# taz.de -- Ode an Prenzlauer Berg: Kein schwäbisches Dorf | |
> Ist Prenzlauer Berg ein arrivierter, langweiliger Biedermeierkiez? Ist | |
> er. Trotzdem ist er schön und liebenswert. | |
Bild: Prenzlauer-Berg-Siesta: „Restbestände der einstigen Rotzigkeit“ | |
Wann habe ich zum letzten Mal einen Schwabenwitz gehört? Keine Ahnung. Seit | |
wann mir im Bioladen dieses „2 Dinkelweckle bitte“ so locker über die | |
Lippen geht wie einst „2 Schrippen“, habe ich auch vergessen. Und noch nie | |
war ich in meinem Kiez in einem [1][schwäbischen Restaurant] – es gibt | |
nämlich keins. Was sagt das alles aus über einen Bezirk, der im Verruf | |
steht, ein schwäbisches Dorf zu sein? | |
In Prenzlauer Berg (es heißt „in“ und nicht „im“ oder – noch schlimm… | |
„auf“ dem Prenzlauer Berg) lauert man diesem [2][beeindruckenden | |
schwäbischen Gesabbel] heute meist vergeblich auf, mittlerweile hört man | |
auf der Straße vor allem Englisch, Spanisch und Russisch. Diese | |
Internationalität und Vielfalt gehört zur Lebensqualität im Kiez. Jaja, | |
raunen jetzt sicher die Bescheidwisser:innen: Wieder nur diese elitäre | |
weiße Oberschicht, die sich einbildet, hip zu sein. Wohnen kann zwischen | |
Kollwitz- und Helmholtzplatz doch ohnehin nur, wer eine Eigentumswohnung | |
oder ein saumäßig gutes Einkommen hat. | |
Stimmt. Die Zahl an People of Color ist übersichtlich. Und ja, stimmt auch, | |
das viel beschriebene und noch öfter geschmähte | |
Bionade-Biedermeier-Wohlbehagen ist teuer erkauft. Hier wohnt man | |
tatsächlich vor allem im Eigentum (in der Regel gekauft vom Geld der | |
Eltern) oder zur Miete mit unverschämter Miete. Oder aber – das gibt es | |
eben auch noch – in einer Genossenschaft (ohne Fluktuation), in schönstem | |
Altbau und günstigem Altmietvertrag (auch keine Fluktuation) oder im Haus | |
eines sozialen Vermieters (Fluktuation? Was ist das?). | |
Ich gehöre zu den wenigen mit dem großen Glück der drei letztgenannten | |
Optionen. Und weiß es mehr als zu schätzen. Denn ich kenne auch die andere | |
Seite. Die der Verdrängung, der Wut auf [3][Dachgeschossausbau, | |
Mietsteigerung, Klagen auf Eigenbedarf.] Bislang wurde ich aus jeder meiner | |
Wohnungen rausgentrifiziert, jedem Umzug waren schwindelerregende | |
Mietsteigerungen vorausgegangen. Der Rest – Mietermobbing, hektische | |
Wohnungssuche, Leben auf Baustellen – soll hier unerzählt bleiben. | |
Vegane Restaurants und Rock ’n’ Roll nebeneinander | |
Und trotzdem – Achtung, ab hier wirds pathetisch – liebe ich diesen Kiez. | |
Ich wohne hier nicht nur, ich lebe hier. Und das schon mein Leben lang. Ich | |
wurde hier geboren. Ich habe hier den Großteil meiner Kindheit verbracht. | |
Ich habe hier in den 80er Jahren eine Wohnung besetzt (das ging in der DDR, | |
war nur gefährlicher als zur selben Zeit in Kreuzberg). Hier wurde nach der | |
Wende meine Tochter geboren, hier wurde sie groß. | |
Dieser Kiez ist mein Zuhause – wieder Triggerwarnung: noch mehr Pathos – | |
und meine Heimat. Wenn man so eng wie ich mit Prenzlauer Berg verbunden | |
ist, kennt man hier nicht nur alle veganen Restaurants und chinesischen | |
Kitas, jede Hebammenpraxis und jeden Yogaladen. Sondern eben auch jene | |
Ecken, die die Moderne noch nicht um die Ecke gebracht hat. Die nach wie | |
vor so Rock ’n’ Roll sind wie das, wofür Prenzlauer Berg einst stand. | |
Es gibt sie nämlich noch, die [4][Menschen, die dieses hippe | |
Schickimickitum unbeeindruckt lässt]: die Sozialarbeiterin, die in ihrer | |
Wohnung ein Ganzkörperenthaarungsstudio für Transsexuelle betreibt. Die | |
Männer-WG, die jeden Abend gemeinsam kocht und die Nachbarn zum Essen | |
einlädt. Den älteren Herrn, der jeden Morgen auf demselben Treppenabsatz | |
sitzt und Kaffee trinkt. Den Mann mit Tourettesyndrom, der flucht, was das | |
Zeug hält, sobald er auf die Straße tritt. Man kennt ihn hier, man | |
respektiert ihn. | |
Prenzlauer Berg, das darf an dieser Stelle ganz untheatralisch | |
diagnostiziert werden, mag zwar eine arrivierte Spießerhölle sein (von mir | |
aus), aber eben mit [5][Restbeständen der einstigen Rotzigkeit.] Und mit | |
einer Lebensqualität, die weiß Gott nicht jeder Kiez mit weitaus weniger | |
Bürgerlichkeit und Beschaulichkeit zu bieten hat. Egal, wo man auf die | |
Straße tritt und nach links oder rechts geht, es ist alles da, was den | |
Alltag leicht und beschwingt macht: Kinos, Restaurants, Cafés, Bioläden, | |
türkische Gemüsehändler, Spätkioske, Bäcker. Sport- und Nagelstudios, | |
Massagesalons, Tischtennisplatten, ein Stadion. | |
Ein Angebot an Zuverlässigkeiten | |
Nicht dass ich alles regelmäßig nutze, und schon gar nicht täglich, doch es | |
ist ein Angebot an Zuverlässigkeiten, die ich nicht missen möchte. Ich wage | |
zu behaupten, meine Mitmenschen auch nicht. | |
Vor ein paar Jahren pendelte ich mehrfach in der Woche in eine Ecke der | |
Stadt, von der damals behauptet wurde, sie sei „viel cooler“ und „viel | |
hipper“ als mein „schwäbisches Dorf“. Der Kiez käme nämlich gänzlich … | |
dieses arrivierte Großbürgerliche aus. Was soll ich sagen? Ich habe mich | |
noch nie so unlebendig gefühlt wie dort. Kurz nach sechs Uhr am Abend | |
huschten höchstens ein paar alte Damen mit frisch frisierten Pudeln um die | |
Ecke, die nächste Bar lag einen Fußmarsch weit weg, die nächste Kneipe | |
ähnelte einer Nahkampfdiele. | |
Apropos schwäbisches Dorf. Als ich neulich wegen einer Wirbelfraktur nur | |
liegen oder laufen durfte, spazierte ich noch häufiger durch die Straßen | |
als zu den härtesten Corona-Lockdown-Zeiten. Gefühlt alle einhundert Meter | |
traf ich jemanden, die oder den ich kannte. Alle, wirklich alle, fragten | |
mich, ob sie für mich einkaufen könnten, etwas tragen oder mir die Schuhe | |
zubinden. Wie auf dem Dorf. Nur viel schöner. | |
19 Sep 2021 | |
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## AUTOREN | |
Simone Schmollack | |
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