Gefängnis landen. Es | |
solle bei einem Ordnungsgeld bleiben – „möglichst daran orientiert, was | |
Menschen verdienen“, so Strack-Zimmermann. | |
In ihrer Fraktion sehen viele die Impfpflicht indes skeptisch. Zu viel | |
staatlicher Eingriff, zu wenig Rechte für die Einzelnen. Strack-Zimmermann | |
bekommt Mails und Briefe, in denen ihr Verrat an liberalen Ideen | |
vorgeworfen wird. Sie kontert: „Freiheit heißt nicht auf Teufel komm raus | |
ich, ich, ich. Freiheit ist immer eingebettet in einen sozialen Kontext des | |
verantwortlichen Miteinanders.“ Das sähen auch viele andere Liberale so. Im | |
Internet haben Impfgegner:innen derweil dazu aufgerufen, vor | |
Strack-Zimmermanns Haustür zu demonstrieren. Bei angekündigten Demos steht | |
zum Schutz die örtliche Polizei vor der Tür. Die resolute Liberale sagt: | |
Wer sie bedrohe, bekomme eine Anzeige. Auch andere Abgeordnete werden | |
zumindest mit Mails von Impfpflicht-Gegner:innen überhäuft. | |
Paula Piechotta, seit Kurzem für die Grünen im Bundestag, sitzt am frühen | |
Donnerstag im Zug von Leipzig nach Berlin und sagt: „Noch so einen | |
Coronawinter halten wir in Sachsen nicht durch.“ Die Radiologin hat bis | |
2021 im Universitätsklinikum Leipzig gearbeitet. Dort lagen zeitweise die | |
meisten Coronapatienten in Deutschland. Viele ihrer Klinikkolleg:innen | |
hätten den Job gekündigt. Manche arbeiteten nur noch in Teilzeit, andere | |
„machen einfach abgestumpft weiter“. Sie verstehe [1][die Ermüdung]. Und | |
dann gab es noch den Dauerstress um Schulschließung, Debatten voller | |
Affekte, Verletztheit, Überforderung. „Eine ausgewogene Diskussion war kaum | |
möglich“, sagt die 34-Jährige. All das dürfe sich nicht wiederholen. | |
Am Mittwoch hielt die selbstbewusste Grüne ihre erste Rede im Bundestag: in | |
der Orientierungsdebatte zur Impfpflicht. Der dreistündige Austausch sollte | |
ein Glanzpunkt des Parlaments werden, ohne Fraktionszwang oder taktische | |
Scharmützel. Der neue liberale Bundesjustizminister Marco Buschmann befand | |
in kühnem Selbstlob, die Aussprache sei „nicht von der Logik der Macht, | |
sondern von der des Argumentes“ bestimmt gewesen. Unionsabgeordnete hackten | |
indes munter auf der Ampelregierung herum. Das ist zwar das gute Recht der | |
Opposition, wirkt angesichts der Größe der aktuellen Fragen aber | |
kleinkariert. | |
Ein Glanzpunkt hätte die Debatte tatsächlich werden können – hätten mehr | |
Abgeordnete so gesprochen wie Piechotta: frei, persönlich, ohne Stanzen. | |
Alle, sagte sie im Bundestag, seien von der Coronadebatte wundgescheuert. | |
Da applaudierte sogar der FDP-Mann Wolfgang Kubicki, der für | |
Impfbefürworter sonst nicht viel übrig hat. | |
## Manche Grüne tendieren zur „Impfpflicht light“ | |
Paula Piechotta hält die Impfpflicht für nötig – aber eine ab 18 für zu | |
riskant. Um ein Protestdesaster im staatsskeptischen Osten Deutschlands zu | |
verhindern, so die Sächsin, „müssen wir die Angriffsflächen für Widerstand | |
reduzieren“. Deshalb unterstützt die grüne Medizinerin die Impfpflicht für | |
über 50-Jährige. Der Widerstand gegen diese „Impfpflicht light“ würde | |
weniger heftig ausfallen, so ihre Hoffnung: „Die Angst vor der Impfpflicht | |
ist stark ausgeprägt bei den 30- bis 50- Jährigen. Je älter die Leute sind, | |
desto eher sind sie für die Impfpflicht.“ | |
Vor allem in der SPD halten viele die Grenze von 50 Jahren allerdings für | |
willkürlich. Auch die Liberale Strack-Zimmermann fragte, was denn „mit dem | |
45-Jährigen mit Diabetes“ sei. Doch es gibt für eine Altersgrenze durchaus | |
pragmatische Gründe. Denn damit würde zumindest das Gros der Gefährdeten | |
