# taz.de -- Ausstellung zum Thema Wohnungslosigkeit: „Viel Zeit mit den Unbeh… | |
> Mit der Schere zwischen Arm und Reich beschäftigt sich Jana Sophia Nolle. | |
> Sie stellt im Haus am Kleistpark inszenierten Fotografien aus. | |
Bild: Wohnzimmer im Wohnzimmer, Aussschnitt aus „#1_Living Room, 2020/2021“… | |
Die Künstlerin Jana Sophia Nolle baut die Behausungen von Obdachlosen in | |
den Wohnzimmern wohlhabender Menschen nach und fotografiert sie. Sie begann | |
das Projekt 2017 in San Francisco und hat es in Berlin fortgesetzt. Ein | |
Buch ist entstanden und ihre Fotografien sind im Haus am Kleistpark zu | |
sehen. | |
taz: Frau Nolle, Ihre Fotografien folgen einem festen Schema: In der Mitte | |
eines repräsentativen Raumes steht eine improvisierte und selbst gebaute | |
Unterkunft. Was bedeutet „Wohnzimmer“ für die Menschen, die Sie im Laufe | |
des Projekts getroffen haben? | |
Jana Sophia Nolle: Das Wohnzimmer ist ein Rückzugsort, wo wir sein können, | |
wie wir sind. Es ist aber auch ein Raum, in dem wir Gäste empfangen und | |
gesellig sind. Die doppelte Bedeutung von „Living Room“ als „Wohnzimmer“ | |
und „Lebensraum“ trifft besonders auf obdachlose Menschen zu, deren | |
Behausung Schlaf- und Wohnraum zugleich ist. Uns allen gemeinsam ist, dass | |
wir diesen Raum gestalten. Wenn man [1][Obdachlose] sieht, denkt man | |
vielleicht, ihre Unterkunft sei willkürlich. Meine Erfahrung ist eine | |
andere. Unser aller Bedürfnis, sich von den Blicken der anderen | |
zurückzuziehen oder vor Geräuschen zu schützen, lässt sich auf der Straße | |
nicht umsetzen. Es gibt dort keine Privatsphäre. | |
Sie adressieren mit Ihrer Arbeit gesellschaftspolitische Probleme wie | |
Ausgrenzung, Ungleichheit, Wohnungsnot und Gentrifizierung. Was kann Kunst | |
hier leisten? | |
Gegenüber den teilnehmenden Personen ist es mir wichtig, transparent zu | |
sein, damit alle um die Grenzen des Projekts wissen. Kunst kann die | |
Ursachen dieser Probleme nicht lösen und ich kann das Leben der Individuen | |
nicht ändern. Ich kann aber Themen wie Wohnungslosigkeit eine Plattform | |
geben. Ich bin davon überzeugt, dass Künstler:innen, Gruppen und | |
Institutionen, die sich mit sozialpolitischen Themen beschäftigen, in der | |
Summe eine Kraft hervorbringen können, durch die ein Dialog entstehen kann. | |
Wir sind durch die Medien täglich mit erschreckenden Nachrichten und der | |
immer größer werdenden Schere zwischen Arm und Reich konfrontiert. Das kann | |
zu einer Realität werden, die die Armut um uns herum in gewisser Weise | |
unsichtbar macht. Ich glaube, Kunst kann auf eine andere Art bewegen, den | |
Alltag unterbrechen und die Menschen auf einer unterbewussten Ebene | |
erreichen. | |
„Living Room“ ist eine Typologie von temporären Behausungen, die ein | |
genaues Hinschauen ermöglicht, wo wir sonst oft wegschauen. Den Fotografien | |
voraus geht ein performativer Akt, in dem Sie das Szenario für das | |
eigentliche Bild erst herstellen. Warum haben Sie sich gegen einen | |
dokumentarischen Ansatz entschieden? | |
Ich interessiere mich für die Verschachtelung von Realitäten, die so nicht | |
zusammenkommen, aber ganz nah beieinander sind. Für meine eigenen | |
Recherchen habe ich auch dokumentarisch fotografiert. In meinem Buch gibt | |
es ein Kapitel mit Porträts und Abbildungen der Originalunterkünfte. Das | |
ist für mich die Vorarbeit zur eigentlich konzeptuellen Arbeit. Ganz | |
zentral ist der performative Akt, wenn ich mich als eine Mittlerin vom | |
öffentlichen in den privaten Raum bewege und mich die Wohlhabenden in ihre | |
Häuser lassen – und mit mir die Materialien, die Armut repräsentieren. Es | |
geht nicht nur um ein Foto, es geht um mehr. | |
