# taz.de -- Identitäre Verachtung von Schwaben: Schluss mit dem Ländle-Spott | |
> Lasst doch mal die Ressentiments gegen Schwaben stecken. Bitte! Die | |
> kulturellen Fortschritte der deutschen Gesellschaft sind im Ländle am | |
> sichtbarsten. | |
Bild: „Dieser Mann scheißt uns nicht an“: Das ist das Gefühl normaler Leu… | |
Als ich den Philosophen Markus Gabriel das letzte Mal traf, hatte er gerade | |
„moralischen Fortschritt“ gefordert und nebenbei den in Stuttgart geborenen | |
Jahrtausend-Denker Georg Wilhelm Friedrich Hegel als „irgend so einen | |
schwerfälligen Schwaben“ bezeichnet. Ich stellte ihn zur Rede, und [1][er | |
entschuldigte sich und zog das zurück]. Er habe seine eigenen moralischen | |
Standards unterboten. Auch „Schwabismus“ sei verwerflich. | |
Das war eine souveräne, aber leider völlig unübliche Reaktion. | |
Interessanterweise sind es gern urbane, emanzipatorische und | |
antirassistische Linksliberale, die Menschenverachtung völlig zu Recht | |
kritisieren, Schwabenverachtung aber für eine notwendige Tugend halten. Und | |
identitäre Ressentiments über Schwaben verbreiten, also dass diese | |
kulturlose Materialisten seien, besessen davon, die Straße zu kehren, | |
[2][Maultaschen zu essen] und viel Geld zu verdienen. Wobei mit dem Begriff | |
„Schwaben“ zumindest in Berlin auch gleich Badener, Kurpfälzer, Hohenloher | |
und schlicht alle Baden-Württemberger mitdiskriminiert werden. | |
Mit dem pejorativen Diminutiv „Ländle“ wird zudem gezielt versucht, die | |
globale Bedeutung des Wirtschafts- und Kulturgiganten Baden-Württemberg zu | |
ignorieren und das Klischee der Provinzdeppen durchzusetzen. | |
Auch wegen dieses geistlosen, aber hartnäckigen Schwabismus tun Leute sich | |
schwer damit, dass die soziologischen Entwicklungen und kulturellen | |
Fortschritte der deutschen Gesellschaft ausgerechnet in Baden-Württemberg | |
am ausgeprägtesten sichtbar sind und 2011 einen | |
demokratisch-emanzipatorischen Umsturz ausgelöst haben. Nämlich die Abwahl | |
der vermeintlichen Staatspartei CDU nach 58 Jahren, und fünf Jahre später | |
den Sprung der ökoliberalen Grünen [3][zur Partei der | |
baden-württembergischen Mehrheitsgesellschaft]. | |
## Eine neue und eine alte Mitte | |
Dafür werden in der Regel drei Erklärungen gegeben: Die Schwaben seien halt | |
bescheuert. Die Schwaben seien halt reich und könnten sich das leisten. | |
Ministerpräsident Winfried Kretschmann sei ein Konservativer, weshalb diese | |
Grünen eigentlich nur eine weitere CDU seien. Selbstverständlich gibt es | |
bescheuerte Schwaben und reiche Schwaben. Diese Erklärungen sind aber auch | |
schon wieder ethisch problematisch, intellektuell nicht satisfaktionsfähig | |
und außerdem falsch. | |
Vielmehr ist es zum einen so, dass der Aufstieg der Grünen und der Abstieg | |
der SPD eine Folge des Endes der nivellierten westdeutschen | |
Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts ist. Es gibt nun eine neue | |
Mitte, eine alte Mitte und eine prekäre Dienstleistungsgesellschaft. | |
Erstere repräsentieren in Baden-Württemberg die Grünen, zweitere die CDU. | |
Der dritte Gesellschaftsteil ist in dem noch wohlhabenden Land weniger | |
ausgeprägt als anderswo, weshalb die Linkspartei gar nicht im Parlament | |
vertreten ist, die Kulturabsteiger rekrutierende AfD dagegen fett. | |
## Nicht Gegengesellschaft, sondern Zentrum | |
Die zielgruppenschwammige SPD ist längst marginalisiert. Zwar wurde sie im | |
Land nie richtig ernst genommen, aber wer die CDU nicht mochte, wählte sie | |
als Geste der Differenz. Heute wählen Leute, die keine CDU-Politik wollen, | |
die Grünen. Aber eben nicht als Geste, sondern als Regierungsauftrag. Hier | |
hat sich der Wandel längst vollzogen, den Annalena Baerbock und Robert | |
Habeck auf Bundesebene seit 2018 nachvollziehen: Diese neue Mitte, | |
akademisch und emanzipatorisch gebildet, pragmatisch und lebensnah | |
