# taz.de -- Kulinarische Initiationsriten: Im Täschle versteckt | |
> An der Zubereitung von Maultaschen scheiden sich schwäbische Geister. | |
> Unsere Autorin will's lernen – eigentlich von ihrer Mutter. | |
Bild: Gerollt, geschnitten oder wie hier aufeinandergelegt – auch darauf komm… | |
Bei schwäbischen Müttern – und meine macht da keinen Unterschied – ist die | |
Sache klar: „I geb doch net mei G’heimrezept her, des i über d’ Jahrzehnd | |
lang verfeinert han; ond scho glei’ gar net koschdelos.“ | |
Von Maultaschen ist hier die Rede. Im vergangenen Jahr – meine Schwester | |
wurde 40, ich 35 – haben wir bei der Mutter, 70, anzuklopfen begonnen, ob | |
es in einem solchen Jubiläumsjahr nicht an der Zeit sei, die Herstellung | |
der „swabian dumplings“, wie mein norwegischer Freund sie erstmals zu | |
beschreiben versuchte, zu tradieren. „So it’s more or less a Ravioli with | |
spinach and meat?“, versucht er es weiter, und die Mutter guckt ratlos ob | |
alldem. | |
Offensichtlich widerwillig gibt sie sich kooperativ. Wir müssen ihr bloß | |
die Zutaten bringen, dann könne sie uns alles zeigen, meint sie lax und | |
deutet auf ein Kochbuch, das für den kochaffinen Schwaben dem [1][Larousse | |
Gastronomique] der Region gleichkommt: Luise Haarers „Kochen und Backen | |
nach Grundrezepten“. Auf der Mitte einer der Seiten hatte sich einmal ein | |
Maultaschenrezept befunden; dies jedoch wurde von verschiedenen | |
Handschriften verändert, erweitert und kommentiert, als arbeiteten an einem | |
Cloud-Dokument zwanzig Personen zeitgleich. | |
## Fertiger Teig? | |
Große Fragen werden hier verhandelt: Wie viele Eier in die Füllung gehören, | |
ob man für den besonders elastischen Teig Spätzle- oder normales Mehl | |
benötige oder man Letzteren fertig vom Bäcker kaufen könne. So tut es | |
beispielsweise die Mutter, und zwar ohne schlechtes Gewissen beim | |
[2][Bäcker Trölsch]. Nach der Lektüre dieser Seite sind selbst | |
Unsicherheiten, die man vorher um 4 Uhr nachts nicht hatte, vereint | |
zugegen. | |
Denn schon der Einkauf scheint für Laien problematisch, erst recht für eine | |
in der Diaspora befindliche Schwäbin wie mich. Die Recherche in meiner | |
Berliner Exilbubble ergibt: Beim „Metzger“ kannte man schon den Begriff | |
„Brät“ nicht, und bei Schlemmermeyer, immerhin Quell des süddeutschen | |
Fleisch- oder Leberkäse, ist es bereits gebacken – für Maultaschen braucht | |
man es jedoch roh. | |
Ganz zufälligerweise sind die Maultaschen beim Osterbesuch 2019, dem von | |
uns anvisierten Anlass, schon fertig: Das habe sich so ergeben. Die | |
Erinnerung an den mütterlichen Widerwillen bei der initiativen Frage kommt | |
zurück. Wir verschlingen die frischen Brät-Ravioli mit Röstzwiebeln und | |
Kartoffelsalat, Ostern vergeht, und die Initiation ist verpasst. Kocht | |
unsere Mutter rein nach Intuition und kann es nicht kommunizieren, oder hat | |
sie Angst vor kostenfreier Wissensverbreitung? Schwer zu sagen. | |
Antworten suchen wir in den Folgemonaten in einem Dauergruppenchat zwischen | |
Berlin und Leonberg. In jenem wird es darum gehen, wie nun die Mutter und | |
Inge, Freundin und Köchin an der Leonberger VHS, die Maultaschen machen; | |
auch wie „Kupfi“, der Stuttgarter Koch Wolfgang Rath, seine Methode online | |
zum Besten gibt, und darum, was alles falsch gemacht werden kann. Spoiler: | |
so gut wie alles. | |
Kupfis Maultaschen-Clip schafft es gleich zu Beginn in den Chat, und auch | |
der kauft den Teig fertig. Zumindest den Ärger der falschen Dicke könne man | |
sich so sparen, findet Inge. Alle Konzentration müsse sich auf die Füllung | |
und deren Konsistenz richten: Neben Spinat sind Salz und Petersilie das A | |
und O, außerdem müsse geräucherter Bauchspeck und nicht etwa Schinkenwurst | |
verwendet werden, wie es einige tun. | |
## Ohne Luftlöcher | |
Ohne Luftlöcher gelte es die Masse dann auf dem Nudelteig zu verteilen. Wer | |
diese Mini-Ausbildung zum Statiker hinter sich hat, muss sich der Frage | |
