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# taz.de -- Architekturmuseum TU München: Die Abschaffung der Obdachlosigkeit
> Die Ausstellung „Who’s next?“ im Architekturmuseum München in der
> Pinakothek der Moderne beschäftigt sich mit Obdachlosigkeit in der Stadt.
Bild: Erstes befristet genehmigtes Zeltlager für Obdachlose, Fulton Street, Sa…
Eine in ihrer Einfachheit geradezu beschämende Rechnung, die das
Architekturmodell der sozialen Initiative Plaza Apartments in San Francisco
flankiert, geht so: 8.500 Dollar jährlich kostet die Unterbringung einer
Person in einer der kleinen Wohnungen; die von der Gesellschaft
aufzubringenden Kosten für ihre über die Maßen prekäre Existenz auf der
Straße belaufen sich auf das Zehnfache.
Um [1][Obdachlosigkeit also, dieses sich global ständig ausweitende
Phänomen], geht es in einem mit internationaler Beteiligung angelegten
Projekt des Architekturmuseums der Technischen Universität München. Der
Fokus ist – naturgemäß – auf die Auswirkungen, Bedingungen und sich
anbietende Lösungen im urbanen Raum gerichtet.
Die sehenswerte, von einem instruktiven Katalog mit aspektreichen Essays
begleitete Ausstellung „Who’s next? Obdachlosigkeit, Architektur und Stadt�…
stellt zunächst streng faktenbasiert und bar jeder Sozialromantik, dafür
umso eindringlicher die gesellschaftlich, juristisch, geopolitisch und
klimaabhängig extrem unterschiedliche Situation in acht außereuropäischen
Großstädten dar, bevor sie sich bereits bestehenden beziehungsweise
geplanten architektonischen, auch europäischen Projekten zuwendet.
## EU Resolution zur Obdachlosigkeit
Das EU-Parlament hat vor einem Jahr eine Resolution verabschiedet, der
zufolge bis 2030 die Obdachlosigkeit in der EU abgeschafft werden soll. Ein
hehres Ziel, das längst schon durch [2][die Charta der Vereinten Nationen
postuliert] ist, die „jedem Menschen das Recht auf einen angemessenen
Lebensstandard für sich und seine Familie, einschließlich Nahrung,
Bekleidung und Wohnung“ zuschreibt.
Diese Übereinkunft, diesen Gesellschaftsvertrag zu erfüllen wird zunehmend
schwieriger, wenn nicht unmöglicher. Vor allem in Asien und Afrika
explodieren die Einwohnerzahlen der Megacitys.
[3][Housing First i]st gemäß einem in den achtziger Jahren ins Leben
gerufenen, freilich auch von Rückschlägen betroffenen Konzept in den
Vereinigten Staaten derzeit fast allerorten die Devise. Denn
Obdachlosigkeit meint nicht nur ein Leben auf der Straße, sondern, was
vielfach übersehen wird, auch ein Leben in Notunterkünften.
## Weitab von einem wohlfeilen Helfersyndrom
Im Vergleich der Metropolen macht die Präsentation deutlich, dass weder
über einen Kamm geschoren werden kann, noch Standardlösungen per se Abhilfe
schaffen können. Allein schon die Gründe für die Obdachlosigkeit sind
weitgehend abhängig von regionalen Gegebenheiten und Entwicklungen. Der
Blick der Architekten nimmt das für die Ausstellung, weitab von einem
wohlfeilen Helfersyndrom, nüchtern und mit schockierendem Befund
anschaulich ins Visier.
In Moskau, erfährt der Besucher, gab es unter kommunistischem Regime keine
Obdachlosigkeit, das war ein Ausfluss kapitalistischer Dekadenz. Damals und
heute wurde und wird sie schlicht ignoriert, ist natürlich in großer Zahl
zu beklagen und traditionell seit eh und je auf private Initiativen
angewiesen, die versuchen den Kältetod der auf den Straßen Lebenden zu
verhindern.
Ganz anders in Los Angeles, der „Hauptstadt der Obdachlosigkeit“. Hitze,
Feuer, Wassermangel sind dort die Ursache für Leid und Tod. Hier wirft die
allgegenwärtige Segregation ein gleißendes Licht auf die gesellschaftlichen
Verwerfungen und ihre lebensbedrohlichen, zutiefst inhumanen Folgen.
