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# taz.de -- Brückenenergie und Erderwärmung: Tabuthema Atomkraft
> Die Klimakrise ist eine Überlebensfrage für die Menschheit. Dennoch
> werden kaum Kohlekraftwerke abgeschaltet.
Bild: Seit Jahresende nicht mehr in Betrieb: das AKW Brokdorf
Robert Habeck geht mit dem sympathischen Grundsatz durchs Leben, dass auch
andere recht haben könnten, dass die Dinge auch anders sein könnten. Die
Ideen der politischen Konkurrenz könnten vielleicht sogar überzeugender
sein, ihre Forderungen sinnvoller. Wenn diese Sicht des Wirtschafts- und
Klimaschutzministers auf die Politik auch für die Wirklichkeit gilt, dann
wäre angesichts der bedrohlichen Erderwärmung und der aktuellen Diskussion
über die Energiewende zu fragen:
Was wäre, wenn die anderen, die Atomkraftbefürworter*innen, recht hätten?
Wenn die Bedeutung der AKWs und die Gefahr, die von ihnen ausgeht, in
Zeiten des Klimawandels, der großen Überlebensfrage für die Menschheit, neu
bewertet werden müssen? Die Frage ist ein großes Tabu. Niemand stellt sie,
nicht einmal die Union. Bei Habecks Pressekonferenz diese Woche zur
Klimabilanz (verheerend) meldeten sich rund zwei Dutzend
Journalist*innen zu Wort.
Ob die derzeitige Linie zur Energiewende richtig ist, war dabei kein Thema.
Deutschland nimmt AKWs vom Netz und lässt stattdessen die
[1][Kohlekraftwerke] weiterlaufen. Erst zum Jahreswechsel wurden die
Kernkraftwerke [2][Brokdorf, Grohnde und Gundremmingen C] abgeschaltet, die
drei letzten folgen Ende 2022. Neue Gaskraftwerke als Backup für
Erneuerbare sollen sogar noch gebaut werden, was allein schon wegen des
[3][Gaslieferanten Wladimir Putin] höchst problematisch ist.
Wenn die Erderwärmung die größte politische Krise unserer Zeit ist, von
deren Lösung das Überleben der Menschheit abhängt, wie kann es dann sein,
dass die extrem klimaschädlichen Kohlekraftwerke nicht zuerst abgeschaltet
werden? Wie kann es sein, dass Gaskraftwerke ganz selbstverständlich
eingeplant sind, weil man sie eben „braucht“? Ein kleiner Zahlenvergleich:
## Fast das 10fache an CO2-Emissionen
Bei der Braunkohle betragen die [4][CO2-Emissionen pro Kilowattstunde 1.034
Gramm, bei Gas sind es 442 Gramm und bei Atomstrom 117 (Uranabbau, der Bau
usw. eingerechnet).] Am effektivsten sind erwartungsgemäß die Erneuerbaren.
Doch wer die Klimabilanz von Habeck diese Woche gehört hat, der weiß, dass
es nahezu unmöglich ist, in den kommenden zwei Legislaturperioden ihren
Anteil zu verdoppeln, um auf dem 1,5-Grad-Pfad zu bleiben.
Habeck kann noch so viel in seiner Lieblingsrolle als Draußenminister
durchs Land reisen und mit Menschen sprechen, es wird nicht reichen. Denn
auch wenn es zeitnah gelingt, Genehmigungsverfahren zu verkürzen, wird es
nach gültiger Rechtslage immer noch eine gewisse Zeit dauern, bis Anlagen
genehmigt und gebaut sind. Von der Materialbeschaffung und dem Mangel an
Fachkräften in diesem Bereich mal ganz zu schweigen.
Hinzu kommt, dass der Strombedarf von Industrie und Verkehr nach allen
Prognosen in den kommenden Jahren enorm steigen wird. Natürlich ist die
Kritik der Atomkraftgegner*innen an der geplanten EU-Einstufung von
AKWs als „grüne“ und „nachhaltige“ Brückentechnologie berechtigt. Es …
viel zu lange, neue Kraftwerke zu bauen und in Betrieb zu nehmen, um den
Klimawandel in der entscheidenden Phase bis zum Kipppunkt noch positiv zu
beeinflussen.
