# taz.de -- Zeichner über das Nachtleben: Was zwischen den Händen zerrinnt | |
> Wo seine Sprache endet, beginnt Felix Scheinberger das Zeichnen. Wie Tomi | |
> Ungerer hält er mit seiner künstlerischen Arbeit die Körper der Nacht | |
> fest. | |
Bild: „Kinder der Nacht“, ein Bild von Felix Scheinberger | |
Ein Bilderbuch voller nackter und halb bekleideter Körper, Maskierte, | |
Pelzige und andere. Gezeichnet mit schnellem Tuschestrich und mit Flecken | |
von Aquarellfarbe versehen. Viel Rot auf Nippeln, Lippen, Haaren, Nasen und | |
als Hand auf dem Po. Küssen und Sex, aber für Porno nicht monofokussiert | |
genug. Die Figuren sind keineswegs idealisiert, manche haben eine schlechte | |
Haltung oder einen Speckbauch. Dann und wann ein atemberaubender Blick auf | |
Dächer – von Rio bis Berlin. | |
Text gibt’s auch: etwa das Intro eines New Yorker Kollegen. Und Kommentare, | |
notiert im Moment der Skizzierung. Namen fallen – ob sie stimmen? „Kinder | |
der Nacht“ ist schließlich „geheimes Skizzenbuch“: Eine Sammlung von | |
Impressionen, die Felix Scheinberger während jahrelanger nächtlicher | |
Streifzüge durch Klubs und Partys eingefangen hat. Aus Freude an Zeichnen, | |
Hedonismus und Humor. | |
Und in alter Tradition: Tomi Ungerer hielt in den 1970er Jahren | |
Prostituierte in der Hamburger Herbertstraße zeichnerisch fest, | |
„Schutzengel der Hölle“. Scheinberger, der bei Tag Studierende lehrt, zeigt | |
eine Welt, die fast zwei Jahre fehlte. | |
taz: Herr Scheinberger, warum zeichnen Sie auf Partys? | |
Felix Scheinberger: Es macht mir Spaß. Die Bilder sind nicht für das Buch | |
entstanden, sondern weil ich beim Ausgehen nachts in Berlin gern ein | |
Skizzenbuch dabei habe. Ich gehe mit Freunden aus, wenn ich Lust habe, | |
zeichne ich etwas. | |
Wann haben Sie damit begonnen? | |
Anfang der Neunziger habe ich mit Skizzenbüchern begonnen. In Clubs zeichne | |
ich seit circa 2011, besonders seit ich durch Wassertankpinsel unterwegs | |
mit Farben arbeiten kann. | |
Wer sind Ihre Vorbilder? | |
Ich liebe die Zeichnungen des Elsässers Tomi Ungerer, seine frühen | |
Reportagen aus dem New York der 1960er. | |
Wie beschreiben Sie Ihren eigenen Stil? | |
Mein Stil kommt von selbst, ohne dass ich es merke. Vom Ausprobieren, und | |
das hat mit Inhalt zu tun. Ich glaube, es ist eine Mischung aus | |
Inspiration, Technik und neuen Kombinationen. | |
Wen oder was zeichnen Sie, was nicht? | |
Skizzen zeigen Momente. Ich muss etwas interessant finden, was eine | |
Komposition rechtfertigt. Zeichnungen sind keine reinen Abbildungen. Ich | |
krieche immer ein Stück weit mit ins Bild. | |
Welche Klubs und Partys bevorzugen Sie? | |
In Berlin vor allem das Kitti (Kit-Kat-Klub), das Berghain und private | |
Partys. | |
Wodurch wurde Ihre Idee ausgelöst? | |
Ich zeichne fast überall. Meistens en passant und nicht für das Buch. Nach | |
und nach habe ich festgestellt, wie spannend das Sujet ist, und dann habe | |
ich die Idee zu dem Buch entwickelt. | |
Fehlte Ihnen etwas beim Partymachen? | |
Alles, was wir erleben, dauert nur einen Moment, der für immer | |
verschwindet. Das treibt mich als Künstler um. Die Kunst ist mein Versuch, | |
festzuhalten, was mir zwischen den Händen zerrinnt. | |
Welcher Aspekt ist Ihnen der wichtigste beim Zeichnen von Nachteulen? | |
Zeichnungen priorisieren. Und sie erzählen Geschichten anders als Fotos. | |
Ein solches Thema würde auf Fotos schnell pornografisch, voyeuristisch | |
wirken. Zeichnungen wahren die Würde der Protagonisten. Mein Medium lotet | |
das richtige Maß zwischen Nähe und Distanz aus. | |
Wie bereiten Sie solche Nächte vor … und nach? | |
Ich male nur vor Ort. Ich korrigiere nicht. Auch Farben lege ich gleich an. | |
Aus Faulheit – und um das Authentische zu wahren.Im Studio kann man klarer | |
und perfekter arbeiten, aber es ist dann eine Inszenierung und keine | |
Dokumentation. Vielleicht Qualität versus Magie. | |
Wie reagieren Gezeichnete? | |
Zeichnen dauert, und Menschen bemerken meist, wenn man sie anschaut. Fast | |
alle „Gezeichneten“ haben positiv reagiert. Leute merken, wenn man | |
wirkliches Interesse zeigt. | |
Sind Sie allein unterwegs? | |
Zeichnende KollegInnen sehe ich eher selten, das Sujet ist ja etwas | |
speziell und es ist für Fremde nicht so leicht, in die Clubs zu kommen und | |
beim Zeichnen akzeptiert zu werden. Solche Dokumentationen haben Tradition, | |
wie Grosz und Toulouse-Lautrec etwa. | |
Woher kommt Ihr Impuls? | |
Ich schaffe Bilder da, wo ich mit Worten nicht weiterkomme. Ich zeichne, | |
damit ich sehe, was ich denke und damit andere spüren, was Sprache | |
vielleicht nicht ausreichend formulieren kann. | |
Was macht Ihnen Spaß? | |
Kein weisungsbefugter Auftragsmaler für die Ideen anderer Leute zu sein, | |
sondern sie von A bis Z selbst durchzuführen. Das wird seltener in der | |
Welt. | |
Wird Corona das Nachtleben stark verändern? | |
Wenn Berlin glaubt, auf Clubs verzichten zu können, weil Touristen wegen | |
des Brandenburger Tors kämen, verliert es etwas, das die Stadt freier und | |
offener gemacht hat. Die Nächte in den Clubs bedeuteten mir Freiheit, | |
künstlerisch und persönlich, zu sein, wie man ist oder sein wollte. | |
23 Jun 2021 | |
## AUTOREN | |
Imke Staats | |
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