# taz.de -- Annalena Baerbock auf Antrittstour: Praxistest in Polen | |
> Annalena Baerbock beendet in Warschau ihre erste Reise als | |
> Außenministerin. Sie trifft Mitglieder von NGOs genauso wie den | |
> Amtskollegen Zbigniew Rau. | |
Bild: Schwungvolles Ankommen: Annalena Baerbock trifft in Warschau ein | |
WARSCHAU taz | Annalena Baerbock lauscht am Freitagmittag einem Referat. | |
Die neue Außenministerin hat in Warschau gerade ihren polnischem | |
Amtskollegen zu einem Vier-Augen-Gespräch getroffen, jetzt steht sie bei | |
der gemeinsamen Pressekonferenz mit ihm im Foyer seines Amtssitz und hört | |
zu. In zwanzig Minuten ist so was normalerweise durch, die Zeitpläne sind | |
schließlich eng. Zbigniew Rau braucht nun aber schon für sein | |
Eingangsstatement länger als eine Viertelstunde. | |
Es ist eine Einführung in Vergangenheit und Gegenwart der | |
polnisch-deutschen Beziehungen, wozu man ja tatsächlich eine ganze Menge | |
sagen kann. Es geht – und diese Aufzählung ist nicht abschließend – um | |
militärische Abschreckung der Gegner Europas, den Zustand der EU, die | |
Bedrohung der Polen [1][durch Nord Stream 2], einen Besuch von Joschka | |
Fischer vor 17 Jahren, den sowjetischen Überfall im Zweiten Weltkrieg, den | |
deutschen Überfall im Zweiten Weltkrieg, den Raub polnischer Kulturgüter | |
und die aus polnischer Sicht noch immer ausstehenden Reparationen. | |
„In diesem Zusammenhang sind immer noch viele Fragen ungeklärt“, sagt Rau. | |
„Das ist ein Bereich, in dem wir von der Bundesregierung die Breitschaft zu | |
einer konkreten Zusammenarbeit erwarten.“ | |
Relevante Themen, keine Frage. Und doch läuft Baerbock jetzt langsam die | |
Zeit davon. Das Treffen war ohnehin schon mit Verspätung gestartet, und vor | |
dem Abflug in zwei Stunden hat sie eigentlich noch andere Termine geplant. | |
Am dritten Tag im Amt ist das hier Baerbocks erster heikler Besuch. Am | |
Donnerstag [2][startete ihre Antrittsreise mit Stationen in Paris] und | |
Brüssel. Natürlich gab es auch dort in Fachfragen den ein oder anderen | |
Konfliktpunkt, im Vergleich zu Warschau waren die Termine aber nur ein | |
Warmlaufen. Im Verhältnis zu Polen stellt sich eher die Frage, in welchen | |
Belangen es keinen gravierenden Dissens gibt. Eine lange Liste mit | |
Kritikpunkten hat schließlich nicht nur Zbigniew Rau, sondern auch die | |
deutsche Seite. | |
## Kein „beredtes Schweigen“ | |
Vor [3][der Grenze zu Belarus sterben noch immer Menschen], keine 200 | |
Kilometer von Warschau entfernt. Die polnische Regierung hält an ihrer | |
Justizreform fest, mit der sie gegen alle EU-Grundsätze die Gerichte unter | |
ihre Kontrolle gebracht hat. Vertreter der PiS-Partei begleiteten den Start | |
der deutschen Ampelkoalition mit der Behauptung, diese wolle in Europa ein | |
„Viertes Reich“ errichten. Auch das ist nur ein kurzer Auszug aus der | |
Liste. | |
Somit ist Baerbocks Besuch in Warschau ihr erster Praxistest[4][. Im | |
taz-Interview hatte die Grünen-Chefin vergangene Woche angekündigt], als | |
Außenministerin Konflikte nicht „schönreden oder totschweigen“ zu wollen. | |
Anders als in den letzten Jahren habe „beredtes Schweigen“ in der deutschen | |
Diplomatie keinen Platz mehr. Hält sie diese Ankündigung an diesem Freitag | |
ein? | |
Mit ihrem Reiseprogramm hat Baerbock zumindest schon vorab ein kleines | |
Zeichen gesetzt. Vier Stunden hat sie in Warschau Aufenthalt, dabei sind | |