## Allerorten steigen die Zahlen
Allerorten aber steigen die Zahlen rasant an. Für São Paulo gilt zwischen
2000 und 2019 ein Anstieg um das Dreifache. In einem Moloch mit geschätzt
12,5 Millionen Einwohnern gedeiht alles nur Vorstellbare – unermesslicher
Reichtum und Kriminalität, Parallelgesellschaften in riesigen Favelas, dazu
circa 25.000 (de facto weit mehr) Obdachlose.
Verstehen, Kritik und Erstellung von Wohnbaukonzepten sind in Brasilien
integraler Teil der Architektenausbildung, trotzdem muss, wie es in einem
Katalogbeitrag heißt, „eine Wohnungspolitik, die einfach nur Wohnungen
bereitstellt und die Architektur damit zu einer heroischen Geste macht, die
allein tiefgreifende gesellschaftliche Probleme bewältigt“, unverzüglich
„Wohnungsbauprogramme aufgreifen, die Segregation und sozioökonomische
Verwundbarkeit angehen und zu einem fachübergreifenden Ansatz beitragen“.
Die landläufige Meinung die den Obdachlosen grundsätzlich
Disziplinlosigkeit, Sucht und persönliches Versagen zuschreibt, wird sich
wohl, so auch der Tenor der Ausstellung, nicht so schnell entkräften
lassen. Richtig ist aber auch, dass diese Menschen, wie Soziologen und
Sozialarbeiter bestätigen, erst durch Instabilität und Schutzlosigkeit
krank, vor allem psychisch krank werden.
## Punkveteranen, die den Absprung versäumt haben
Und wahr ist auch, dass so manche obdachlose Person (der Frauenanteil ist
insgesamt geringer, doch sind sie die Vulnerableren auf der Straße) nicht
mehr in sogenannt geordnete Verhältnisse zurückkehren will, zumal diese es
oft nur vermeintlich sind. Sie fühlen sich frei, wiewohl nur vogelfrei und
meist rigoros exponiert; sie scheren sich nicht um Akzeptanz und Regeln,
leben ihre Straßenanarchie (manche sind tatsächlich Punkveteranen, die den
Absprung nicht mehr geschafft haben), wollen nicht gegängelt werden.
In ihrer zweiten Abteilung präsentiert die Münchner Ausstellung dann eine
Reihe von hervorragenden Wohnmodellen, abgeschlossenen und geplanten.
[4][Darunter das Wiener VinziRast,] das in einem vorbildlich renovierten
Biedermeierwohnhaus inmitten der Stadt kleine Wohnungen zur gemischten
Nutzung für Studenten und Wohnungslose installiert hat.
Aber auch Großprojekte wie The Brook in der Bronx, wo 190
Einzimmerapartments, Gemeinschaftsräume und Werkstätten Unterschlupf
bieten. Die Tendenz zur Gettobildung lässt sich bei solchen groß angelegten
Maßnahmen allerdings nicht von der Hand weisen.
## Kein sentimentales Rührstück
Es sind sämtlich anspruchsvolle, gut durchdachte, auch anregende Entwürfe,
mal inmitten, mal am Rand der Stadt. Natürlich benötigen Wohnsituationen
mit derart verstörten Personen ein hohes Maß an Betreuung, wenn sie
erfolgreich zu einer Wiedereingliederung führen sollen. Viele von ihnen
sind ohnehin nur auf eine begrenzte Verweildauer ausgelegt. Tatsächlich
gelingt es, wie eine Studie belegt, etwa bis zu siebzig Prozent der
Bewohner, wieder Fuß zu fassen.
Ein steiler, ein anstrengender, von Rückschlägen gezeichneter Weg für
sämtliche Beteiligte. Und ganz sicher kein sentimentales Rührstück mit
lieben Esoterikern und gemütlichen Aussteigern, die, wenn das Geld mal
richtig ausgeht, ein bisschen Unterschlupf beim weltweit anerkannten
Sozialkonzern Amazon finden, wie das in dem Poverty Porn „Nomadland“ so
anheimelnd beschrieben wird.
Sicher, etliche haben sich in ihrer Schutz- und Heimatlosigkeit ganz gut
eingerichtet. Doch das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie in
unserer grandios, doch sehr fragil angelegten Gesellschaftsstruktur keinen
menschenwürdigen Platz mehr finden. Es sollte uns humanitäre Pflicht und
Ehre zugleich sein, sie zu schützen. Ideen gibt es, Geld sowieso.
10 Dec 2021
## LINKS
[1] /Gefluechtete-in-Libyen/!5805521
[2] https://unric.org/de/charta/
[3] /Revolution-der-Wohnungslosenhilfe/!5805697
[4] https://www.vinzirast.at/
## AUTOREN
Annegret Erhard
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