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# taz.de -- Angriff vor Querdenkerdemo in Stuttgart: „Das waren doch nur Nazi…
> Am Mittwoch fällt das Urteil gegen zwei Männer, die vermeintliche Rechte
> überfallen haben sollen. Linke wie Rechte machten aus dem Prozess eine
> Show.
Bild: April 2021: Protest vor dem Gerichtsgebäude in Stuttgart-Stammheim
Stuttgart taz | Am 20. Prozesstag erhebt Joel P., 21, zum ersten Mal seine
Stimme. Den ganzen Prozess über hatte der Angeklagte geschwiegen. Aber P.
nutzt das Schlusswort nicht, um sich zu entlasten, Schuld einzugestehen
oder sich zu entschuldigen. Er verliest einen Text, der den brutalen
Angriff auf drei rechte Gewerkschafter, wegen dem P. vor Gericht steht, mit
den „mindestens 187 Todesopfern“ rechter Gewalt seit den 80er Jahren zu
rechtfertigen versucht. Er nennt den Staat und seine Institutionen das
„politische Werkzeug der Kapitalistenklasse“ und fordert uneingeschränkte
Solidarität „unabhängig vom Tatvorwurf“. Im Zuschauerraum beginnt seine
Schwester zu schluchzen.
Die Rechtfertigungsmuster des 21-jährigen P. erinnern an die RAF-Prozesse,
die gleich nebenan im historischen Gerichtssaal von Stammheim vor über 40
Jahren geführt wurden. Aber P.s Pamphlet, das nicht im Sinne seines Anwalts
sein kann, erreicht höchstens seine Unterstützer vor dem hermetisch
gesicherten Gerichtssaal. Die versuchen seit Wochen für ihn und den
mitangeklagten Diyar A., 26, eine ähnliche Solidaritätsaktion zu
organisieren, wie sie bei dem Leipziger Prozess gegen die mutmaßliche
Linksextremistin Lina E. rollt.
Auch die Stuttgarter Antifa hat [1][zu Beginn des Prozesses] einen
Solidaritätstext ins Netz gestellt, die den Angriff auf Rechte am Rand
einer Querdenkerdemo eine „handfeste antifaschistische Intervention“ nennt.
Eine Verharmlosung.
Am 16. Mai 2020 überfällt eine Antifa-Gruppe von mindestens 20 Jugendlichen
eine Handvoll Mitglieder des Vereins Zentrum Automobil. Der Verein,
gegründet von Oliver Hilburger, früher Mitglied der Neonazi-Band „Noie
Werte“, [2][sieht sich selbst als Gewerkschaft], seine Vertreter sitzen im
Betriebsrat von Daimler. Auch andere führende Köpfe von Zentrum Automobil
haben klare Verbindungen in die rechtsextreme Szene, allerdings nicht alle.
Die Männer wollen an diesem Tag an einer Querdenkerdemonstration auf dem
Cannstatter Wasen teilnehmen. Offenbar sind sie auf Attacken vorbereitet.
Eines der späteren Opfer trägt Protektoren. Auch mindestens ein Schlagring,
der später gefunden wird, kann anhand von DNA-Spuren den Rechten zugeordnet
werden.
## Kognitive Einschränkungen bis ans Lebensende
Doch die plötzliche Attacke trifft die Rechten unvorbereitet. Wie Zeugen
vor Gericht berichten, ist der Antifatrupp zahlenmäßig überlegen und mit
Reizgas und Flaschen bewaffnet. Sie greifen gezielt und ohne Vorwarnung an.
Den Zentrumsleuten bleibt nur die Flucht. Drei von ihnen werden von den
Antifas gestellt und zusammengeschlagen. Am schwersten trifft es Andreas
Z., 65. Er wird von den Angreifern noch getreten, als er schon am Boden
liegt. Z. muss im Krankenhaus wochenlang in ein künstliches Koma versetzt
werden.
Unbeteiligte Zeugen zeigen sich vor Gericht schockiert von der Brutalität
des Angriffs. Die Täter hätten sie zu beschwichtigen versucht: „Beruhigt
Euch, das waren doch nur Nazis“.