Wohin mit dem Atommüll ist bis zum heutigen Tage nicht geklärt. Die neuen
Reaktortypen der vierten Generation – Thorium-Reaktor, Laufwellen-Reaktor
und ähnliche –, die sicherer sein und teils ohne radioaktiven Abfall
auskommen sollen, sind bestenfalls in der Erprobung. Atomstrom ist allein
schon wegen der teuren Sicherheitsvorkehrungen und den Folgekosten
unwirtschaftlich. Investitionen in Atomstrom könnten den Erneuerbaren das
nötige Geld für den Ausbau entziehen. Nukleare Störfälle sind gefährlich.
## Umweltorganisationen denken um
Ein GAU kann ganze Landstriche unbewohnbar machen. Doch wie viele
Landstriche werden aufgrund des Klimawandels unbewohnbar werden? Wie viele
Menschen werden in Zukunft sterben, wenn Städte verschwinden, Hitzewellen
und Fluten Landwirtschaft vielerorts unmöglich machen? Denn schließlich ist
die Erderwärmung nicht mehr aufzuhalten, es geht es jetzt nur noch darum,
sie einzudämmen. Und bei allen Gefahren, die mit der Atomkraft verbunden
sind:
Beim Reaktorunglück von Fukushima starb unmittelbar ein Mensch. Einer!
Langfristig hat sich nach Schätzungen die [5][Krebsrate erhöht] und sind
vermehrt Suizide aufgetreten. An den [6][Folgen des Klimawandels sind laut
Weltgesundheitsorganisation (WHO) bereits Zehntausende gestorben].
Nasa-Forscher haben errechnet, dass die [7][Atomkraftwerke in den
vergangenen Jahrzehnten den Tod von 1,84] Millionen Menschen verhindert
haben, die sonst an den Folgen des Kohlestaubs oder bei Grubenunglücken
gestorben wären.
Wir müssen reden. Wenn der Weltklimarat Atomkraft als Teil der Lösung
ansieht und die [8][finnischen Grünen ihre Haltung zu AKWs revidiert]
haben, dann sollte es auch in Deutschland möglich sein, Atomkraft nicht
länger als Tabu zu betrachten. Es geht ja hierzulande nicht um den Bau
neuer Kraftwerke oder irgendeine andere Art von nuklearer Renaissance.
Doch die Klimakiller Kohlekraftwerke weiterlaufen zu lassen, während AKWs
abgeschaltet werden, ergibt einfach keinen Sinn. Man würde sich ja auch
nicht den Fuß eingipsen, wenn der Arm gebrochen ist. Nur weil wir schon
immer gegen Atomkraft waren, wir jahrelang dagegen demonstriert und uns
Wasserwerfern entgegengestellt haben, sind bisherige Positionen nicht
sakrosankt.
Die Bedrohung durch die Klimakrise verlangt uns einiges ab, womöglich auch
die Aufgabe liebgewonnener Positionen. Angesichts der Erderhitzung kann
nichts mehr tabu sein, wir können uns keine ideologische Verbohrtheit
leisten. Deutschland wird dieses und wohl auch nächstes Jahr die Klimaziele
nicht erreichen. Deshalb ist Pragmatismus gefragt, und pragmatisch wäre es,
die ohnehin vorhandenen AKWs ein paar Jahre länger laufen zu lassen, um
Zeit zu gewinnen.
Dieser Kommentar ist Teil einer breiteren Diskussion zu Klimawandel und
Atomkraft. Alle Texte finden Sie [9][hier].
13 Jan 2022
## LINKS
[1] /CO2-Emissionen-bei-Stromproduktion/!5790393
[2] /Drei-AKWs-zu-Silvester-abgeschaltet/!5821221
[3] /Trotz-Nawalny-und-Klimakrise/!5711258
[4] https://www.umweltbundesamt.de/presse/pressemitteilungen/bilanz-2019-co2-em…
[5] http://zardoz.nilu.no/~nikolaos/3.List.of.pubs/Evangeliou_STOTEN_2014.pdf
[6] https://www.who.int/publications/i/item/9789240038509
[7] https://blogs.scientificamerican.com/the-curious-wavefunction/nuclear-power…
[8] https://www.welt.de/politik/ausland/plus236118176/Gruene-in-Finnland-Natuer…
[9] /Debattenreihe-Atomkraft/!t5832255
## AUTOREN
Silke Mertins
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