# taz.de -- Kunstausstellung „Incognito“ in Essen: Papierschnipsel und Stra… | |
> Das Essener Museum Folkwang zeigt den Teil von Tomi Ungerers Werk, der | |
> kaum wahrgenommen wird: die pseudonaiven Collagen. | |
Bild: Bis dass der Tod uns scheide: Tomi Ungerers Collage „Til Death do us pa… | |
Ein alter Mann, Besucher im Essener Museum Folkwang, lacht. Er steht vor | |
einem Poster mit dem Cartoon eines nackten Paares. Der Penis des Mannes auf | |
dem Poster ist zu einem Kabel verlängert, an seinem Ende ist ein | |
Stromstecker, der direkt in die Köpfe des Paares gestöpselt wird. | |
1969 hat Tomi Ungerer dieses Poster für den Konzertclub „Electric Circus“ | |
im East Village in New York gezeichnet. 1956 war der Illustrator mit 60 | |
Dollar in der Tasche aus dem Elsass in den Big Apple gekommen. Es war die | |
Hochphase der Magazin-Illustration und Ungerers Arbeiten erschienen im | |
Esquire, in der New York Times und der Village Voice, damals Zentralorgan | |
der New Yorker Counterculture. | |
Ein kleiner Teil der Zeichnungen aus dieser Zeit ist jetzt im Museum | |
Folkwang zu sehen. „Incognito“ heißt die Ausstellung, die bis zum 16. Mai | |
zu sehen ist und größtenteils unveröffentlichte Arbeiten des heute | |
84-Jährigen zeigt und letztes Jahr bereits im Kunsthaus Zürich zu sehen | |
war. Im Mittelpunkt steht ein Teil seines Werks, der kaum in der | |
Öffentlichkeit wahrgenommen wird: seine Collagen, die er seit den 1950ern | |
bis heute produziert. | |
Ungerer arbeitet häufig mit konventionellem Material: Fotos aus | |
Werbebroschüren und Tageszeitungen, Papierschnipseln und angespültem | |
Strandgut. Besonders gelungen sind diese Collagen, wenn er mit einfachen | |
Formen spielt. Seine Tiercollagen bestehen aus Blättern oder Farn, der zu | |
einem Teil der Tiersilhouette wird. Immer wieder zeigt sich dabei Ungerers | |
pseudonaiver Humor, der sich mal in einem Wortwitz, mal in einer | |
Anzüglichkeit zeigt und dabei Phänomene wie Verlangen und Fetisch auf den | |
Punkt bringt. | |
## Teddys Eingeweide | |
Eine Skulptur von 2012 zeigt einen kleinen Jack-Russell-Terrier, dem | |
anstelle der Vorderpfoten zwei Arme einer Puppe aus Ungerers | |
Barbie-Sammlung angesetzt wurden, die er in Richtung der Betrachter | |
ausstreckt. Ein anderes Exponat zeigt den Teddybären aus seinem Kinderbuch | |
„Otto“. Darin erzählt das Stofftier die Geschichte zweier Nachbarjungen, | |
die von der Schoah und dem Zweiten Weltkrieg zu Waisen gemacht wurden. | |
Ungerer karikiert seine eigene Anthropomorphisierung eines Stofftiers mit | |
einer Teddy-Skulptur, die beim Aufklappen die Anatomie eines Bären | |
inklusive Verdauungstrakt zeigt – und schon ist es vorbei mit dem | |
knuddeligen Erklärbären. | |
Hier offenbart sich aber auch ein Widerspruch, der „Incognito“ durchzieht: | |
Ungerers Collagen sind Teil seines Schaffens, der kaum ohne Verweise auf | |
das Gesamtwerk verständlich ist. Nicht umsonst sind die am stärksten | |
frequentierten Orte der Ausstellung die Leseinsel (mit ausgewählten Bänden | |
Ungerers) und der Raum, in dem der Dokumentarfilm „Far out is not far | |
enough“ über Ungerers Leben gezeigt wird. | |
„Der weibliche Körper ist für mich der schönste Körper überhaupt“, sagt | |
Ungerer in diesem Film und erzählt dann, wie ihn seine erotischen | |
Zeichnungen um eine Karriere in den puritanischen USA gebracht haben. | |
Ungerers Bücher gehörten ab Mitte der 1960er zur Standardausstattung eines | |
aufgeklärten Kinderzimmers. Noch heute kennen fast alle Kinder sein | |
antiautoritäres Buch „Die drei Räuber“, in dem das Waisenkind Tiffany eine | |
Räuberbande zu Sozialisten macht, die mit ihrer Beute eine ganze Stadt für | |
Waisenkinder bauen. | |
## Erotica? Geht gar nicht! | |
Kurz darauf veröffentlichte Ungerer im Selbstverlag den Band „Fornicon“, | |
ein Phantasma von Apparaten, die der sexuellen Befriedigung dienen. Für die | |
Verleger in den USA war dies zu viel: Sie weigerten sich in der Folgezeit, | |
seine Bücher zu verlegen. Ein Kinderbuchautor dürfe nicht zusätzlich | |
Erotica zeichnen. | |
Es hilft, sich Ungerers Lebensgeschichte, seine Begegnungen mit der | |
Counterculture und der BDSM-Szene ins Gedächtnis zu rufen, wenn man durch | |
die Essener Ausstellung streift, um sie nicht zu gering zu schätzen. Viele | |
seiner Collagen, etwa die Frau, die in der Reihe „Waiting for Godot“ im | |
Scheinwerferkegel eines Autos ihren Slip zerreißt, wirken heute wie ein | |
Altherrenwitz und nicht wie ein Zeichen der sexuellen Libertinage, die | |
Ungerer in den 1960ern in seinen Zeichnungen dokumentierte. Auch sein | |
Anti-Vietnam-Plakat, auf dem eine Freiheitsstatue in den Mund eines | |
Vietnamesen gestopft wird, wäre heute eher Material für Montagsmahnwachen | |
als für eine aufgeklärt-pazifistische Linke. | |
Ungerer selbst nimmt solche Zuschreibungen an sein Werk mit seinem | |
typischen Humor. Gleich an den Beginn der Ausstellung hat er eine Collage | |
gesetzt. Sie zeigt einen Menschen mit Anzug und Gehstock. Sein Kopf besteht | |
aus der Nahaufnahme einer faltigen Hand, die zu einer hohlen Faust geballt | |
ist. Ihr Titel lautet L‘Onaniste 90 ans“ – der 90 Jahre alte Onanist. Es | |
ist ein Selbstporträt des Künstlers als alter Mann. | |
4 Apr 2016 | |
## AUTOREN | |
Christian Werthschulte | |
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