Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Debatte über die Energiepolitik: Mut zum Befreiungsschlag
> Kernkraftwerke sind Marathonläufer, Erneuerbare Energien Sprinter. Eine
> kluge Klimastrategie setzt auf beide. Der Anti-AKW-Katechismus hat
> ausgedient.
Bild: Die deutsche Kerntechnik war nie gefährlich: das AKW Lingen im Emsland
Mit dem [1][Debattenbeitrag von Silke Mertins] ist die Klima- und
Atomdebatte nun auch in der taz angekommen, und sie hat recht: Wir müssen
reden. Hätte Deutschland ab dem Jahr 2000 die erneuerbaren Energien
ausgebaut und gleichzeitig Kohle- statt Kernkraftwerke vom Netz genommen,
stünde unser Land bei den CO2-Emissionen heute da, wo die Bundesregierung
2030 sein will.
Die Jahresstromproduktion der drei letzten Kernkraftwerke Emsland,
Neckarwestheim-2 und Isar-2 beträgt über 34 Milliarden Kilowattstunden.
Würde man Kohlestrom ([2][820 g CO2/kWh) dieser Menge durch Atomstrom (12 g
CO2/kWh)] ersetzen, ergäbe sich eine rund [3][zehnmal größere
CO2-Einsparung als durch ein Tempolimit 120,] für das die Fridays for
Future-Bewegung trommelt.
Technisch ist eine Laufzeitverlängerung möglich. Dass die AKW-Betreiber nun
nicht mehr wollen, ist wenig verwunderlich: Industrie folgt Politik. Es ist
die Politik, die solche Entscheidungen per Klimanotstandsverordnung
durchsetzen müsste. Es wäre ein Befreiungsschlag für den vergrämt wirkenden
Robert Habeck, sich vors Volk zu stellen und zu sagen: Tempolimit,
Inlandsflugverbot und Laufzeitverlängerung. Wir verlangen nicht nur euch
das Äußerste ab, sondern auch uns selbst. Wir verabschieden uns von unserer
Anti-Atom-Identität, um das Klima zu retten.
Doch der Mut fehlt allenthalben, und die Koalitionsraison lässt keinen
radikalen Klimaschutz zu. Die bemühten Versuche, den Geist der Rede über
die Atomkraft wieder in die Flasche zu kriegen, klingen wie auswendig
gelernt. Lassen wir mal die Framings [4][des grünen BASE-Präsidenten
Wolfram König beiseite, der die Atomkraft geschickt mit „verdächtiger“
Presse und AfD assoziiert]. Was wir hören, ist eine Art Katechismus, dessen
Glaubenssätze lauten: Atomkraft ist gefährlich, Atomkraft ist teuer,
Atomkraft ist zu langsam, um noch Einfluss auf den Klimawandel zu nehmen.
Obendrauf die guten alten Erzählungen aus der Frühzeit der Debatte: Sonne
und Wind, sie schickten keine Rechnung.
Auch die Erde schickt uns übrigens keine Rechnung für das Uran, das sie uns
schenkt. Die Rechnungen kommen vom Bergwerk, von der
Urananreicherungsanlage und vom Reaktorbauer. Doch nicht anders ist es bei
den Erneuerbaren: Hier steigen gerade die Rechnungen für den gigantischen
Rohstoffbedarf dieser Energie-Ernte-Maschinen, der natürlich auch aus den
Bergwerken kommt. Hier muss für Landflächen bezahlt werden und vor allem
für den Schatten-Gaskraftwerkspark und die Speicher, die einspringen, wenn
Sonnen- und Windkraftwerke nicht verfügbar sind.
Während sich Deutsche in den letzten Tagen trefflich über ausgefallene
französische AKWs erregten, merkten sie gar nicht, dass ihre eigene
Windkraft und Photovoltaik über Tage hinweg wetterbedingt bis zu 90 Prozent
vom Netz waren. Dann übernehmen die Fossilen – und das ist die Lebenslüge
der deutschen Energiewende.
Die deutsche Kerntechnik war nie gefährlich – es gibt kaum eine deutsche
Industrie mit einer ähnlich geringen Umweltschadens- und Opferbilanz. Weder
Fukushima noch Tschernobyl waren auf die deutschen Anlagen und ihr robustes
Sicherheitskonzept übertragbar. Das bestätigte der Bundeskanzlerin Angela
Merkel 2011 auch ihre eigene Reaktorsicherheitskommission. Follow the
science? Nicht hier.
Atommüll ist nicht eine Million Jahre lang monströs gefährlich. [5][Nach
500 Jahren Lagerzeit ist die intensive Gammastrahlung seiner schnell
zerfallenden Bestandteile auf eine Dosisrate gesunken, welche für die
Biosphäre kein signifikantes Risiko mehr darstellt]. Es gibt einen hohen
Forschungskonsens über die Art und Weise einer guten tiefengeologischen
Langzeitlagerung, kein Anlass also, das Atommüllproblem zu überhöhen. Es
müssen auch nicht Hunderttausende Jahre lang Wachleute um dieses Lager
patrouillieren, wie immer wieder suggeriert wird. Im Gegenteil: [6][Nach
Verschluss des Lagerbergwerks gibt es ein Recht auf Vergessen, die
Geostrukturen übernehmen die Wächterfunktion].
Ganz anders [7][die Kohle, die der öko-konservative Solarprediger Franz Alt
als kleineres Übel abtut]. Hier wird in der Atmosphäre endgelagert. Schaut
man sich, ganz abgesehen von der Klimafrage, die Gesundheitsfolgen von
Kohleverstromung und die Opferbilanz der montanen Arbeitswelt an, so ist
der [8][Killer Nummer eins die Kohle – Hunderte Tschernobyls jedes Jahr].