Ihr Projekt basiert auf Kooperation und Partizipation. Die Menschen teilen | |
ihr Wissen, wählen Requisiten aus, gewähren Zugang, vermitteln Sie weiter. | |
Wie haben Sie die Personen für Ihr Projekt gewinnen können? | |
Die Wohnzimmer zu finden war das schwierigste, es gibt nichts Privateres | |
als den Wohnraum. Es hat Jahre gedauert und bedeutet, Beziehungen | |
aufzubauen. Viele der teilnehmenden Personen sind an Kunst interessiert, | |
möchten Teil einer künstlerischen Arbeit sein oder haben ein ausgeprägtes | |
Interesse an gesellschaftlichen Themen. Oft ist es die Neugier oder das | |
soziale Engagement, das mir die Türen öffnet. Mit dem Lockdown hat das | |
Wohnzimmer als virenfreier Raum eine weitere Bedeutung bekommen. Das hat es | |
mir sehr erschwert. Für mich ist die Arbeit in Berlin nicht abgeschlossen. | |
Ich suche noch nach Wohnzimmern. | |
Sie rekonstruieren die temporären Bauten hinsichtlich Material und Machart | |
mit viel Sorgfalt. Wie gehen Sie dabei vor und wie reagieren die | |
involvierten Personen auf Ihre Initiative? | |
Ich verbringe sehr viel Zeit mit den Unbehausten, um Vertrauen aufzubauen | |
und von ihnen zu lernen. Manche waren über mein Interesse an ihrer | |
Unterkunft irritiert, haben dann aber Skizzen und Materiallisten erstellt. | |
Anschließend habe ich diese Dinge, wie die meisten Obdachlosen auch, auf | |
der Straße gesucht. Einige spezielle Sachen konnte ich nur Dank ihrer Hilfe | |
finden, andere habe ich mit ihnen getauscht. Einige der Obdachlosen haben | |
erzählt, dass sie unter der Situation leiden, nicht wahrgenommen zu werden. | |
Sie verbinden mit dem Projekt den Wunsch, dass man auch sie und ihr | |
Bedürfnis nach einem Schutzort sieht. | |
Das Projekt begann 2017 in San Francisco, eine Stadt mit der weltweit | |
höchsten Millionärsdichte, aber auch viel Obdachlosigkeit. Nun arbeiten Sie | |
an der Fortsetzung in Berlin. Wie unterscheiden sich die Städte in ihrem | |
Umgang mit Armut und Reichtum? | |
In San Francisco sind Armut als auch Reichtum extrem und auch extrem | |
sichtbar. Die wohlhabenden liberalen Menschen, die ich in Kalifornien | |
kennengelernt habe, gehen selbstbewusst mit ihrem Reichtum um. In Berlin | |
hingegen gibt es eine gewisse Scham, denn Wohlstand ist immer mit der Frage | |
verbunden, woher das Geld kommt. Im Silicon Valley sind viele durch den | |
Tech Boom zu Geld gekommen. Dieser Reichtum wird mit Arbeit assoziiert und | |
die Leute sind offener als jene, die reich geerbt haben. Ich habe das | |
Gefühl, in Deutschland hält man sich eher bedeckt. Die Menschen hier | |
rechtfertigen oder erklären sich, warum sie reicher sind als andere. Es | |
gibt eine gewisse Angst vor der Öffentlichkeit. | |
Neben Ihrer Ausbildung an der Ostkreuzschule für Fotografie haben Sie | |
Politikwissenschaft studiert. Außerdem sind Sie als Wahlbeobachterin tätig | |
und haben in Nepal, Myanmar, Weißrussland, Albanien und der Ukraine | |
gearbeitet. Wie beeinflussen diese Erfahrungen ihre künstlerische | |
Herangehensweise? | |
Als Wahlbeobachterin spreche ich mit der ganzen Bandbreite von | |
Akteur:innen, die in politische Prozesse eingebunden sind: Personen in | |
politischen Ämtern, Zivilbevölkerung oder auch bewaffnete Gruppen in | |
Konfliktgebieten. Ich muss in der Lage sein, alle Menschen gleich zu | |
behandeln. Diesen Grundsatz habe ich auch bei „Living Room“ verfolgt. Ich | |
habe keinerlei Berührungsängste, aber immer den Anspruch, allen gleich zu | |
begegnen und nicht zu bewerten, wie sie leben. | |
28 Aug 2021 | |
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[1] /Obdachlose-in-Hamburg/!5788349 | |
## AUTOREN | |
Maxie Fischer | |
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