fünf Stationen geplant, darunter ein nicht-öffentliches Gespräch mit | |
Organisationen, die sich für die Rechte der Flüchtlinge an Polens Ostgrenze | |
einsetzen, und eines mit Marcin Wiącek, dem Ombudsmann für Bürgerrechte. Er | |
hat eines der wenigen Staatsämter inne, die noch nicht unter der Kontrolle | |
der PiS sind. Bei der Besetzung entscheiden beide Kammern des Parlaments, | |
deshalb konnte die Opposition mitsprechen. | |
## Im Amt angekommen | |
Das Wort in der Pressekonferenz hat nun Baerbock. Sie ist freundlich im | |
Ton, unterstreicht die guten Beziehungen, lässt die klassischen | |
diplomatischen Sätze fallen. Sie sagt aber auch: „Wir müssen sicherstellen | |
angesichts der eisigen Temperaturen im Grenzgebiet, dass humanitäre Hilfe | |
zur Verfügung steht und zwar auf beiden Seiten.“ Internationale | |
Verpflichtungen gälten für alle. „Dafür müssen wir gemeinsam Verantwortung | |
tragen.“ | |
Klar, früher klang das bei ihr schärfer. In den vergangenen Jahren wählte | |
Baerbock noch deutlichere Worte. Vor anderthalb Jahren hielt sie im | |
Bundestag eine Rede, als an einer EU-Außengrenze schon einmal europäisches | |
Recht gebrochen wurde – damals auf den griechischen Inseln. „Das ist ein | |
massiver Verstoß gegen Grundrechte. Das ist beschämend“, sagte sie damals. | |
Von der Bundesregierung erwarte sie, dass sie das auch klar ausspricht. | |
Noch im Bundestagswahlkampf forderte Baerbock, dass die EU ihren neuen | |
Rechtsstaatsmechanismus „sofort umsetzt“, sprich: als Strafe für | |
Rechtsbrüche Geldflüsse nach Polen und Ungarn stoppt. In Warschau | |
formuliert sie jetzt vorsichtiger, dass die Ampel in ihrem | |
Koalitionsvertrag die „Unterstützung für alle Instrumente unterstreicht“, | |
die Rechtsstaatlichkeit sicherstellen. | |
Baerbock hat nun mal die Rollen gewechselt. In der Opposition kann man auf | |
die Kacke hauen, man muss es manchmal sogar, um Abends zehn Sekunden in der | |
„Tagesschau“ zu bekommen. In der Regierung sieht es ein bisschen anders | |
aus. | |
Baerbock muss mit ihren neuen Verhandlungspartnern auf polnischer Seite | |
voraussichtlich ein paar Jahre zurechtkommen. Da könnte es ihr lieber sein, | |
in Rechtsstaatsfragen doch noch einen Kompromiss hinzubekommen, mit dem | |
alle Seiten ihr Gesicht wahren. | |
## Mittelweg gesucht | |
Allerdings birgt ein Regierungseintritt auch das Risiko, sich von den | |
vermeintlichen Zwängen des neuen Amtes überwältigen zu lassen und die | |
Vorsätze vor lauter Pragmatismus zu vergessen. Ob Baerbock dazwischen einen | |
Mittelweg findet und wie der aussieht, das wird für die nächsten Monate die | |
spannende Frage. | |
Von Zbigniew Rau auf jeden Fall verabschiedet sich Annalena Baerbock erst | |
mal freundlich. „Ich glaube daran, dass wir als Europäer gemeinsam Lösungen | |
finden“, sagt sie, als ein Journalist noch mal zur Rechtsstaatsfrage | |
nachhakt. Dann geht es mit Verspätung weiter. | |
Nun aber fehlt die Zeit, alle Gespräche wie geplant durchzuführen. Aber die | |
deutsche Botschaft hat improvisiert: Zum kurzen Gespräch mit dem Ombudsmann | |
für Bürgerrechte kommen die Vertreter*innen der | |
Flüchtlingsorganisationen einfach hinzu. Der Abflug klappt pünktlich. | |
10 Dec 2021 | |
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## AUTOREN | |
Tobias Schulze | |
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