Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Werkschau Tomi Ungerer in Hamburg: Traumata überwinden
> Seine Kinderbücher sind bevölkert von schaurigen Wesen. Doch die
> Werkschau von Tomi Ungerer in Hamburg erzählt von einem glücklichen
> Menschen.
Bild: Tomi Ungerer: With no eyes to cry with, Zeichnung für Slow Agony, 1971-…
Zu seinem 90. Geburtstag eröffnete eine Werkschau des Zeichners,
Illustrators und [1][Kinderbuchautors Tomi Ungerer (1931–2019)] in der
Sammlung Falckenberg, der im Stadtteil Harburg gelegenen Abteilung der
Hamburger Deichtorhallen. „It’s All About Freedom“ zeigt auf drei Etagen
der ehemaligen Fabrikhalle, wie sich Ungerers Freiheitsliebe in all seinen
Werken und Lebenslagen stets durchsetzte. Frei heraus zeichnete er seine
Sicht der Dinge, frei wählte er Techniken und Materialien.
Seine Skulpturen komponierte er aus Fundstücken, wie das Dreirad mit den
Sägeblatträdern, Assemblagen aus mumifizierten Tieren oder einen halbierten
Teddy, dem man in sein Innenleben schauen kann. Ein einzelnes Ölgemälde
zeigt einen Kerl im Anzug, der anstelle des Kopfes eine Bombe mit lodernder
Lunte trägt. Zusammengetragen wurden diese rund 400 Werke – unter anderem
aus dem Centre de l’Illustration Strasbourg, dazu private Leihgaben und
neue Funde aus seinem Straßburger Haus – von Ungerers Tochter Aria. Einiges
ist also bislang nicht öffentlich gezeigt worden.
Im Erdgeschoss geht es ansatzweise chronologisch mit seinen
Kinderzeichnungen los, dann kann man thematisch verwandte Cluster
betrachten und Zusammenhänge zwischen dem Erwachsenenwerk und dem Werk als
Kinderbuchautor und -illustrator erkennen. Dazu werden filmische
Dokumentationen gezeigt. Und – im obersten Stock – Arbeiten anderer
Künstler, die einen deutlichen Bezug zu seinem Werk aufweisen. Eine Fläche
im Tiefparterre steht für ergänzende Aktionen zur Ausstellung, besonders
für Kinder, bereit.
„Ohne Verzweiflung kein Humor“, wusste Ungerer. Aber auch, dass er trotz
allem eine glückliche Kindheit gehabt habe, an der deutsch-elsässischen
Grenze im Hin und Her der Besatzungsmächte. Dort wuchs der Straßburger ab
dem vierten Lebensjahr bei seiner Helikopter-Mutter auf, nachdem sein Vater
verstorben war.
## Die Einsamkeit, die erfinderisch macht
Der kleine Jean-Thomas durfte kaum raus und nicht mit den anderen Kindern
spielen, verbrachte also viel Zeit zu Hause – mit Zeichnen. Maman hob alles
auf. Unter anderen Konditionen hätte er wohl die bedeutende
Uhrmacher-Dynastie der Familie beerbt. Aber so beschäftigte sich der
Sechsjährige mit zeichnerischen Details und verarbeitete den Input im
Uhrwerk seines Gehirns zu überraschenden, oft provokanten Ergebnissen, die
er direkt durch den Stift meist auf die Rückseiten bedruckten Papiers
übertrug.
Eine frühe Kinderzeichnung ist die abgezeichnete Mickey Mouse. Im
Stil-Adaptieren war er gut, aber dabei blieb es nie. Sie ist mit kleinen
Kommentaren versehen, das macht er später immer noch. Im Stil anderer
Künstler versuchte er als Jugendlicher, den Krieg einzufangen: Soldat mit
Krücken, Frau mit Kindern.
Und gleich dahinter zeigen uns die schattenrissartigen Hüte der
[2][berühmten „Drei Räuber“ von 1961], dass doch Heiterkeit und Witz einen
bedeutenden Teil seines Seins ausmachten. Während es das Buch vom Pocket-
bis zum Makro-Format gibt, können wir hier feststellen, dass das Original
etwa DIN A4 groß ist und wie ökonomisch der Meister mit Material umging:
Die große schwarze Fläche besteht aus aufgeklebten Tonpapier, gemalt hat er
nur den Teil, in dem etwas „passiert“.