erfasst. Mehr als 80 Prozent der Coronapatienten in den Krankenhäusern sind | |
älter als 50 Jahre. | |
Grüne und liberale Parlamentarier:innen scheinen die offene Debatte | |
und die von Scholz verkündete Aufhebung des Fraktionszwangs jedenfalls | |
ernst zu nehmen. Bei allen drei Anträgen finden sich | |
Unterstützer:innen aus ihren beiden Fraktionen. Auch Grüne misstrauen | |
der Impfpflicht. Tabea Rößner beispielsweise, seit 13 Jahren grüne | |
Bundestagsabgeordnete, lehnt sie rigoros ab. Eine Impfpflicht werde „die | |
Spaltung der Gesellschaft verstärken“, fürchtet sie, es sei schon so viel | |
Vertrauen verspielt worden. Bei einem so weitreichenden Grundrechtseingriff | |
müsse klar sein, „wie viele Impfungen die Impfpflicht am Ende umfassen | |
wird“. Das aber könne derzeit niemand sagen – auch nicht, welche | |
Virusvarianten noch kommen könnten. Dass man sich bei Omikron „trotz | |
Impfung selbst und andere anstecken“ kann, habe viele verunsichert, sagt | |
Rößner. Jetzt werde die Impfpflicht als „Allheilmittel“ gegen die Pandemie | |
angepriesen. „Dieses Versprechen sollte man nicht machen.“ | |
Und die SPD? Für die Kanzlerpartei hat in der Orientierungsdebatte unter | |
anderem Christos Pantazis die Impfpflicht stark beworben. Pantazis, neu im | |
Bundestag, hat bis 2013 ebenfalls als Arzt gearbeitet. Er weiß von | |
medizinischen Kolleg:innen, dass notwendige Operationen etwa bei | |
Krebspatienten aufgrund der Überlastung des Gesundheitssystems verschoben | |
werden müssen. „Im operativen Bereich findet de facto eine Triage statt“, | |
sagte er der taz am Telefon. Anfangs habe er die Impfpflicht für unnötig | |
gehalten. Aber da habe man noch geglaubt, dass, „70 Prozent für die | |
Herdenimmunität reichen. Das ist durch die Delta- und Omikron-Variante | |
mittlerweile nicht mehr so.“ Um aus dem Kreislauf der Pandemie | |
auszubrechen, helfe daher nur noch eine Impfpflicht für alle. | |
## Die Sozialdemokrat:innen stehen geschlossen hinter Scholz | |
So sehen es offenbar viele in der SPD-Fraktion – gar alle? „Ich habe in der | |
Fraktion bis jetzt niemand gehört, der gegen die allgemeine Impfpflicht | |
ist“, meint Pantazis. Und tatsächlich hat kein:e Sozialdemokrat:in | |
seinen oder ihren Namen unter einen der beiden anderen Gruppenanträge | |
gesetzt. Das Gewissen der SPD-Leute im Bundestag befindet sich somit in | |
bemerkenswertem Gleichklang mit der von Scholz skizzierten Linie. Der | |
Zeitplan für das Gesetz ist und bleibt straff. Auch wenn bislang keine | |
detaillierten Anträge vorliegen, soll es schon im Februar ins Parlament | |
eingebracht werden. | |
Wie die Sache ausgeht, ist also offen. Etliche Abgeordnete in den | |
demokratischen Fraktionen halten sich mit klaren Ansagen bisher zurück, | |
schwanken noch oder wollen erst in ihren Wahlkreisen austesten, wie die | |
Impfpflicht ankommt. Zu denken geben kann den Zweifelnden eine Umfrage der | |
Universität Erfurt. [2][Zwei Drittel der Ungeimpften] wollen sich demnach | |
auf keinen Fall immunisieren lassen. Ein Worst-Case-Szenario ist daher | |
durchaus denkbar: Die Impfpflicht kommt, die Konflikte eskalieren, ohne | |
dass am Ende die Impfquote merklich ansteigt. | |
Würde der Bundestag schließlich Nein zur Impfpflicht ab 18 sagen – es wäre | |
eine Niederlage für Olaf Scholz. Die FDP-Frau Strack-Zimmermann hält das | |
für möglich. „Es wird eine knappe Entscheidung“, sagt sie. | |
28 Jan 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Coronalage-in-den-Kliniken/!5827934 | |
[2] https://projekte.uni-erfurt.de/cosmo2020/web/summary/59/ | |
## AUTOREN | |
Jasmin Kalarickal | |
Stefan Reinecke | |
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