orientiert, versteht sich kulturell nicht als „Gegengesellschaft“, sondern | |
als Zentrum. Sie wollen bestimmen oder mitbestimmen. | |
Aber es wählen eben nicht nur emanzipatorische Akademiker die Grünen, | |
sondern auch Rentnerinnen mit Volksschulabschluss, selbstständige | |
Kleinunternehmer, Daimler-Angestellte. Das verdankt sich [4][zu einem | |
großen Teil dem Ministerpräsidenten], dem es – ganz unstrategisch – | |
gelungen ist, eine Politikerfigur zu entwickeln, die gleichzeitig | |
Classic-Landesvater und schratiger Antitypus ist und mit dieser | |
Ausstrahlung ein seltsam großes Vertrauen bis in erzkonservative Milieus | |
hinein ausgelöst hat. | |
## „Dieser Mann scheißt uns nicht an“ | |
Politik ist in den seltensten Fällen von Sachkompetenz geprägt und in den | |
allermeisten von Gefühlen, und das Gefühl normaler Leute gegenüber Winfried | |
Kretschmann lautet: Dieser Mann scheißt uns nicht an. Das ist für ein | |
Smartass in Berlin-Mitte vollkommen unverständlich, aber wenn er den | |
Ministerpräsidenten, sagen wir bei Markus Lanz, „ganz unmöglich“ findet, | |
dann fühlt sich der überwiegende Teil der Baden-Württemberger und auch der | |
verbliebenen CDU-Wähler von ihm angemessen repräsentiert. | |
Wie er sich generell von ihm gut repräsentiert fühlt, was eben auch heißt: | |
gesehen und gewertschätzt. Das liegt daran, dass er nicht der | |
Ministerpräsident der Grünen-Funktionäre und ihres Grundsatzprogramms ist, | |
sondern tatsächlich der Ministerpräsident von Baden-Württemberg. | |
## Viel pluralistischer als Klischees | |
Und dieses Land ist eben viel pluralistischer und multikultureller, als es | |
die Ressentiments und Klischees transportieren. Zum Beispiel werden die | |
besten Maultaschen und verlässlichsten Kehrwochen von den urbanen Enkeln | |
eingewanderter Italiener gemacht, vermutlich auch Grünen-Wähler. | |
Gleichzeitig gibt es in pietistischen Enklaven oder bestimmten ländlichen | |
Gebieten durchaus reaktionäre gesellschaftspolitische Kulturen, wie es auch | |
in der Landes-CDU reaktionäre klimapolitische Spitzenpolitiker gibt. | |
Überhaupt ist die neue ökoliberale Kulturhegemonie zwar so durchgesetzt wie | |
nirgendwo sonst in Deutschland. Aber fast alle Landräte und Bürgermeister | |
sind weiterhin CDU. Der Fortschritt in Baden-Württemberg besteht deshalb | |
nicht darin, die alte Kultur und Macht vollends ersetzt zu haben, sondern | |
eine bessere Position für das notwendige Ausbalancieren einer fairen, | |
gesellschaftlichen Koexistenz zu haben, sodass die liberale Gesellschaft | |
beim brutal schwierigen Wandel zum postfossilen Wirtschaften nicht | |
auseinanderbricht. | |
## Wo, wenn nicht in Baden-Württemberg? | |
Ich habe selber einige Jahre gebraucht, bis mir klar wurde, dass die Wahl | |
von 2011 kein Bruch mit der Geschichte sein sollte, sondern nur mit der | |
Allmacht der verkrusteten und innovationsunfähigen Landes-CDU. Die | |
Geschichte Baden-Württembergs seit 1945 ist ja eine außergewöhnliche | |
Aufstiegsgeschichte, und zwar kulturell wie wirtschaftlich. | |
Deshalb soll sie weitergehen, indem im Sinne Hegels der alten CDU-These | |
eine neue Grüne Antithese entgegengestellt wird. Nun muss man leider sagen, | |
dass es mit einer synthetischen Auflösung im politischen Regierungsalltag | |
von Grün-Schwarz noch hapert. Das Problem ist: Wenn die CDU nicht in der | |
Regierung ist, wofür einiges spricht, dann ist sie mit der AfD in der | |
Opposition. Aber „wo, wenn nicht in Baden-Württemberg“, pflegt der | |
Ministerpräsident zu predigen, könne man zeigen, dass man es anders machen | |
könne, damit es weitergehen kann? | |
Tja. Wie wir Berliner Großkotze wissen, ist der Schwabe ja besessen vom | |
„Schaffen“ – und so steht zu befürchten, dass er das tatsächlich auch n… | |
schafft. | |
13 Mar 2021 | |
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## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
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