## Der Pastor und seine „Schäfchen“
Es folgen Aufgaben aus seiner Studienzeit: lustige Physiker, Brause-Werbung
mit weißer Katze, früh Satirisches, im Stil fast wie Saul Steinberg,
inhaltlich aktuell geblieben: Pastor sitzt zwischen Kindern auf einer Bank,
seine Hände ruhen im Schoß der „Schäfchen“. Auch sind einige sehr
ausgemalte Sexbomben zu sehen, doch im Hintergrund tummeln sich die
typischen witzigen Figuren.
Eine unbekannte Serie schildert die Abenteuer einiger Animierdamen an einem
Straßencafé. In den 1960er Jahren begann Ungerers Erfolg, unter anderem in
New York. Viel Spaß macht der entlarvende Blick auf die Gesellschaft, in
die seine erste New Yorker Frau ihn brachte. „The Party“ von 1966 stellt
erkennbare Individuen der damaligen High Society, etwa Rockefeller, von
ihrer abgründigen Seite dar. Ihm, dem Star, gewährten der Artdirector von
Sports Illustrated oder der Times die Freiheit, die eigentlichen Absichten
der Werbung umzukehren, die Kehrseite der schönen Oberfläche zu zeigen.
Noch böser sind Zeichnungen aus den 1970er und 80er Jahren, in denen er
kranke gesellschaftliche Zustände überspitzt. Das Wahre, aber Hässliche,
der Sex und der Tod sind seine Themen. Entweder in provozierender
Übertreibung oder ruhig dokumentiert, wie in Skizzen zu „Schutzengel der
Hölle“, seiner Sadomaso-Dokumentation aus der Hamburger Herbertstraße, oder
über das Leben auf seiner Farm: Tiere schlachten, tote Tiere.
## Düster rotzige Collagen
Ein Raum der Ruhe ist den großen Porträts von Häusern der Serie „Slow
Agony“ vorbehalten, die in seiner ehemaligen Nachbarschaft in Nova Scotia
verfielen. Schöne Tristesse in sanften Farben.
Nach drei Schlaganfällen in Folge konnte er eine Weile nicht mehr zeichnen,
so nutze er die Technik der Collage, zu sehen in düster-rotzigen Werken.
Ende der 90er ging es wieder, wir sehen seine Arbeit am Kinderbuch „Otto“,
in dem er Eindrücke der Nazizeit aufarbeitet. Nie schien er dem Leben
auszuweichen, sondern setzte sich mit dem auseinander, womit es ihn
konfrontierte. „Don’t hope, cope!“ war einer seiner Leitsprüche. Er, der
„den Krieg aus der Nähe“ gesehen hatte, war dennoch ein glücklicher Mensc…
Seine Kinderbücher sind zwar durchsetzt von drastischen Situationen und
bevölkert von schaurigen Wesen, was ihm sowohl Konflikte wie auch
Anerkennung eintrug. Seine Absicht war es aber, den Kindern zu zeigen, dass
sie Traumata überwinden können.
Vielleicht könnte man ihn als produktiven Querdenker bezeichnen, wäre das
Wort nicht in den letzten beiden Jahren so unrettbar verhunzt worden. Ein
Freigeist war er allemal.
18 Jan 2022
## LINKS
[1] /Nachruf-auf-Tomi-Ungerer/!5571761
[2] /Archiv-Suche/!213831&s=Tomi+Ungerer+Drei+R%C3%A4uber&SuchRahmen=Pr…
## AUTOREN
Imke Staats
## TAGS
Tomi Ungerer
Werkschau
Deichtorhallen Hamburg
Kinderbuch
Satire
Schwerpunkt Stadtland
Autobiographischer Comic
Künstler
Kunstausstellung
## ARTIKEL ZUM THEMA
Buchhändlerin über Kinderliteratur: „Braucht es immer ein Buch?“
Mariela Nagle hat seit 15 Jahren eine Buchhandlung für Kinderliteratur in
Berlin. Mit ihrem Laden Mundo Azul kämpft sie für mehr Vielfalt und
Unberechenbarkeit.
Gezeichnete Autobiografie: Mangaboheme und Dämonen
Shigeru Mizuki macht im dritten Band seiner gezeichneten Autobiografie
seinen großen Appetit zum selbstironischen Leitmotiv.
Zeichner über das Nachtleben: Was zwischen den Händen zerrinnt
Wo seine Sprache endet, beginnt Felix Scheinberger das Zeichnen. Wie Tomi
Ungerer hält er mit seiner künstlerischen Arbeit die Körper der Nacht fest.
Kunstausstellung „Incognito“ in Essen: Papierschnipsel und Strandgut
Das Essener Museum Folkwang zeigt den Teil von Tomi Ungerers Werk, der kaum
wahrgenommen wird: die pseudonaiven Collagen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.