Und natürlich wusste man das, als man begann, sie sich zur harmloseren
Alternative schönzureden. Nun rückt das Erdgas in die Funktionsstelle des
kleineren Übels ein.
[9][Kernkraftwerke sind nicht teurer als Erneuerbare, wenn man sie in Serie
baut und ihnen eine sorgfältige Detailplanung angedeihen lässt] – beides
war im Falle der beiden Longbuilds in Flamanville und Olkiluoto nicht der
Fall, wohl aber bei den deutschen Konvoi-Anlagen, deren
[10][Stromentstehungskosten auf Höhe der Windkraft liegen]. Betrachtet man
die Systemkosten und die Anlagenlebensdauern von Erneuerbaren, so
[11][schmilzt ihr scheinbarer Kostenvorteil dahin].
Kernkraftwerke sind teuer im Bau und bei den Kapitalkosten – aber wenn sie
am Netz sind, sorgen sie 60 Jahre für gesicherte Leistung, und sie tun das
mit Blick auf Klima, Naturschutz und Biodiversität minimalinvasiv. AKWs zu
planen und zu bauen dauert nicht länger, als ein Erneuerbaren-System auf
nettonull zu bringen, das man ja erst mal mit Wasserstoff von seinem
fossilen Ballast befreien muss.
Kernkraftwerke sind Marathonläufer, Erneuerbare Sprinter. Eine kluge
Klimastrategie würde auf beide setzen, statt Nullsummenspiele zu spielen
und Gazprom-Gas zu verbrennen. [12][Der „material footprint“ einer
nuklear-erneuerbaren Strategie liegt weit unter dem einer
Nur-EE-Strategie]. Der Anti-AKW-Katechismus hat ausgedient, und in Europa
weiß man das längst. Wollte Luisa Neubauer wirklich einen spektakulären
klimapolitischen Move, dann müsste sie sich mit Greta Thunberg vor dem AKW
Isar 2 anketten und für seine Laufzeitverlängerung streiken.
Dieser Kommentar ist Teil einer breiteren Diskussion zu Klimawandel und
Atomkraft. Alle Texte finden Sie [13][hier].
25 Jan 2022
## LINKS
[1] /Brueckenenergie-und-Erderwaermung/!5825281
[2] https://www.ipcc.ch/site/assets/uploads/2018/02/ipcc_wg3_ar5_annex-iii.pdf
[3] https://www.energy-charts.info/charts/energy_pie/chart.htm?l=de&c=DE&am…
[4] https://www.base.bund.de/SharedDocs/Interviews/BfE/DE/2022-01-18-taz-koenig…
[5] https://www.lehmanns.de/shop/technik/57799611-9783754615492-atommuell-ungel…
[6] https://ec.europa.eu/info/sites/default/files/business_economy_euro/banking…
[7] /Brueckenenergie-und-Erneuerbare/!5827280
[8] https://ourworldindata.org/safest-sources-of-energy
[9] https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0301421516300106
[10] https://www.iea.org/reports/projected-costs-of-generating-electricity-2020
[11] https://www.oecd.org/publications/the-costs-of-decarbonisation-97892643121…
[12] https://energy.glex.no/footprint
[13] /Debattenreihe-Atomkraft/!t5832255
## AUTOREN
Veronika Wendland
## TAGS
Schwerpunkt Atomkraft
Braunkohle
Schwerpunkt Klimawandel
Gas
EU-Taxonomie
AKW-Rückbau
Niedersachsen
Schwerpunkt Atomkraft
Gas
Schwerpunkt Atomkraft
Schwerpunkt Atomkraft
Robert Habeck
IG
## ARTIKEL ZUM THEMA
Wirtschaft fordert Windkraft-Ausbau: Die neue Liebe zum Windrad
In Niedersachsen trommeln jetzt viele für einen schnelleren und leichteren
Ausbau der Windkraft. Doch der Naturschutzbund hält dagegen.
Brückentechnologie und Erderwärmung: Klimawandel überfordert Atomkraft
Atomenergie rettet das Klima nicht, denn AKWs kommen selbst mit hohen
Temperaturen nicht klar. Nicht zufällig ist sie bei Atomwaffenstaaten
beliebt.
Gasversorgung in Europa: Vorbereitungen für den Worst Case
In Washington und Brüssel macht man sich mehr Sorgen um die Gasversorgung
aus Russland als in Deutschland. Aber was genau soll passieren?
Streit um EU-Taxonomie: Europäische Zerreißprobe
Deutschland lehnt den EU-Vorschlag zur Taxonomie endgültig ab. Es drohen
Greenwashing im Finanzsektor – und aussichtsreiche Klagen.
Brückenenergie und Erneuerbare: Einfach nur Glück gehabt
Die Erderwärmung ist eine Gefahr für unser Überleben – die atomare
Vernichtung nicht weniger. Lieber gleich komplett umsteigen, als auf AKWs
setzen.
Die Energiewende voranbringen: Die Mühlen der Ebene
Klima- und Umweltminister Robert Habeck hat seine Pläne vorgestellt. Was es
bedeutet, wenn die Ampel ernst macht mit der Energiewende.
Brückenenergie und Erderwärmung: Tabuthema Atomkraft
Die Klimakrise ist eine Überlebensfrage für die Menschheit. Dennoch werden
kaum Kohlekraftwerke abgeschaltet.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.