Für die Nebenklage könnte es leicht sein in diesem Prozess. Rechte, die
sich sonst so gern als Opfer inszenieren, sind es in diesem Fall
tatsächlich. Ihre Verletzungen sind weitgehend unstrittig. Einer der
Männer, die als Nebenkläger auftreten, wird leicht verletzt, einer ist auf
einem Auge fast blind und Andreas Z., der Hauptgeschädigte, lebt wohl den
Rest seiner Tage mit kognitiven Einschränkungen. Es gibt kaum einen
Zweifel, dass ihnen erhebliches Schmerzensgeld zugesprochen wird.
Doch dem Nebenklagevertreter von Andreas Z., dem Freiburger Anwalt Dubravko
Mandic, genügt das nicht. Der gescheiterte AfD-Politiker, der selbst wegen
gefährlicher Körperverletzung und Nötigung verurteilt ist, will den Prozess
nutzen, um die ganz große Verschwörungserzählung in Umlauf zu bringen. Die
Antifa als die Prügeltruppe der IG Metall, die die missliebige rechte
Konkurrenz vom Zentrum Automobil klein halten soll. Das will Mandic mit
Beweisanträgen enthüllen. Das Gericht lässt sich nicht darauf ein.
## Die Mandic-Show
Mandic hält die Kammer von Richter Johannes Steinbach und auch die
Staatsanwältin Silke Bosch für befangen, sie wollten die linken
Zusammenhänge verdecken. Er verschleppt den Prozess mit fast
hundertseitigen Beweisanträgen, die er verliest. Fast am Ende des Prozesses
behauptet er plötzlich, dass ihm die vollständige Einsicht in die
Gerichtsakten verwehrt werde. Als die Kammer ihm nachweist, dass er selbst
aus der Akte, die ihm angeblich fehlt, bereits zitiert hat, ist Mandic das
erste Mal sprachlos.
Die Mandic-Show lenkt von der eigentlichen Frage ab: Waren tatsächlich
Diyar A. und Joel P. unter den Tätern? Zeugen vom Tatort können nicht
weiterhelfen, die Täter waren alle schwarz angezogen und vermummt. Diyar
A., dem das brutalere Vorgehen vorgeworfen wird, belastet ein Haarfund an
einer Tierabwehrpistole, die er wie eine Schlagwaffe eingesetzt haben soll.
Auch die Aussage eines V-Manns aus der linken Szene belastet A. Dieser
Zeuge tritt allerdings nicht selbst vor Gericht auf, seine Aussage wird von
einem Kriminalbeamten vorgetragen. Woher der V-Mann wissen könnte, dass A.
an dem Angriff beteiligt war, kann er nicht sagen. Der Informant sei aber
sehr zuverlässig, versichert der Beamte. An sichergestellten Handschuhen
von Joel P. werden DNA-Spuren von seinem mutmaßlichen Opfer Andreas Z.
gefunden.
Die Verteidiger von P. und A. versuchen in ihren Plädoyers, die Beweise zu
erschüttern. Sie kritisieren auch den Umgang der Polizei mit Beweismitteln,
die auch zur Verunreinigung der DNA-Proben geführt haben könnten. Die
Verteidigung fordert einen Freispruch.
Der Staatsanwaltschaft genügen die Indizien. Sie fordert am letzten
Prozesstag fünf Jahre Haft für P. und sechs Jahre für A. wegen gefährlicher
Körperverletzung und schweren Landfriedensbruchs. Den Vorwurf des
Totschlags lässt Anklägerin Silke Busch dagegen fallen, ein Tötungsvorsatz
sei nach der Verhandlung nicht nachzuweisen. Am Mittwoch fällt das Urteil.
13 Oct 2021
## LINKS
[1] /Nach-Angriff-auf-Rechte-in-Stuttgart/!5762708
[2] /Kandidaturen-zur-Betriebsratswahl/!5488487
## AUTOREN
Benno Stieber
## TAGS
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