stellen, ob nun „gerollt“ oder „belegt“ werden soll. Wer rollt, schneid… | |
zuvor Teigrechtecke, der (wissende) Rest allerdings, belegt mit der zweiten | |
Teigschicht. | |
Die Frage nach dem Format polarisiert: Während die Mutter belegt, faltet | |
Kupfi und Inge rollt, die Turnlehrerin der Mutter klappt, und der Gärtner | |
schneidet Rechtecke vor. Im schwäbischen Wirtshaus werden meist Taschen | |
serviert; das birgt, so weiß der digitale Thinktank, aber die Gefahr einer | |
unmäßigen Festigkeit der Füllung. Menschen, die so tun, als behandle man | |
Maultaschen wie Ravioli, finden Mutter, Inge und Kupfi albern; daher sei es | |
auch das Letzte, die Schichten am Rand zusammenzudrücken und mit Eigelb zu | |
bestreichen: „Beweist bloß, wie scheiße einer befüllt“, so Mutter; | |
Hausfrauenkritik ist mitunter vernichtend. | |
Ein Jahr und ein weiteres Osterfest vergehen, und im Sommer 2020 kommt | |
schließlich der Tag, an dem sich meine Beflissenheit der Lektüre ausweisen | |
soll. Schwäbisches Brät ist importiert, und der Nudelteig vom Bäcker | |
Trölsch liegt auf dem Küchentisch; die Brätmasse ruht mit Spinat, etwas | |
mehr Zwiebeln und Petersilie, als man denken sollte, und obendrein dem in | |
Milch aufgeweichten alten Weckle, Ei, Senf und Gewürzen daneben. Eine | |
Kupfi-Kommentatorin meint, man merke am „Knetsound“, wenn die Masse | |
„bereit“ sei, und sie klingt jetzt bereit. | |
Ich streiche sie also auf den Nudelteig, wenn sich die Zwiebeln dabei auch | |
störrisch verhalten mögen, man hätte sie kleiner schneiden müssen. Keine | |
Luft, haben Inge, Kupfi und Mutter gesagt! Und da ist keine Luft. Mit einem | |
Drittel meines Körpergewichts drücke ich die Masse abermals platt, | |
allerdings so, dass nichts über den Nudelteigrand hinausragen darf, weil: | |
Verschwendung – es ist noch immer ein schwäbisches Gericht. | |
Beim Auflegen der zweiten Teigschicht verstehe ich die Faltfraktion, die | |
dem Zauber nicht traut, denn wieso sollten drei materiell voneinander | |
verschiedene Entitäten zusammenhalten? Durch das Ei in der Masse. Man hat | |
wenig zu verlieren, wenn man nach einem beinah einjährigen Chat den eigenen | |
Status – nämlich am Fuße des Berges in der Maultaschen-Hierarchie – | |
begreift, und so entscheide ich mich zu vertrauen; denn gerade als | |
Erstbesteigerin sind Irrwege stümperhaft. | |
Und tatsächlich: Auf magische Weise schmiegt sich der Teig über die Masse | |
und, wie das ja auch bei Spätzle der Fall ist, steigen die fertigen Teile | |
hinauf an die Oberfläche der Rinderbrühe, fertig zum Abseihen. Frische | |
Maultaschen nicht auf die Hand zu essen ist Häresie, „g’schmelzde Zwiebla�… | |
indes, sind ausdrücklich erwünscht, Kartoffelsalat auch, in beiden Fällen | |
aber mit einer grotesken Menge Schnittlauch. Und weil kein Mensch, der sich | |
diesem Procedere einmal unterzogen hat, Maultaschen für nur eine Mahlzeit | |
zubereitet, wird der Rest eingefroren und beim nächsten Mal aus der Pfanne | |
mit Ei verspeist. | |
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Kants Ehrfurcht ob des bestirnten | |
Himmels über und des moralischen Gesetzes in ihm um Maultaschen ergänzt | |
werden sollte. Sich ihrer anzunehmen obliegt einer seltenen Mischung aus | |
Kulinarik und Religion. Im Volksmund auch „Herrgottsbscheißerle“ genannt, | |
sind diese eigentlich dem Karfreitag, an dem der Christ kein Fleisch essen | |
soll, zugedacht, denn schließlich kann Gott nicht unter jeden Nudelteig | |
gucken. | |
Die Zubereitung von Maultaschen bedeutet also nichts Geringeres, als es mit | |
Gott höchstselbst aufzunehmen. Und so zeigt sich, dass Maultaschen nicht | |
eine Technik-, sondern eine Haltungsfrage sind. | |
31 Aug 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://cuisine.larousse.fr/livre/le-grand-larousse-gastronomique-nouvelle-… | |
[2] https://www.troelsch.de/ | |
## AUTOREN | |
Juliane Reichert | |
## TAGS | |
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